| Sie waren verabredet, um 
              sich gegenseitig auf die Schulter zu beklopfen und zu 
              beglückwünschen. Fünf Regierungen von der Nord- und fünf von der 
              Südseite des Mittelmeers trafen sich am 5. und 6. Oktober dieses 
              Jahres in der maltesischen Hauptstadt La Valetta. Die 
              Doppelfünfer-Gruppe, die im Jahr 1990 anlässlich eines Treffens in 
              Rom gegründet worden war, trat in dieser Konstellation zum ersten 
              Mal seit über neun Jahren zusammen. Beteiligt waren daran Marokko, 
              Mauretanien, Algerien, Tunesien und Libyen von nordafrikanischer, 
              und Portugal, Spanien, Frankreich, Italien sowie die Inselrepublik 
              Malta von europäischer Seite. 
      
                     
                     
              
              
              Anderthalb Jahre nach Beginn der Umwälzungen in den 
              arabischsprachigen Ländern, die oft auf den etwas blumigen Begriff 
              des „Arabischen Frühlings“ gebracht werden, versicherten beide 
              Seiten sich wechselseitig der historischen Bedeutung ihres 
              Dialogs. In ihrer gemeinsamen Abschlusserklärung hoben sie „das 
              gemeinsame Kulturerbe“ sowie „die Bestrebung aller Völker der 
              Region nach einer Partnerschaft mit den Zielen der Demokratie, 
              Stabilität, der Sicherheit und des Wohlstands“ hervor. Hinter so 
              hochtrabenden und wohlklingenden Erklärungen bleiben die 
              realpolitischen Ergebnisse solcher Gipfeltreffen in der Regel 
              etwas zurück.   
      
                     
                     
              
              
              Als es 
              darum ging, auf dieser Ebene konkret zu werden, sprach der 
              tunesische Übergangspräsident Moncef Marzouki dann vor allem an 
              einem Punkt Klartext: „Eine gemeinsame Task Force“, also einer Art 
              schneller Eingreiftruppe, zum Thema „Immigration“ solle in naher 
              Zukunft gebildet werden. Und zwar, um „diese Auswanderung“, 
              gemeint war die als illegal bezeichnete, „zu verhindern“ sowie um 
              Schiffbrüchige aus dem Meer zu retten und „Tragödien zu 
              vermeiden“. In naher Zukunft soll ein Treffen der „Fünf plus Fünf“ 
              in Tunis zu diesem Thema stattfinden, um nähere „technische 
              Einzelheiten zu klären“. Marzouki fügte hinzu, aus seiner Sicht 
              dürfe es „sich nicht um eine rein Sicherheitsoperation handeln, 
              sie muss humanitärer Natur sein. Man kann nicht akzeptieren, dass 
              Hunderte von Menschen im Mittelmeer ertrinken.“ Als konkreten 
              Ansatzpunkt, um dieses Schicksal vieler harraga – so 
              genannter illegaler Migranten – zu verhindern, scheint er 
              allerdings vor allem das Unterbinden von Auswanderung zu sehen. 
              Marzouki erklärte dazu: „Unsere Jugend hat starke Bestrebungen“, 
              gemeint sind solche nach einem besseren Leben, „aber wir 
              können keine wirtschaftlichen Wunder bewirken. Ich fordere sie 
              dazu auf, Geduld zu zeigen. Es braucht Zeit, da Tunesien die 
              Erblast von über 50 Jahren Korruption trägt.“ 
      
                     
                     
              
              Tunesien ist dabei 
              immerhin das Land in der Region, aus dem vielleicht die am 
              wenigsten negativen Nachrichten auf dem Gebiet der 
              Migrationspolitik kommen. Zumindest verbal haben die tunesische 
              Übergangsregierung, die bis zu den ersten Parlamentswahlen – 
              selbige sollen auf die Wahl einer Verfassungsgebenden Versammlung 
              vor nunmehr genau einem Jahr folgen, und wurden soeben auf den 23. 
              Juni nächsten Jahres terminiert – im Amt bleiben wird, und das 
              italienische Kabinett eine Überarbeitung der bilateralen Abkommen 
              zum Thema angekündigt.  
      
                     
                     
              
              Am 13. 
              September 12 waren Vertreter beider Regierungen zusammen gekommen. 
              Genau eine Woche, nachdem über 100 tunesische harraga 
              in der Nähe der südlich des italienischen Festlands liegenden 
              Insel Lampedusa gekentert und über fünfzig von ihnen zu Tode 
              gekommen waren. Bei dem bilateralen Treffen wurde angekündigt, man 
              wolle nach den genauen Ursachen für die Auswanderung junger und 
              oft beruflich qualifizierter Tunesier forscher und die 
              beiderseitigen Abkommen zur Migrationspolitik auf den Prüfstand 
              stellen. Dazu soll eine Untersuchungskommission eingesetzt werden, 
              die ein „globales Herangehen“ statt einer rein 
              sicherheitspolitischen Abschottungslogik verfolgen soll. 
              Allerdings fügten die Regierungsvertreter auch hinzu, die 
              tunesische Seite verlange von Italien die restliche Lieferung der 
              Fregatten und Jeeps, welche im April 2011 zugesagt worden seien, 
              „um die tunesische Küstenwache zu verstärken und um illegale 
              Auswanderung zu bekämpfen“. Damals hatte die tunesische Regierung, 
              unter starkem Druck Italiens und Frankreichs, einer stärkeren 
              Kontrolle von Migrationsbewegungen, die nach dem Zusammenbruch des 
              polizeistaatlichen Ben ’Ali-Regimes im Januar desselben Jahres 
              zugenommen hatten, zugestimmt. Offizielle Zahlen, die bei der 
              bilateralen Konferenz am 13. September vorgelegt wurden, belegten 
              eine deutliche Abnahme der Einreisen aus Tunesien, die seitdem 
              verzeichnet wurden: Auf 30.000 werden sie für das vergangene Jahr 
              geschätzt, im laufenden Jahr wurden bis dahin 2.954 registriert. 
      
                     
                     
              
              Auch 
              mit Libyen, wo vor einem Jahr ein militärisch erzwungener 
              Regimewechsel stattfand, hat Italien bereits neue Abkommen zur 
              Migrationskontrolle – wie zuvor mit der früheren Diktatur unter 
              Mu’ammar Qadhafi (eingedeutscht Gaddafi( – abgeschlossen. Am 18. 
              Juni dieses Jahres publizierte die Tageszeitung La Stampa 
              ein bis dahin unveröffentlicht gebliebenes Abkommen, das Italien 
              im April 2012 mit den damaligen libyschen Übergangsbehörden – 
              welche vor den Wahlen vom 07. Juli 12 amtierten – abgeschlossen 
              hatte. Darin wird Libyen aufgefordert, verstärkte Anstrengungen 
              und Kontrollen zu unternehmen, um Migranten, es betrifft konkret 
              vor allem subsaharische Afrikaner, an der Aus- und Weiterreise 
              nach Europa zu hindern. Die italienische Sektion von Amnesty 
              International erklärte am selben Tag öffentlich ihre „starke 
              Besorgnis“. Das Abkommen nehme keinerlei Rücksicht darauf, dass 
              Libyen den Flüchtlingsstatus im Sinne der Genfer Konvention nicht 
              respektiere, und dass die Haftbedingungen für ihrer Freiheit 
              beraubte Migranten in dem Land „inhuman“ seien. 
      
                     
                     
              
              In den Blickpunkt von 
              Menschenrechtsvereinigungen und der örtlichen Zivilgesellschaft 
              rückt derzeit verstärkt die Migrationspolitik in Marokko. Von 
              staatlicher Seite her nehmen auch dort der Druck auf Migranten und 
              ihre inhumane Behandlung zu – vor allem, wenn sie nach Europa 
              weiterwandern wollen. Denn wie in ganz Nordafrika ist die 
              Europäische Union auch in Marokko dabei, mit Geld, mittels 
              Verhandlungen, wirtschaftlichen Versprechen und diplomatischem 
              Druck ihr Grenz- und Kontrollregime auszulagern und an die Regimes 
              in der Region zu delegieren. Am 02. Oktober 12 gab die 
              Internationale Organisation für Migration (OMI) bekannt, dass sie 
              620.000 Euro in Marokko ausschüttet, um ein „freiwilliges 
              Rückkehrprogramm“ für eintausend subsaharische Flüchtlinge zu 
              lancieren. Diesen soll dadurch die Rückkehr in ihre 
              Herkunftsländer finanziert werden. In Einzelfällen mag dies 
              durchaus dem Wunsch von Betroffenen entsprechen, die auf ihrer 
              langen Reise ohne Geld und Ausweispapiere in Marokko 
              hängengeblieben sind und den Traum von der Weiterreise definitiv 
              aufgegeben haben. Gleichzeitig erhöht es jedoch auch den Druck auf 
              Migranten, zu gehen. 
      
                     
                     
              
              Zwischen 150 und 200 der 
              Hauptbetroffenen, also subsaharische Migranten, kamen am ersten 
              Wochenende in Oktober ins ostmarokkanische Oujda, wo sie gemeinsam 
              mit marokkanischen Menschenrechtsaktivisten, Gewerkschafterinnen 
              sowie Vertretern von Migranten- und Solidaritätsvereinigungen aus 
              Frankreich, Belgien oder Spanien am „Sozialforum der Migranten“ 
              teilnahmen. Rund 500 Menschen, die zu einem Drittel aus Afrika 
              südlich der Sahara und gut zur Hälfte aus Marokko und Algerien 
              stammen, fanden sich zu diesem Treffen ein, das das zweite seiner 
              Art darstellte : Ein erstes Sozialforum zum Thema Migration hatte 
              im Dezember 2010 in Brüssel stattgefunden. Es bildete ferner einen 
              Teil der Vorbereitungen auf das Weltsozialforum in Tunis im März 
              kommenden Jahres;, sowohl das Treffen in Oujda als auch das 
              Weltsozialforum werden jeweils vom Sozialforum des Maghreb 
              ausgerichtet. 
              Eine in Paris lebende 
              Marokkanerin erklärte ihr „Entsetzen“, dass sie feststellen müsse, 
              dass Rassismus nicht nur eine Sache der klassischen 
              Einwanderungsländern in Europa sei, sondern ebenso in den bisher 
              eher als Auswanderungsstaaten geltenden Ländern Nordafrikas 
              existiere. Seitens der Polizeibehörden und staatlicher Stellen, 
              aber auch in Teilen der Zivilgesellschaft. Die kamerunische 
              Jugendliche D. (Name der Redaktion bekannt) hatte zuvor in Tränen 
              aufgelöst der Versammlung berichtet, wie sie von marokkanischen 
              Polizisten vergewaltigt worden war. Ihre Landsmännin Hélène 
              stellte auf dem Podium dar, wie besonders Frauen – mehr noch als 
              männliche Migranten – zu Opfern der Repressionspolitik der 
              Behörden in Marokko wie in anderen Nachbarstaaten werden. Nicht 
              nur aufgrund sexueller Gewalt, sondern weil ihnen aufgrund ihrer 
              „illegalen“ Situation der Weg zu Krankenhäusern und Gebärstationen 
              verschlossen bleibt. Weil ihren Kindern die Ausstellung von 
              Geburtsurkunden verweigert wird, und sie deswegen keinen Zugang zu 
              Schulbildung haben. Weil sie ebenso wie ihre männlichen 
              Leidensgenossen, werden sie durch die Polizei in den Wäldern rund 
              um die spanischen Enklaven in Marokko – Ceuta und Melilla – 
              aufgegriffen, in weiter vom EU-Territorium entfernte und oft 
              wüstenhafte Landesteile gekarrt und dort einfach ausgesetzt 
              werden.  
              Pierre, ein 
              westafrikanischer Einwanderer, konstatierte auf dem Podium, die 
              Perspektive habe sich in den letzten Jahren erheblich gewandelt. 
              Bis zu den dramatischen Ereignissen im Oktober 2005, bei denen 
              über zehn afrikanische Migranten am Grenzzaun von Melilla 
              erschossen wurden – bis heute schieben sich marokkanische und 
              spanische Grenzpolizei einfach gegenseitig die Verantwortung dafür 
              zu -, hätten auch die Migranten Marokko nur als Durchgangsstation 
              auf dem Weg nach Europa betrachtet. Aber in den letzten fünf 
              Jahren sähen viele von ihnen, nachdem sie bezüglich der 
              Möglichkeiten zu Einreise in die Festung Europa resigniert hätten, 
              das nordafrikanische Land dagegen jetzt auch als Aufenthaltsland 
              an. 
              
              Deswegen kämpfen viele von ihnen erstmals dort um ihre Rechte. Die
              Organisation démocratique du travail (ODT) – eine 
              jüngere marokkanische Gewerkschaft, die selbst erst 2006 entstand 
              – gründete im Juli dieses Jahres eine eigene 
              Migrantengewerkschaft. Über fünfzig ihrer, meist 
              schwarzafrikanischen, Mitglieder waren nach Oujda gereist. Serge, 
              Vorsitzender eines Vereins in Marokko lebender Kameruner, erzählte 
              der Jungle World von den realen Schwierigkeiten etwa bei der 
              Arbeitssuche: „Hier in Marokko ist das Kriterium oft die Frage: 
              Bist Du Moslem? Wenn Du Ja sagst, kannst du einen Job finden, etwa 
              auf Baustellen oder auch um Kindern Französisch zu unterrichten. 
              Aber wenn sie herausfinden, dass es nicht stimmt oder Du angibst, 
              einer anderen Religion anzuhängen, werfen sie Dich hinaus.“ 
              Leitkultur gibt es offenkundig auch auf Marokkanisch. 
              In Oujda, wo die nur fünf 
              Kilometer entfernte algerische Grenze seit 1994 für jeglichen 
              Personenverkehr geschlossen ist, fiel die Forderung nach Offenen 
              Grenzen auch bei der örtlichen Bevölkerung vielfach auf 
              fruchtbaren Boden. Eine Sitzblockade zum Abschluss der Tagung an 
              der nahen Grenze, um deren Öffnung zu fordern, wurde in der 
              marokkanischen wie in der algerischen Presse breit rezipiert. Eine 
              offene Debatte dazu kommt auch in diesen Ländern, die sowohl 
              Einreise- als auch Ausreisestaaten sind, erstmals in Gange. 
                        
                        Editorische Hinweise 
                        Der Text erhielten wir vom 
                        Autor für diese Ausgabe. |