Kommentare zum Zeitgeschehen
EU- Abschottung und die verkehrte Welt von Schengen

Ein
Kommentar von Birgit v. Criegern

11-2013

trend
onlinezeitung

Das Mittelmeer wurde der Friedhof für Flüchtlinge vor der Festung Europa seit den 90-er Jahren. Immer mehr Geflüchtete, die auf dem Seeweg nach Europa gelangen wollten, starben hier. Bei dem erneuten dramatischen Massensterben vor Lampedusa kamen 360 Menschen ums Leben, als ihr Boot in Flammen aufging. Es soll von der libyschen Küstenwache beschossen worden sein- kriegerisches Szenario gegen hilflose Asylsuchende. Und eine Woche später kamen Meldungen von der maltesischen Küstenwache, dass erneut ein Boot vor Malta kenterte. Zuerst ging die Zahl von 40 Toten durch die Presse, später hieß es, es seien vermutlich viel mehr, wer weiß: Vielleicht bis zu 200 Menschen. Niemand wüßte, wieviele sich zu Anfang auf dem Boot befunden hätten. Sprunghaft steigende Totennachrichten, Meldungen wie von der Kriegsfront: Nachrichten in einem hochmodern ausgerichteten Europa.

Dass die Regierungsschefs neulich bei den Europaratssitzungen am 24. und 25. Oktober über die Flüchtlingspolitik nur mit dem Ergebnis aufwarteten, Frontex auszuweiten und sich an das technischologische Überwachungsprogramm Eurosur und die Mobilitätspartnerschaften, zu halten, die schon seit längerem unter Dach und Fach sind – das hat wohl kaum jemanden gewundert. Schließlich gehören alle diese Instrumente, zum Abschottungsvorhaben, und dieses Vorhaben knüpfte sich an Schengen seit vielen Jahren. Schengen wurde zementiert, und Ignoranz und Flüchtlingsabwehr für die Grenzsituation wurden vorangebracht.

Schäbig-dumm erscheinen einem die Schlüsse, die führende EU-PolitikerInnen dabei vor der augenscheinlichen Schande für Europa zogen: Sowohl EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström wie auch der bundesdeutsche Innenminister Hans-Peter Friedrich wollen Menschenschleppern mit mehr Überwachung das Handwerk legen. Wie dreist wischen sie eine Verantwortung des europäischen gigantischen Projekts der Grenzabschottung weg! Es scheint, dass die Konservativen der EU schon reflexartig nach kriminellen Elementen ausspähen, und schließlich: die Überwachungstechniken der Festung, Großaufträge für die europäische Rüstung und Konjunkturantrieb, sollen ja auch angewendet werden. Hören wir bloß diese Neuigkeit vom 13. Oktober (Stuttgarter Zeitung): „Die EU-Innenminister sagten bei ihrem Treffen in der vorigen Woche zu, Italien mit europäischen Grenzschützern zur Rettung von Flüchtlingen aus Seenot zu unterstützen.“ So wird jetzt, in 2013 eingestanden, dass solche Rettungsaktionen vor Italien für Frontex noch gar nicht ausreichend vorhanden waren. Jahrelang streuten die Minister die halbherzige Behauptung, mit Frontex würden doch auch maßgeblich Leben gerettet. Und nie zwang sich die EU-Politik selbst zum Umdenken, als zahlreiche Frontex-Manöver, gefährlich für Leib und Leben der Flüchtlinge auf hoher See, bekannt wurden: Etwa in 2008, als Pro Asyl unter dem Titel „Abdrängen und Zurückweisen“ Frontex-Tätigkeiten dokumentierte: Seemanöver, bei denen die kleinen Cayucos der Geflüchteten weit zurück gedrängt wurden in die Gewässer, aus denen sie kamen. Alleine schon die hohen Bugwellen bei solchen Zurückdrängungen sind lebensgefährlich. Oder aber die Menschenrechtsverletzungen durch die griechischen Küstenwachen in 2008. Damals schien es für diese Küstenwachen üblich geworden zu sein, die Hilflosen auf offenen Steininseln auszusetzen, ihre Wasser- und Lebensmittelvorräte zu vernichten und ihre Boote zu zerstören.

Und als, wie im Krieg, immer mehr Zugangswege strategisch für die Asylsuchenden abgeriegelt wurden, wurden die genötigt, immer weitere Wege zurückzulegen. Vermehrt starteten sie in den letzten Jahren auch schon von Guinea-Bissau aus.

Zu diesen Aufrüstungen an den Seegrenzen und an den Außengrenzen in Nordafrika, Nahost und Osteuropa drängte man immer in Verbindung mit Schengen.

Kontinuierlich hatte Schengen mit der Abriegelung zu tun. Das wurde zum Beispiel vermerkt, als die NGO-Arbeitenden der Malischen Vereinigung für die Zurückgeschobenen (AME) zu einem Vortrag im Dezember 2012 nach Berlin kamen. Alassane Dicko referierte hierbei: „Die Folgen von Schengen konnten die EinwohnerInnen Afrikas direkt mitverfolgen: Europa öffnete seine Binnengrenzen und drängte gleichzeitig darauf, dass Nordafrika die eigenen Binnengrenzen überwacht. Die europäische Reisefreiheit nahm zu, und unsere Reisefreiheit wurde uns genommen.“

Letztlich zeigt sich Schengen inhaltlich auch als Konstruktion eines selbstbespiegelnden Europa, das sich über Wirstolz und Profitkurven definiert, so wie es die Konservativen der Festung voranbrachten.

2007: Im Oktober wurde gemeldet, dass 17 Flüchtlinge vor der griechischen Insel Samos mit ihrem Boot kenterten und vermutlich starben. Zugleich traf der EU-Justizkommissar Franco Frattini in der Slowakei Regierungsmitglieder: Beim Zutritt des Landes zur EU galt es als wichtig, dass das Land seine Hausaufgaben machte und die optimale technische Ausrüstung an der Grenze zur Ukraine vorwies. In jener Zeit trafen auch die Innenminister der Staaten in Brüssel zusammen und berieten sich über das, was nun EUROSUR wurde: Die elektronische Überwachung aller Bewegungsabläufe an den Außengrenzen war geplant, „um illegale Einwanderer und Terroristen abzuwehren“. Innenminister Schäuble war es beispielsweise, der oft diese sprachliche Verbindung von Flüchtlingen und Terroristen fertigbrachte. So muss man wohl sagen: Ein Feindbild reiste immer mit, wenn sich die Politik an einem Konferenzort für eine der Schengen-Reformen traf. Erinnern wir uns an eine weitere Meldung von 2007: 44 Flüchtlinge wurden vor Lampedusa von sieben tunesischen Fischern aus Seenot gerettet. Nun standen die Fischer wegen Beihilfe zur Einreise vor dem Gericht in Agrigent. Jahre später sollten sie freigesprochen werden- nach einem zermürbenden Prozeß. Solche Prozesse der Schande gegen solidarische Lebensretter sind möglich gewesen in einer EU der Flüchtlingsabwehr, wo sonst?

Man denkt auch an den Mai 2011, als vermehrt Flüchtlinge infolge der Revolten aus den nordafrikanischen Ländern über das Mittelmeer reisten. Indessen waren EU-Parlament und EU-Kommission bestrebt, im Juni 2011 die Frontex-Mandate und Ausstattung zu erweitern. Eine europäische Antwort auf den arabischen Frühling.

Während Brüssel nur halbherzig die Seenot-Gefahr in dieser Zeit thematisierte, löste die italienische Regierung hitzige EU-Debatten aus, als sie Reisevisa für einige hundert Personen in Lampedusa ausstellte. In jener Zeit befand eine Cecilia Malmström vor den Presse-Kameras: Eine verbesserte Asylpolitik müsse her, und die beinhalte „mehr Frontex und mehr Schutz der Schengen-Grenzen gegen illegale Einwanderung.“ Sie gebrauchte auch das Wort „Solidarität“ im Zusammenhang mit Schengen-Kontrollen. In jenen Tagen verstand es sich für die EU-Minister, dass unter Solidarität eine gemeinsame Kontrolle gegen die Einwanderer zu verstehen sei, nicht etwa das Tätigwerden für die Einwanderer auf hoher See.

Erinnern wir uns an das Frühjahr 2012, als Hans-Peter Friedrich sieben weitere EU-VertreterInnen in Luxemburg traf, um über mehr Kontrollen gegen „illegale Einwanderer“ zu beraten. Friedrich brachte einen weiteren Vorstoß zur hermetischen Abriegelung der griechisch-türkischen Grenze.

Wiederkehrend verwendet die rechtspopulistische Politik für ganz normal den Begriff „Illegale“, während doch das Ersuchen von Asyl ein Menschenrecht sein sollte - im Gegenzug müßte doch gerade das Zurückdrängen von Asylsuchenden als illegal und völkerrechtswidrig gelten.

In der europäischen Konstruktion Schengen wird auf den Kopf gestellt, was auf den Füßen stehen sollte: Dies Europa „benötige Solidarität“ - nicht die von Krieg und Hungersnöten heimgesuchten afrikanischen Länder. Dieses Schengen müsse „sich schützen“, nicht Flüchtlinge müßten geschützt werden. Und dito die seit einiger Zeit von Friedrich geschürte wehleidige „Angst“ vor einem „Ansturm“ der MigrantInnen, die er als „Wirtschaftsflüchtlinge“ abwertet: Geflüchtete, die aus Kriegen und Hungersnöten gekommen sind. Werte auf den Kopf stellen, das kann man in der EU gut, nur um dem Gedanken der Mitmenschlichkeit und der ermöglichten legalen Einreisewege auszuweichen.

Editorische Hinweise

Wir erhielten den Artikel von der Autorin für diese Ausgabe.