1. Die
ordnungspolitische Grundentscheidung Der
systembedingte Widerspruch zwischen Teil- und Gesamtinteressen
und die daraus hervorgehenden ökonomischen Fehlentwicklungen
waren (wie unter C. IV
dargelegt wurde) der Hauptanlaß,
das Wirtschaftssystem des administrativen Sozialismus kritisch
zu analysieren und seine Funktionsfähigkeit in Frage zu stellen.
Dabei kam man in einigen Ländern zu dem Ergebnis, daß man bei
den erforderlichen Systemveränderungen nicht - wie in den
fünfziger Jahren — »auf halbem Wege« stehenbleiben dürfe.(1)
Reformmaßnahmen könnten allenfalls die Mängel und inneren
Widersprüche des Systems verringern, aber keinesfalls die
Grundursachen beseitigen:
»Diese können nur durch eine prinzipielle Änderung des
gesamten Modells der planmäßigen Lenkung der Volkswirtschaft
sowie auch der Art und Weise der praktischen Durchsetzung der
Pläne überwunden werden. Wir meinen damit den Übergang zu einem
Lenkungsmodell und zu einer Art des Wirtschaftsablaufes, die
sich auf eine breite Ausnutzung der Marktbeziehungen und der aus
ihnen für die Wirtschaftsentwicklung folgenden
Proportionalitäts- und Ratio-nalitätskriterien stützen.«(2)
»Die notwendigen Änderungen im ganzen System unserer
planmäßigen Leitung sind so grundlegender Natur, daß wir — um
sie ganz und mit all ihren komplexen Beziehungen zu verstehen —
eine völlige Umwandlung unserer bisherigen ökonomischen
Denkungsart benötigen. Die Änderungen durchzuführen, bedeutet,
gegen tief verwurzelte ideologische Vorurteile anzukämpfen.«(3)
Was man wollte, war »eine neue, sozialistische Synthese von
Plan und Markt, bei der die Bedingungen und Anregungen für die
optimale Entfaltung der Produktion in den Unternehmen und für
die tatsächliche Durchsetzung der gesellschaftlichen Interessen
geschaffen werden«.(4) Das System zentraler Planung der
Wirtschaftsprozesse sollte also in ein System dezentraler
Planung der Prozesse transformiert werden.(5)
Damit entschied man sich für ein im Grundsatz
marktwirtschaftliches System, das - unter den
ordnungspolitischen Bedingungen des Sozialismus — als
»sozialistische Marktwirtschaft« bezeichnet wird.(6) Die
Experimente mit diesem System begannen in Jugoslawien 1952, in
der Tschechoslowakei 1967 (wo sie bekanntlich 1969 wieder
abgebrochen wurden) und in Ungarn 1968; Ansätze hierzu waren in
der DDR 1969/70 vorhanden.(7)
Diese grundlegende Änderung des administrativen
Wirtschaftssystems Stalinscher Prägung bedurfte jedoch einer
sorgfältigen ideologischen Begründung. Es galt, neue Wege
einzuschlagen, die gleichwohl nicht von der Generallinie des
Marxismus-Leninismus abwichen. Das heißt: das Ordnungsbild des
Sozialismus mußte korrigiert oder neu interpretiert werden, wenn
das Experiment der Transformation des Wirtschaftssystems nicht
von vornherein scheitern sollte. In diesem Zusammenhang wurden
neue Vorstellungen darüber entwickelt, was der »wahre«
Sozialismus sei, d. h. welches der »richtige« Weg zum
Kommunismus sei.
2. Der »richtige« Weg zum Kommunismus
1. Jugoslawien löste sich als erstes Land von den
dogmatischen Vorstellungen des administrativen Sozialismus
Stalinscher Prägung. Die Ursache hierfür lag vor allem in
politischen Differenzen zwischen Tito und Stalin, die auf der
Komintern-Tagung 1948 offen zum Ausbruch kamen. Titos Absicht,
zusammen mit Albanien und Bulgarien eine Bal-kan-Föderation zu
errichten, stieß auf heftigen Widerstand; Albanien und Bulgarien
mußten sich von Jugoslawien distanzieren, und Tito wurde in die
wirtschaftliche Isolation gedrängt. Hinzu kam, daß das nach
sowjetischem Vorbild eingeführte zentral-administrative
Wirtschaftssystem nur sehr schlecht funktionierte und die
wirtschaftlichen Schwierigkeiten zunahmen. So setzte bereits
1949 die Diskussion über die Einführung eines Systems
dezentraler Planung der Wirtschaftsprozesse ein. Hierbei vertrat
man die von Moskau abweichende ideologisehe
Auffassung, daß der Weg zur kommunistischen Gesellschaft - nach
Marx - vom Absterben des Staates begleitet sein müsse, und
entwik-kelte die Idee einer in freien Assoziationen sich selbst
verwaltenden Gesellschaft.(8)
Diese Idee hat die Kommunistische Partei Jugoslawiens seither
zum Leitprinzip ihrer gesamten Staats- und Wirtschaftspolitik
gemacht, ohne freilich den Anspruch auf die »führende Rolle der
Partei« aufzugeben. Auf staatspolitischem Gebiet hat das Prinzip
der Selbstverwaltung zu einer weitgehenden Föderalisierung
geführt; sowohl die Republiken wie auch die Gemeinden sind in
hohem Maße autonom. Die gesellschaftlichen Gliederungen haben
zwar politische Führungs- und Kontrollfunktionen im Sinne von
parteiabhängigen »Massenorganisationen«, aber sie haben zugleich
die Aufgabe, die Idee der Selbstverwaltung verwirklichen und die
dabei entstehenden Probleme lösen zu helfen. Dies gilt vor allem
für die Gewerkschaften, die die Selbstverwaltung in Gemeinden
und Betrieben unterstützen sollen.(9) — Auf
wirtschaftspolitischem Gebiet hat die Idee einer in freien
Assoziationen sich selbst verwaltenden Gesellschaft 1950 zur
Einführung der Arbeiterselbstverwaltung geführt, die nicht nur
in allen Produktionsbetrieben, sondern teilweise auch im
nichtproduktiven Bereich, z. B. in Versicherungen und
Krankenhäusern, verwirklicht wurde. Nach dieser Reform wurde
1952 der Prozeß der Transformation des Planungssystems
eingeleitet, der durch eine Vielzahl wirtschaftspolitischer
Experimente gekennzeichnet war.
2. In der CSSR waren dagegen nicht primär politische oder
ideologische Gründe maßgebend für die Entwicklung neuer
Vorstellungen vom Sozialismus; den Ausgangspunkt bildeten
vielmehr die ökonomischen Schwierigkeiten, die es zu überwinden
galt. Die Diskussion über die Funktionsfähigkeit des
zentral-administrativen Wirtschaftssystems hatte bereits - wie
auch in anderen sozialistischen Ländern - Ende der fünfziger
Jahre eingesetzt.(10) Aber erst durch die zunehmenden
Krisenerscheinungen und den absoluten Rückgang des
Sozialprodukts im Jahre 1963 wurde es den Reformern politisch
ermöglicht, ein Gesamtkonzept zur Änderung des
Wirtschaftssystems auszuarbeiten und der Parteiführung
vorzulegen. Der »Beschluß des Zentralkomitees der KPC über die
Hauptrichtungen der Vervollkommnung der planmäßigen Lenkung der
Volkswirtschaft« vom Januar 1965 bildete die politische
Grundlage für alle weiteren rechtlichen und wirtschaftlichen
Maßnahmen, mit denen die Transformation des Wirtschaftssystems
eingeleitet wurde.(11)
Das Programm des Jahres 1965 lautete »ökonomische
Experimente«. In ausgewählten Produktions- und
Wirtschaftseinheiten wurde die Anwendbarkeit der allgemeinen
Grundsätze des neuen Systems im Hinblick auf spezielle Fragen
einzelner Fachbereiche und Unternehmen geprüft. Diese
Experimente sollten »die beste Schule des neuen Systems« sein,
durch die »das Fehlerrisiko eines unrichtigen Vorgehens, das
sich aus dem unvollkommenen Begreifen der neuen Lenkungsmethoden
ergeben könnte«, herabgesetzt und etwaige Lücken vor der
allgemeinen Einführung des neuen Systems erkannt und geschlossen
werden sollten.(12) Im April 1966 beschieß das Zentralkomitee
ein »Programm der beschleunigten Realisierung des neuen
Leitungssystems« (13), das im Juni 1966 vom
XIII. Parteitag der KPC als Bestandteil der
Hauptrichtungen der Wirtschaftspolitik für die nächste Periode
gebilligt wurde.(14) Auf diesem Parteitag scheinen die
politischen und ideologischen Machtkämpfe zugunsten der Reformen
entschieden worden zu sein, denn der damalige Erste Sekretär des
ZK, Novotny, der keineswegs als Befürworter dieser
Reformbewegung galt, sprach auf dem Parteitag von dem Beginn
bedeutsamer Wandlungen:
»Wir führen sie nicht nur in den Methoden der Leitung
durch, sondern auch in der ökonomischen Denkweise und
insbesondere in den Methoden und im Inhalt der
Wirtschaftspolitik des sozialistischen Staates. Diese
Änderungen gehen über den Bereich der Ökonomie hinaus. Sie
sind Bestandteil des Bestrebens der Partei, die Leitung der
ganzen Gesellschaft wissenschaftlich zu gestalten. Sie werden
zu einer weiteren Vertiefung der sozialistischen Demokratie
und zu einer besseren Nutzung der sozialistischen
Produktivkräfte durch die Eingliederung der Volkswirtschaft in
die beginnende wissenschaftlich-technische Revolution
führen.«(15)
Die grundlegenden Rechtsvorschriften des neuen Systems
bestanden in einem Regierungsbeschluß über die
»Rahmenbedingungen für die Wirtschaftsführung der Unternehmen«
(Juli 1966), im »Gesetz über den vierten Fünf jahrplan der
Entwicklung der Volkswirtschaft der CSSR« (Oktober 1966) sowie
in der Regierungsverordnung Nr. 100 vom Dezember 1966 Ȇber die
planmäßige Leitung der Volkswirtschaft«, die ab 1.Januar 1967 in
Kraft traten.(16) Mit dieser rechtlichen Grundlegung, die als
Entwurf des Bauplans der neuen Ordnung zu deuten ist,
war die Transformation des administrativen Wirtschaftssystems
vollzogen. Allerdings war man sich bewußt, daß es sich bei der
Konzeption des neuen Wirtschaftssystems um einen
»programmatischen Entwurf« handelte, der sich »mehr auf
theoretische Analysen denn auf praktische Erfahrungen« stützte.
»Es ist daher verständlich, daß es aufgrund praktischer
Erfahrungen und Erkenntnisse notwendig werden könnte, eine
Reihe der heute herrschenden Vorstellungen und in Erwägung
gezogenen Möglichkeiten zu ändern. Keiner der
tschechoslowakischen Ökonomen hält deshalb die bisher
angenommenen Vorschläge für fertige, ein für allemal gültige
Lösungen.«(17)
Auch das Zentralkomitee hatte in seinem Beschluß bereits
darauf hingewiesen, »daß die Grundprinzipien des neuen Systems
der Leitung der Volkswirtschaft als Ziellösung zu betrachten
sind, die sukzessive und in Einklang mit den politischen und
ökonomischen Voraussetzungen und aufgrund der gewonnenen
Erfahrungen verwirklicht werden muß«.(18) Immer wieder wurde
betont, daß es sich um einen langwierigen Prozeß handeln werde:
».. . die Vervollkommnung der planmäßigen Lenkung wird ein
langfristiger Prozeß sein, in dem einerseits nach und nach
weitere Voraussetzungen für die volle Wirksamkeit des
Lenkungssystems verbessert und geschaffen werden, andererseits
wird die Wirksamkeit der einzelnen Glieder dieses Systems
ununterbrochen geprüft, bewertet und vertieft werden. So
werden also die ersten Jahre der Einführung des neuen
Lenkungssystems in gewissem Maße einen experimentellen
Charakter haben - experimentell in dem Sinn, daß nach den
gewonnenen Erfahrungen die Formen der Lenkung laufend
vervollkommnet werden.«(19)
Die zahlreichen Schwierigkeiten, die sich bei der Einführung
des neuen Leitungssystems in der Praxis herausstellten (20),
ermutigten die Dogma-tiker innerhalb der Parteiführung, bereits
im Herbst 1967 von »Krise« und notwendiger »Rezentralisierung«
zu sprechen. Die Reformer behaupteten sich jedoch, Novotny wurde
im Januar 1968 durch Dubcek abgelöst, und es begann der »Prager
Frühling«: Die Demokratisierung des ökonomischen Systems wurde
mit dem im April 1968 veröffentlichten »Aktionsprogramm der KPC«
zu einer Demokratisierung des gesamten politischen und
gesellschaftlichen Systems ausgeweitet.(21)
Im Juni 1968 erschien ein »Konzeptionsentwurf der weiteren
Entwicklung des ökonomischen Lenkungssystems«, den vier
Mitarbeiter des ökonomischen Instituts der Akademie der
Wissenschaften in Prag (Leiter: Ota Sik) erarbeitet hatten.(22)
Dieses sogenannte 77-Punkte-Programm enthielt eine kritische
Analyse der bei der Durchsetzung des neuen Systems entstandenen
Probleme, Vorschläge zu ihrer Lösung und ein Gesamtkonzept der
künftigen Wirtschaftspolitik, das als erste wissenschaftliche
Fundierung einer Wirtschaftspolitik in sozialistischen
Marktwirtschaften gelten kann. Man rechnete damit, dieses
Konzept bis etwa 1970 voll verwirklichen zu können und bis dahin
»auch die komplizierte Dialektik der Beziehung zwischen den
individuellen, Gruppen- und gesamtgesellschaftlichen Interessen,
sowie auch der materiellen und moralischen Anreize zu
bewältigen«.(23)
Die zündende Idee, die von der Umformung des
Wirtschaftssystems ausging und schließlich das gesamte
politische und gesellschaftliche Leben ergriff, war die Idee
eines freiheitlichen, »menschlichen« Sozialismus. Hieraus
entwickelte sich der Kampf gegen die in der Novotny-Ära
entstandenen »Deformationen des politischen Systems«, der
zugleich ein Kampf für den »wahren« Sozialismus, seine
»humanistische Sendung und sein menschliches Antlitz« war.(24)
Das Macht- und Meinungsmonopol der Partei, die Verletzung der
Rechte und Freiheiten der Bürger, staatliche Willkür, die
Lähmung der schöpferischen Initiative der Menschen und die
dogmatische Erstarrung des Denkens sollten einem »neuen System
der politischen Leitung der Gesellschaft« weichen, einer
demokratischen Ordnung von Wirtschaft, Staat und Gesellschaft,
in der »ein breiter Spielraum der gesellschaftlichen Initiative,
offener Meinungsaustausch und Demokratisierung des gesamten
gesellschaftlichen und politischen Systems buchstäblich zur
Voraussetzung einer dynamischen sozialistischen Gesellschaft
wird«.(25) Wie das ZK der KPC in seinem Aktionsprogramm vom
April 1968 feststellte, sollte es sich hierbei um ein den
tschechoslowakischen Bedingungen entsprechendes Modell der
sozialistischen Gesellschaft handeln:
»Wir wollen an den Aufbau eines neuen, zutiefst
demokratischen und den tschechoslowakischen Bedingungen
entsprechenden Modells der sozialistischen Gesellschaft
herangehen. Eigene Erfahrungen und marxistische
wissenschaftliche Erkenntnisse führen uns jedoch einmütig zu
dem Schluß, daß diese Ziele nicht auf alten Wegen und unter
Anwendung von Mitteln erreicht werden können, die sich längst
überlebt haben, durch grobe Methoden, die uns ständig
zurückwerfen. Mit voller Verantwortung erklären wir, daß
unsere Gesellschaft in einen schwierigen Zeitabschnitt
eingetreten ist, in dem wir uns nicht mehr auf das
traditionelle Schema verlassen können. Wir können das Leben
nicht mehr in Schablonen pressen, wenn sie noch so gut
gemeint sind. Nun fällt auch uns die Aufgabe zu, uns den Weg
unter unbekannten Bedingungen zu bahnen, z«
experimentieren, der sozialistischen Entwicklung einen neuen
Charakter zu geben, wobei wir uns auf schöpferisches
marxistisches Denken und die Erkenntnisse der internationalen
Arbeiterbewegung stützen . . .«(26)
Zweifellos beabsichtigte die Parteiführung, ihr Versprechen
einzulösen, die Erneuerung der sozialistischen Demokratie
»zugunsten des Sozialismus und Kommunismus zu nützen«(27).
Allerdings hatte sie ihre politische Eigenständigkeit
überschätzt; sie hatte zwar das Vertrauen des Volkes, nicht aber
das Moskaus.
Was folgte, ist bekannt: Die Erneuerung der sozialistischen
Demokratie wurde gewaltsam unterdrückt. Nach dem Einmarsch der
sowjetischen Truppen am 21. August 1968 glaubte man zunächst
zwar noch, die Demokratisierung wenigstens im ökonomischen
Bereich vorantreiben zu können, insbesondere durch eine neue
Betriebsverfassung und durch eine Reorganisation der Banken.(28)
Statt dessen wurde jedoch die erst in Ansätzen realisierte
sozialistische Marktwirtschaft wieder in ein System zentraler
Planung, Leitung und Kontrolle retransformiert.
3. In Ungarn vollzog sich der Übergang zum »Neuen
ökonomischen Mechanismus« relativ »geräuschlos«. Neidvoll
stellten tschechoslowakische Nationalökonomen 1969 fest, daß die
in Ungarn gewählte Praxis »kleiner Schritte« mittels sukzessiver
Maßnahmen, »aber ohne Fanfaren der Theoretiker«, erfolgreicher
sei.29 Obwohl »Ungarns stille Wirtschaftsreform« nach Vajna
»eine eindeutigere Abkehr von der traditionellen sozialistischen
Wirtschaftsideologie darstellt als jene der CSSR«, wurde sie
ohne Proklamierung eines neuen Sozialismusbildes vorbereitet und
durchgeführt.
»Anders als in der CSSR, erfolgte die Vorbereitung der
Wirtschaftsreform im Rahmen einer ideologischen und
politischen Stabilität, vor allem aber ohne Störungen der
ungarisch-sowjetischen Beziehungen.«(30)
So wurden die Grenzen der Reform rechtzeitig abgesteckt: das
»unteilbare und einheitliche sozialistische Staatseigentum« an
den Produktionsmitteln galt als unantastbares Dogma, das auch in
den Regelungen über die neue Rechtsstellung der staatlichen
Unternehmen nicht berührt wurde.(31) Zugleich betonte man
stärker denn je die »führende Rolle der Partei«, was nicht
zuletzt an die Adresse der verbündeten Ostblockstaaten gerichtet
war, die dieses Dogma des Marxismus-Leninismus in der CSSR
gefährdet geglaubt hatten. Die Reformer konzentrierten sich
vielmehr »auf die Bekämpfung der These, wonach das
Kollektiveigentum automatisch mit der zentralen Lenkung aller
volkswirtschaftlichen Produktions- und Umsatzprozesse verbunden
sein muß«.(32) Dabei wurde ein »umfangreiches Sündenregister des
Dogmatismus«(33) aufgezählt: die Verabsolutierung der
vorrangigen Entwicklung der Schwerindustrie; die weder
historisch noch theoretisch bedingte Antithese von Planung und
Markt oder von freiem und gesteuertem Markt (Abweichungen oder
Gegensätze könne es allenfalls »im Grad, in der Wirkungsweise
und in den Zielfunktionen der Steuerung« geben); ferner die
Auffassung, daß allein die vom Staat »als gesellschaftlich
etikettierten Interessen« legitim und deshalb alle
Entscheidungen in den Händen des Staates konzentriert seien, und
vor allem auch, daß Wettbewerb und Unternehmerqualitäten als
geistige Produkte des Kapitalismus abzulehnen seien.
Die Diskussion über eine Änderung des Wirtschaftssystems
setzte hier, wie in der CSSR, 1964 ein, wobei man jedoch -
angesichts der Erfahrungen von 1956 - sehr behutsam vorging.
Nachdem die industrielle Wachstumsrate von 11,3 % im Jahre 1960
auf 7 °/o im Jahre 1963 gesunken war,(34) wurde zunächst eine
»offenherzige Parteidiskussion« zugelassen. Hiernach beschieß
das Zentralkomitee der USAP (Ungarischen Sozialistischen
Arbeiterpartei) im Mai 1966 »die Reform des
Wirtschaftsmechanismus« (35), die von 11
Sachverständigenausschüssen mit 130 Experten vorbereitet werden
sollte. Um diese Arbeiten nicht zu gefährden, verordnete
Parteichef Kadar einen zeitweiligen Diskussionsstopp, bis
schließlich am l. Januar 1968 der neue Wirtschaftsmechanismus in
Kraft trat und damit die Transformation zur sozialistischen
Marktwirtschaft vollzogen wurde. Daß das neue Wirtschaftssystem
auch nach der Besetzung der CSSR unangefochten verwirklicht
werden konnte, spricht für die politische Umsicht der
Parteiführung, wobei sich außerdem als günstig erwiesen haben
dürfte, daß die »ökonomische Evolution Ungarns« in der
westlichen Öffentlichkeit nur geringe Beachtung fand.(36)
Anmerkungen
1) Vgl. Sik, Probleme S. 28 f.
2) Kozusnik, Entwicklung S. 30. (eig. Hervorhebung - H. H.)
3) Sik, Probleme S. 28 (eig. Hervorhebung - H. H.)
4) Sik, System S. 27
5) Zum Begriff der Transformation von Wirtschaftssystemen
vgl. Blaich/Bog/Gutmann/ Hensel: Wirtschaftssysteme S. 139, 243
f.
6) Vgl. u. a. Hensel u. Mitarb., Marktwirtschaft. - Der Begriff
des »Konkurrenzsozialismus« bezieht sich dagegen auf das in den
dreißiger Jahren entwickelte Modell einer sozialistischen
Wirtschaft, in dem zentrale Planung mit Konkurrenz auf den
Märkten kombiniert werden sollte, und zwar vermittels eines
Preissystems, das aus Angebot und Nachfrage ermittelt und
demgemäß zentral ständig neu, im Hinblick auf eine
gleichgewichtige Preisstruktur, errechnet werden sollte. Die
Hauptvertreter dieses — wissenschaftlich umstrittenen - Modells
waren O. Lange, A. Lerner und F. Taylor. Über die Diskussion
dieses Modells vgl. Brus, Funktionsprobleme S. 50 ff
7) Vgl. Hensel, oben S. 149 ff.
8) Vgl. Klemencic, Rezeption 158, 256 f.
9) Vgl. Hensel, Funktionen S. 13 ff. 10 Vel. 1. Teil. C.
IV.
10) Vgl. 1. Teil, C. IV.
11) Vgl. Hensel u. Mitarb., Marktwirtschaft S. 15 ff.,
172 ff.
12) Vgl. Bores, Programm S. 2
13) Vgl. Hensel u. Mitarb., Marktwirtschaft S. 204 f.
14) Dokumente XIII. Parteitag KPC, S. 117
ff., 132 ff.
15) Novotny, Bericht S. 49 f. (eig. Hervorhebung - H. H.)
16) In: Hensel u. Mitarb., Marktwirtschaft S. 204 ff., 198 ff.,
222 ff.
17) Kozusnik, Entwicklung S. 38
18) In: Hensel u. Mitarb., Marktwirtschaft S. 188
19) Bores, Programm S. 6 f. (eig. Hervorhebung - H. H.)
20) Vgl. Hensel u. Mitarb., Marktwirtschaft S. 22.
21) In: Hensel u. Mitarb., Marktwirtschaft S. 286 ff.
22) In: Mensel u. Mitarb., Marktwirtschaft S. 337 ff.
23) Ebenda, S. 346
24) Aktionsprogramm der KPC, in: Hensel u. Mitarb.,
Marktwirtschaft S. 291
25) Ebenda, S. 300 f., 289
26) Ebenda, S. 335 f. (eig. Hervorhebung - H. H.)
27) Aktionsprogramm der KPC, in: Hensel u. Mitarb.,
Marktwirtschaft S. 336
28) Vgl. Hamel, Marktwirtschaft S. 328 ff.
29) Vgl. ebenda, S. 343
30) Vajna, Wirtschaftsreform S. 85
31) Vajna, Reform S. 41 ff.
32) Vajna, Wirtsdiaftsreform S. 85
33) Vajda, Planung S. 108; vgl. Hamel, Ungarn S. 191 f.
34) Vgl. v. Wrangel, Ostblock, S. 171
35) Vgl. Hamel, Ungarn S. 192 f.; Hensel, Wirtschaftsordnungen
S. 73 ff.
36) Vgl. Vajna, Wirtschaftsreform S. 85
Editorisch Hinweise
Der Text wurde entnommen aus: Ludwig Bress,
Karl Paul Hensel u. a.,Wirtschaftssysteme des Sozialismus im
Experiment : Plan oder Markt. - Frankfurt am Main, 1972,
S.170-202, davon S.170-177
OCR-scan red. trend
....wird fortgesetzt
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