Die Experimente der sozialistischen Marktwirtschaften
I. Die Begründungen der Transformation

von H. Hamel

11-2013

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1. Die ordnungspolitische Grundentscheidung

Der systembedingte Widerspruch zwischen Teil- und Gesamtinteressen und die daraus hervorgehenden ökonomischen Fehlentwicklungen waren (wie unter C. IV dargelegt wurde) der Hauptanlaß, das Wirtschaftssystem des administrativen Sozialismus kritisch zu analysieren und seine Funktionsfähigkeit in Frage zu stellen. Dabei kam man in einigen Ländern zu dem Ergebnis, daß man bei den erforderlichen Systemveränderungen nicht - wie in den fünfziger Jahren — »auf halbem Wege« stehenbleiben dürfe.(1) Reformmaßnahmen könnten allenfalls die Mängel und inneren Widersprüche des Systems verringern, aber keinesfalls die Grundursachen beseitigen:

»Diese können nur durch eine prinzipielle Änderung des gesamten Modells der planmäßigen Lenkung der Volkswirtschaft sowie auch der Art und Weise der praktischen Durchsetzung der Pläne überwunden werden. Wir meinen damit den Übergang zu einem Lenkungsmodell und zu einer Art des Wirtschaftsablaufes, die sich auf eine breite Ausnutzung der Marktbeziehungen und der aus ihnen für die Wirtschaftsentwicklung folgenden Proportionalitäts- und Ratio-nalitätskriterien stützen.«(2)

»Die notwendigen Änderungen im ganzen System unserer planmäßigen Leitung sind so grundlegender Natur, daß wir — um sie ganz und mit all ihren komplexen Beziehungen zu verstehen — eine völlige Umwandlung unserer bisherigen ökonomischen Denkungsart benötigen. Die Änderungen durchzuführen, bedeutet, gegen tief verwurzelte ideologische Vorurteile anzukämpfen.«(3)

Was man wollte, war »eine neue, sozialistische Synthese von Plan und Markt, bei der die Bedingungen und Anregungen für die optimale Entfaltung der Produktion in den Unternehmen und für die tatsächliche Durchsetzung der gesellschaftlichen Interessen geschaffen werden«.(4) Das System zentraler Planung der Wirtschaftsprozesse sollte also in ein System dezentraler Planung der Prozesse transformiert werden.(5)

Damit entschied man sich für ein im Grundsatz marktwirtschaftliches System, das - unter den ordnungspolitischen Bedingungen des Sozialismus — als »sozialistische Marktwirtschaft« bezeichnet wird.(6) Die Experimente mit diesem System begannen in Jugoslawien 1952, in der Tschechoslowakei 1967 (wo sie bekanntlich 1969 wieder abgebrochen wurden) und in Ungarn 1968; Ansätze hierzu waren in der DDR 1969/70 vorhanden.(7)

Diese grundlegende Änderung des administrativen Wirtschaftssystems Stalinscher Prägung bedurfte jedoch einer sorgfältigen ideologischen Begründung. Es galt, neue Wege einzuschlagen, die gleichwohl nicht von der Generallinie des Marxismus-Leninismus abwichen. Das heißt: das Ordnungsbild des Sozialismus mußte korrigiert oder neu interpretiert werden, wenn das Experiment der Transformation des Wirtschaftssystems nicht von vornherein scheitern sollte. In diesem Zusammenhang wurden neue Vorstellungen darüber entwickelt, was der »wahre« Sozialismus sei, d. h. welches der »richtige« Weg zum Kommunismus sei.

2. Der »richtige« Weg zum Kommunismus

1. Jugoslawien löste sich als erstes Land von den dogmatischen Vorstellungen des administrativen Sozialismus Stalinscher Prägung. Die Ursache hierfür lag vor allem in politischen Differenzen zwischen Tito und Stalin, die auf der Komintern-Tagung 1948 offen zum Ausbruch kamen. Titos Absicht, zusammen mit Albanien und Bulgarien eine Bal-kan-Föderation zu errichten, stieß auf heftigen Widerstand; Albanien und Bulgarien mußten sich von Jugoslawien distanzieren, und Tito wurde in die wirtschaftliche Isolation gedrängt. Hinzu kam, daß das nach sowjetischem Vorbild eingeführte zentral-administrative Wirtschaftssystem nur sehr schlecht funktionierte und die wirtschaftlichen Schwierigkeiten zunahmen. So setzte bereits 1949 die Diskussion über die Einführung eines Systems dezentraler Planung der Wirtschaftsprozesse ein. Hierbei vertrat man die von Moskau abweichende ideologisehe Auffassung, daß der Weg zur kommunistischen Gesellschaft - nach Marx - vom Absterben des Staates begleitet sein müsse, und entwik-kelte die Idee einer in freien Assoziationen sich selbst verwaltenden Gesellschaft.(8)

Diese Idee hat die Kommunistische Partei Jugoslawiens seither zum Leitprinzip ihrer gesamten Staats- und Wirtschaftspolitik gemacht, ohne freilich den Anspruch auf die »führende Rolle der Partei« aufzugeben. Auf staatspolitischem Gebiet hat das Prinzip der Selbstverwaltung zu einer weitgehenden Föderalisierung geführt; sowohl die Republiken wie auch die Gemeinden sind in hohem Maße autonom. Die gesellschaftlichen Gliederungen haben zwar politische Führungs- und Kontrollfunktionen im Sinne von parteiabhängigen »Massenorganisationen«, aber sie haben zugleich die Aufgabe, die Idee der Selbstverwaltung verwirklichen und die dabei entstehenden Probleme lösen zu helfen. Dies gilt vor allem für die Gewerkschaften, die die Selbstverwaltung in Gemeinden und Betrieben unterstützen sollen.(9) — Auf wirtschaftspolitischem Gebiet hat die Idee einer in freien Assoziationen sich selbst verwaltenden Gesellschaft 1950 zur Einführung der Arbeiterselbstverwaltung geführt, die nicht nur in allen Produktionsbetrieben, sondern teilweise auch im nichtproduktiven Bereich, z. B. in Versicherungen und Krankenhäusern, verwirklicht wurde. Nach dieser Reform wurde 1952 der Prozeß der Transformation des Planungssystems eingeleitet, der durch eine Vielzahl wirtschaftspolitischer Experimente gekennzeichnet war.

2. In der CSSR waren dagegen nicht primär politische oder ideologische Gründe maßgebend für die Entwicklung neuer Vorstellungen vom Sozialismus; den Ausgangspunkt bildeten vielmehr die ökonomischen Schwierigkeiten, die es zu überwinden galt. Die Diskussion über die Funktionsfähigkeit des zentral-administrativen Wirtschaftssystems hatte bereits - wie auch in anderen sozialistischen Ländern - Ende der fünfziger Jahre eingesetzt.(10) Aber erst durch die zunehmenden Krisenerscheinungen und den absoluten Rückgang des Sozialprodukts im Jahre 1963 wurde es den Reformern politisch ermöglicht, ein Gesamtkonzept zur Änderung des Wirtschaftssystems auszuarbeiten und der Parteiführung vorzulegen. Der »Beschluß des Zentralkomitees der KPC über die Hauptrichtungen der Vervollkommnung der planmäßigen Lenkung der Volkswirtschaft« vom Januar 1965 bildete die politische Grundlage für alle weiteren rechtlichen und wirtschaftlichen Maßnahmen, mit denen die Transformation des Wirtschaftssystems eingeleitet wurde.(11)

Das Programm des Jahres 1965 lautete »ökonomische Experimente«. In ausgewählten Produktions- und Wirtschaftseinheiten wurde die Anwendbarkeit der allgemeinen Grundsätze des neuen Systems im Hinblick auf spezielle Fragen einzelner Fachbereiche und Unternehmen geprüft. Diese Experimente sollten »die beste Schule des neuen Systems« sein, durch die »das Fehlerrisiko eines unrichtigen Vorgehens, das sich aus dem unvollkommenen Begreifen der neuen Lenkungsmethoden ergeben könnte«, herabgesetzt und etwaige Lücken vor der allgemeinen Einführung des neuen Systems erkannt und geschlossen werden sollten.(12) Im April 1966 beschieß das Zentralkomitee ein »Programm der beschleunigten Realisierung des neuen Leitungssystems« (13), das im Juni 1966 vom XIII. Parteitag der KPC als Bestandteil der Hauptrichtungen der Wirtschaftspolitik für die nächste Periode gebilligt wurde.(14) Auf diesem Parteitag scheinen die politischen und ideologischen Machtkämpfe zugunsten der Reformen entschieden worden zu sein, denn der damalige Erste Sekretär des ZK, Novotny, der keineswegs als Befürworter dieser Reformbewegung galt, sprach auf dem Parteitag von dem Beginn bedeutsamer Wandlungen:

»Wir führen sie nicht nur in den Methoden der Leitung durch, sondern auch in der ökonomischen Denkweise und insbesondere in den Methoden und im Inhalt der Wirtschaftspolitik des sozialistischen Staates. Diese Änderungen gehen über den Bereich der Ökonomie hinaus. Sie sind Bestandteil des Bestrebens der Partei, die Leitung der ganzen Gesellschaft wissenschaftlich zu gestalten. Sie werden zu einer weiteren Vertiefung der sozialistischen Demokratie und zu einer besseren Nutzung der sozialistischen Produktivkräfte durch die Eingliederung der Volkswirtschaft in die beginnende wissenschaftlich-technische Revolution führen.«(15)

Die grundlegenden Rechtsvorschriften des neuen Systems bestanden in einem Regierungsbeschluß über die »Rahmenbedingungen für die Wirtschaftsführung der Unternehmen« (Juli 1966), im »Gesetz über den vierten Fünf jahrplan der Entwicklung der Volkswirtschaft der CSSR« (Oktober 1966) sowie in der Regierungsverordnung Nr. 100 vom Dezember 1966 »Über die planmäßige Leitung der Volkswirtschaft«, die ab 1.Januar 1967 in Kraft traten.(16) Mit dieser rechtlichen Grundlegung, die als Entwurf des Bauplans der neuen Ordnung zu deuten ist,

war die Transformation des administrativen Wirtschaftssystems vollzogen. Allerdings war man sich bewußt, daß es sich bei der Konzeption des neuen Wirtschaftssystems um einen »programmatischen Entwurf« handelte, der sich »mehr auf theoretische Analysen denn auf praktische Erfahrungen« stützte.

»Es ist daher verständlich, daß es aufgrund praktischer Erfahrungen und Erkenntnisse notwendig werden könnte, eine Reihe der heute herrschenden Vorstellungen und in Erwägung gezogenen Möglichkeiten zu ändern. Keiner der tschechoslowakischen Ökonomen hält deshalb die bisher angenommenen Vorschläge für fertige, ein für allemal gültige Lösungen.«(17)

Auch das Zentralkomitee hatte in seinem Beschluß bereits darauf hingewiesen, »daß die Grundprinzipien des neuen Systems der Leitung der Volkswirtschaft als Ziellösung zu betrachten sind, die sukzessive und in Einklang mit den politischen und ökonomischen Voraussetzungen und aufgrund der gewonnenen Erfahrungen verwirklicht werden muß«.(18) Immer wieder wurde betont, daß es sich um einen langwierigen Prozeß handeln werde:

».. . die Vervollkommnung der planmäßigen Lenkung wird ein langfristiger Prozeß sein, in dem einerseits nach und nach weitere Voraussetzungen für die volle Wirksamkeit des Lenkungssystems verbessert und geschaffen werden, andererseits wird die Wirksamkeit der einzelnen Glieder dieses Systems ununterbrochen geprüft, bewertet und vertieft werden. So werden also die ersten Jahre der Einführung des neuen Lenkungssystems in gewissem Maße einen experimentellen Charakter haben - experimentell in dem Sinn, daß nach den gewonnenen Erfahrungen die Formen der Lenkung laufend vervollkommnet werden.«(19)

Die zahlreichen Schwierigkeiten, die sich bei der Einführung des neuen Leitungssystems in der Praxis herausstellten (20), ermutigten die Dogma-tiker innerhalb der Parteiführung, bereits im Herbst 1967 von »Krise« und notwendiger »Rezentralisierung« zu sprechen. Die Reformer behaupteten sich jedoch, Novotny wurde im Januar 1968 durch Dubcek abgelöst, und es begann der »Prager Frühling«: Die Demokratisierung des ökonomischen Systems wurde mit dem im April 1968 veröffentlichten »Aktionsprogramm der KPC« zu einer Demokratisierung des gesamten politischen und gesellschaftlichen Systems ausgeweitet.(21)

Im Juni 1968 erschien ein »Konzeptionsentwurf der weiteren Entwicklung des ökonomischen Lenkungssystems«, den vier Mitarbeiter des ökonomischen Instituts der Akademie der Wissenschaften in Prag (Leiter: Ota Sik) erarbeitet hatten.(22) Dieses sogenannte 77-Punkte-Programm enthielt eine kritische Analyse der bei der Durchsetzung des neuen Systems entstandenen Probleme, Vorschläge zu ihrer Lösung und ein Gesamtkonzept der künftigen Wirtschaftspolitik, das als erste wissenschaftliche Fundierung einer Wirtschaftspolitik in sozialistischen Marktwirtschaften gelten kann. Man rechnete damit, dieses Konzept bis etwa 1970 voll verwirklichen zu können und bis dahin »auch die komplizierte Dialektik der Beziehung zwischen den individuellen, Gruppen- und gesamtgesellschaftlichen Interessen, sowie auch der materiellen und moralischen Anreize zu bewältigen«.(23)

Die zündende Idee, die von der Umformung des Wirtschaftssystems ausging und schließlich das gesamte politische und gesellschaftliche Leben ergriff, war die Idee eines freiheitlichen, »menschlichen« Sozialismus. Hieraus entwickelte sich der Kampf gegen die in der Novotny-Ära entstandenen »Deformationen des politischen Systems«, der zugleich ein Kampf für den »wahren« Sozialismus, seine »humanistische Sendung und sein menschliches Antlitz« war.(24) Das Macht- und Meinungsmonopol der Partei, die Verletzung der Rechte und Freiheiten der Bürger, staatliche Willkür, die Lähmung der schöpferischen Initiative der Menschen und die dogmatische Erstarrung des Denkens sollten einem »neuen System der politischen Leitung der Gesellschaft« weichen, einer demokratischen Ordnung von Wirtschaft, Staat und Gesellschaft, in der »ein breiter Spielraum der gesellschaftlichen Initiative, offener Meinungsaustausch und Demokratisierung des gesamten gesellschaftlichen und politischen Systems buchstäblich zur Voraussetzung einer dynamischen sozialistischen Gesellschaft wird«.(25) Wie das ZK der KPC in seinem Aktionsprogramm vom April 1968 feststellte, sollte es sich hierbei um ein den tschechoslowakischen Bedingungen entsprechendes Modell der sozialistischen Gesellschaft handeln:

»Wir wollen an den Aufbau eines neuen, zutiefst demokratischen und den tschechoslowakischen Bedingungen entsprechenden Modells der sozialistischen Gesellschaft herangehen. Eigene Erfahrungen und marxistische wissenschaftliche Erkenntnisse führen uns jedoch einmütig zu dem Schluß, daß diese Ziele nicht auf alten Wegen und unter Anwendung von Mitteln erreicht werden können, die sich längst überlebt haben, durch grobe Methoden, die uns ständig zurückwerfen. Mit voller Verantwortung erklären wir, daß unsere Gesellschaft in einen schwierigen Zeitabschnitt eingetreten ist, in dem wir uns nicht mehr auf das traditionelle Schema verlassen können. Wir können das Leben nicht mehr in Schablonen pressen, wenn sie noch so gut gemeint sind. Nun fällt auch uns die Aufgabe zu, uns den Weg unter unbekannten Bedingungen zu bahnen, z« experimentieren, der sozialistischen Entwicklung einen neuen Charakter zu geben, wobei wir uns auf schöpferisches marxistisches Denken und die Erkenntnisse der internationalen Arbeiterbewegung stützen . . .«(26)

Zweifellos beabsichtigte die Parteiführung, ihr Versprechen einzulösen, die Erneuerung der sozialistischen Demokratie »zugunsten des Sozialismus und Kommunismus zu nützen«(27). Allerdings hatte sie ihre politische Eigenständigkeit überschätzt; sie hatte zwar das Vertrauen des Volkes, nicht aber das Moskaus.

Was folgte, ist bekannt: Die Erneuerung der sozialistischen Demokratie wurde gewaltsam unterdrückt. Nach dem Einmarsch der sowjetischen Truppen am 21. August 1968 glaubte man zunächst zwar noch, die Demokratisierung wenigstens im ökonomischen Bereich vorantreiben zu können, insbesondere durch eine neue Betriebsverfassung und durch eine Reorganisation der Banken.(28) Statt dessen wurde jedoch die erst in Ansätzen realisierte sozialistische Marktwirtschaft wieder in ein System zentraler Planung, Leitung und Kontrolle retransformiert.

3. In Ungarn vollzog sich der Übergang zum »Neuen ökonomischen Mechanismus« relativ »geräuschlos«. Neidvoll stellten tschechoslowakische Nationalökonomen 1969 fest, daß die in Ungarn gewählte Praxis »kleiner Schritte« mittels sukzessiver Maßnahmen, »aber ohne Fanfaren der Theoretiker«, erfolgreicher sei.29 Obwohl »Ungarns stille Wirtschaftsreform« nach Vajna »eine eindeutigere Abkehr von der traditionellen sozialistischen Wirtschaftsideologie darstellt als jene der CSSR«, wurde sie ohne Proklamierung eines neuen Sozialismusbildes vorbereitet und durchgeführt.

»Anders als in der CSSR, erfolgte die Vorbereitung der Wirtschaftsreform im Rahmen einer ideologischen und politischen Stabilität, vor allem aber ohne Störungen der ungarisch-sowjetischen Beziehungen.«(30)

So wurden die Grenzen der Reform rechtzeitig abgesteckt: das »unteilbare und einheitliche sozialistische Staatseigentum« an den Produktionsmitteln galt als unantastbares Dogma, das auch in den Regelungen über die neue Rechtsstellung der staatlichen Unternehmen nicht berührt wurde.(31) Zugleich betonte man stärker denn je die »führende Rolle der Partei«, was nicht zuletzt an die Adresse der verbündeten Ostblockstaaten gerichtet war, die dieses Dogma des Marxismus-Leninismus in der CSSR gefährdet geglaubt hatten. Die Reformer konzentrierten sich vielmehr »auf die Bekämpfung der These, wonach das Kollektiveigentum automatisch mit der zentralen Lenkung aller volkswirtschaftlichen Produktions- und Umsatzprozesse verbunden sein muß«.(32) Dabei wurde ein »umfangreiches Sündenregister des Dogmatismus«(33) aufgezählt: die Verabsolutierung der vorrangigen Entwicklung der Schwerindustrie; die weder historisch noch theoretisch bedingte Antithese von Planung und Markt oder von freiem und gesteuertem Markt (Abweichungen oder Gegensätze könne es allenfalls »im Grad, in der Wirkungsweise und in den Zielfunktionen der Steuerung« geben); ferner die Auffassung, daß allein die vom Staat »als gesellschaftlich etikettierten Interessen« legitim und deshalb alle Entscheidungen in den Händen des Staates konzentriert seien, und vor allem auch, daß Wettbewerb und Unternehmerqualitäten als geistige Produkte des Kapitalismus abzulehnen seien.

Die Diskussion über eine Änderung des Wirtschaftssystems setzte hier, wie in der CSSR, 1964 ein, wobei man jedoch - angesichts der Erfahrungen von 1956 - sehr behutsam vorging. Nachdem die industrielle Wachstumsrate von 11,3 % im Jahre 1960 auf 7 °/o im Jahre 1963 gesunken war,(34) wurde zunächst eine »offenherzige Parteidiskussion« zugelassen. Hiernach beschieß das Zentralkomitee der USAP (Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei) im Mai 1966 »die Reform des Wirtschaftsmechanismus« (35), die von 11 Sachverständigenausschüssen mit 130 Experten vorbereitet werden sollte. Um diese Arbeiten nicht zu gefährden, verordnete Parteichef Kadar einen zeitweiligen Diskussionsstopp, bis schließlich am l. Januar 1968 der neue Wirtschaftsmechanismus in Kraft trat und damit die Transformation zur sozialistischen Marktwirtschaft vollzogen wurde. Daß das neue Wirtschaftssystem auch nach der Besetzung der CSSR unangefochten verwirklicht werden konnte, spricht für die politische Umsicht der Parteiführung, wobei sich außerdem als günstig erwiesen haben dürfte, daß die »ökonomische Evolution Ungarns« in der westlichen Öffentlichkeit nur geringe Beachtung fand.(36)

Anmerkungen

1) Vgl. Sik, Probleme S. 28 f.
2) Kozusnik, Entwicklung S. 30. (eig. Hervorhebung - H. H.)
3) Sik, Probleme S. 28 (eig. Hervorhebung - H. H.)
4) Sik, System S. 27
5)
Zum Begriff der Transformation von Wirtschaftssystemen vgl. Blaich/Bog/Gutmann/ Hensel: Wirtschaftssysteme S. 139, 243 f.
6) Vgl. u. a. Hensel u. Mitarb., Marktwirtschaft. - Der Begriff des »Konkurrenzsozialismus« bezieht sich dagegen auf das in den dreißiger Jahren entwickelte Modell einer sozialistischen Wirtschaft, in dem zentrale Planung mit Konkurrenz auf den Märkten kombiniert werden sollte, und zwar vermittels eines Preissystems, das aus Angebot und Nachfrage ermittelt und demgemäß zentral ständig neu, im Hinblick auf eine gleichgewichtige Preisstruktur, errechnet werden sollte. Die Hauptvertreter dieses — wissenschaftlich umstrittenen - Modells waren O. Lange, A. Lerner und F. Taylor. Über die Diskussion dieses Modells vgl. Brus, Funktionsprobleme S. 50 ff
7) Vgl. Hensel, oben S. 149 ff.
8) Vgl. Klemencic, Rezeption 158, 256 f.
9) Vgl. Hensel, Funktionen S. 13 ff. 10 Vel. 1. Teil. C. IV.
10
) Vgl. 1. Teil, C. IV.
11) Vgl. Hensel u. Mitarb., Marktwirtschaft S. 15 ff., 172 ff.
12) Vgl. Bores, Programm S. 2
13) Vgl. Hensel u. Mitarb., Marktwirtschaft S. 204 f.
14) Dokumente XIII. Parteitag KPC, S. 117 ff., 132 ff.
15) Novotny, Bericht S. 49 f. (eig. Hervorhebung - H. H.)
16) In: Hensel u. Mitarb., Marktwirtschaft S. 204 ff., 198 ff., 222 ff.
17) Kozusnik, Entwicklung S. 38
18) In: Hensel u. Mitarb., Marktwirtschaft S. 188
19) Bores, Programm S. 6 f. (eig. Hervorhebung - H. H.)
20) Vgl. Hensel u. Mitarb., Marktwirtschaft S. 22.
21) In: Hensel u. Mitarb., Marktwirtschaft S. 286 ff.
22) In: Mensel u. Mitarb., Marktwirtschaft S. 337 ff.
23) Ebenda, S. 346
24) Aktionsprogramm der KPC, in: Hensel u. Mitarb., Marktwirtschaft S. 291
25) Ebenda, S. 300 f., 289
26) Ebenda, S. 335 f. (eig. Hervorhebung - H. H.)
27) Aktionsprogramm der KPC, in: Hensel u. Mitarb., Marktwirtschaft S. 336
28) Vgl. Hamel, Marktwirtschaft S. 328 ff.
29) Vgl. ebenda, S. 343
30) Vajna, Wirtschaftsreform S. 85
31) Vajna, Reform S. 41 ff.
32) Vajna, Wirtsdiaftsreform S. 85
33) Vajda, Planung S. 108; vgl. Hamel, Ungarn S. 191 f.
34) Vgl. v. Wrangel, Ostblock, S. 171
35) Vgl. Hamel, Ungarn S. 192 f.; Hensel, Wirtschaftsordnungen S. 73 ff.
36) Vgl. Vajna, Wirtschaftsreform S. 85

Editorisch Hinweise

Der Text wurde entnommen aus: Ludwig Bress, Karl Paul Hensel u. a.,Wirtschaftssysteme des Sozialismus im Experiment : Plan oder Markt. - Frankfurt am Main, 1972, S.170-202, davon S.170-177

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