Ein kleiner Mann will hoch hinaus.
Sein politisches Sprungbrett ist das Innenministerium,
aber er strebt nach höheren Weihen. Bei Polizisten ist
er als Vorgesetzter beliebt. Offen erklärte er seine
Ambitionen für das höchste Staatsamt, während er
gleichzeitig mit seiner Gattin in der
Regenbogenzeitschrift
Paris Match
posierte. Auf seinem Weg nach oben gehören - neben
anderen - auch die Roma zu den Gruppen, die bei Bedarf
zur Profilierung auf ihre Kosten herhalten müssen.
Nein, die Rede ist nicht
vom ehemaligen Innenminister und späteren Staatspräsidenten
Nicolas Sarkozy, sondern von seinem sozialdemokratischen
Nachfolger im Innenministerium, Manuel Valls. Auch wenn gewisse
Ähnlichkeiten nicht abzustreiten sind. Vor gut einem Jahr konnte
es noch als übertriebene Behauptung von Linksradikalen
durchgehen, unter dem rechten Sozialdemokraten Valls würden mehr
Roma abgeschoben oder aus ihren provisorischen Siedlungen
zwangsgeräumt als zuvor unter der Rechtsregierung. Doch
inzwischen hat die Wirklichkeit die Diskussion darüber
eingeholt.
Ende September 2013
veröffentlichten die französische Liga für Menschenrechte (LDH)
und Amnesty international dazu Zahlen. Bezüglich Zwangsräumungen
lauten sie: Im Sommer und Herbst 2010 betrafen sie über 9.000 in
Barackensiedlungen und provisorischen Behausungen lebende Roma,
im ganzen Jahr 2012 – das in Frankreich zur Hälfte durch eine
Rechtsregierung und zur Hälfte von Sozialdemokraten regiert war
– waren es 11.982. Und im laufenden Jahr waren es bereits in den
ersten sechs Jahresmonaten 10.174.
Dabei ist es nicht so
sehr der Abriss von Elendssiedlungen ohne Wasseranschluss und
mit schlechten hygienischen Bedingungen – die Gesamtzahl ihrer
als Roma geltenden Bewohner in Frankreich wird mit knapp 17.000
angegeben - als solcher, der von einigen Stimmen kritisiert
wird. Sondern die Tatsache der puren Zerstörung von Wohnraum und
Hausrat, ohne den Betroffenen jegliche positive Alternative zu
bieten. Würden ihnen Umzugsmöglichkeiten gegeben, wäre es anders
zu bewerten. Doch stattdessen verlieren sie in aller Regel nur
ihre Habe, um sich in noch schlechterer Situation einige
Kilometer weiter anzusiedeln. Die Regierungspolitik konnte auf
diese Weise dem Wahlvolk ihren Handlungswillen unter Beweis
stellen – während dieser auf fast allen anderen Gebieten
ausbleibt, vor allem auf der sozial-ökonomischen Ebene wird
einfach nur das Bestehende verwaltet und Durchwursteln in
Krisenzeiten betrieben -, das „Problem“ wurde nur verschoben,
und die Hauptbetroffenen stehen noch schlechter da.
Manuel Valls hat sich entschieden, das Ganze mit martialischen
Sprüchen zu begleiten. Und darin ähnelt er, unter anderem,
seinem illustren Vorgänger Nicolas Sarkozy. Am 24. September 13
gab er dem Sender Radio France Inter ein
Rundfunkinterview, das einigen Zündstoff enthielt. Darin
erklärte er: „Diese Bevölkerungen haben Lebensweisen, die
sich extrem von den unseren unterscheiden, und die natürlich in
Konfrontation mit ihnen stehen.“ Auf diese Weise
kulturalisierte und naturalisierte er Wohn- und Lebensstile, die
sich überwiegend aus einer sozialen Situation und einer seit
anderthalb Jahrhunderten während Ghettoisierung – seitdem die
Roma in Südosteuropa um 1850 offiziell aus der Sklaverei
entlassen wurden – erklären. Valls fügte hinzu, „nur eine
Minderheit“ könne sich überhaupt in Frankreich
„integrieren“. Und einige Tage darauf präzisierte er, die in
einigen Kommunen erprobten Übergangssiedlungen und
Integrationsversuche könnten höchstens „nur einige Dutzend
Familien betreffen“.
Einer
der Kernsätze aber lautete:
„Die Roma sind dazu berufen, nach Rumänien und Bulgarien
zurückzukehren.“
Dieses wie ein objektives Naturgesetz formulierte Postulat mit
seiner Kernaussage – <<
ont vocation à >>,
also „sind berufen dazu“ – behauptet einen unentrinnbaren Zwang,
und gerade diese Aussage wurde in der Folgezeit viel
kommentiert. Der frühere KP-Abgeordnete Jean-Claude Lefort
verfasste daraufhin einen vielbeachteten offenen Brief an Valls,
in dem der Verfasser seine eigene „Zigeunerherkunft“
herauskehrt. Darin schreibt er, Valls sei auf ähnliche Weise bei
seiner Volljährigkeit „berufen“ gewesen, nach Spanien
zurückzukehren: Der spätere Politiker wurde in Barcelona
geboren, und da die Franco-Diktatur in seiner Jugend vorbei war,
entfielen nach innenministeriellen Maßstäben
dann theoretisch die Aufenthaltsgründe für Valls‘ Familie – sein
Geburtsland war damals noch nicht in der Europäischen
Gemeinschaft.
Flügelflattern im
Regierungslager
Valls‘ Erklärungen riefen jedoch Ende September d.J. zum ersten
Mal auch lautere Gegenstimmen bis hinein ins Regierungslager
hervor. Die grüne Wohnungsbauministerin Cécile Duflot meldete
sich mit der Bemerkung zu Wort, Valls sei
„über das hinausgegangen, was den republikanischen Pakt“
– also den demokratischen Gesellschaftsvertrag –
„gefährdet“.
Dies erklärte sie bei einer Abgeordnetentagung ihrer Partei in
Angers. Auch wenn Cécile Duflots Vorstoß
nebenbei auch durchsichtigen Profilierungsbedürfnissen diente,
die mit Ereignissen drei Tage zuvor zusammenhingen. Zu Anfang
derselben Woche (am 25. September 13) hatte der profilierte
Politiker, frühere TV-Journalist und frühere
Präsidentschaftskandidat Noël Mamère die grüne Partei verlassen
und ihre Überanpassung ans Regierungsgeschäft kritisiert, dabei
standen Duflot und ihr Umfeld besonders im Visier. Dennoch löste
Duflot durch ihre Stellungnahme, durch ihre Kritik erstmals eine
kontroverse Diskussion aus.
Zwei
Tage später pflichtete ihr der Staatssekretär für
Verbraucherschutz Benoît Hamon vom linken Parteiflügel der
Sozialdemokratie bei. Er nannte zwar Valls nicht beim Namen.
Aber als er bei einem Kongress seines Flügels am letzten
Septemberwochenende in Vieux-Boucau
„Grenzüberschreitungen, die mir missfallen“ anprangerte,
war allen Beobachtern klar, wer und was gemeint war. Die
konservative Opposition tobte und forderte Präsident François
Hollande zu Klarstellungen auf und dazu, zu zeigen, dass es
einen Herrn im Hause gebe.
Das
Staatsoberhaupt äußerte
sich nicht klar zur Sache, was er bei Streitfällen ohnehin
selten tut. Es wurde jedoch eine technische Lösung eingerichtet
– nunmehr sind alle Minister aufgefordert, die Inhalte ihrer
Wortmeldungen dem Premierminister Jean-Marc Ayrault vorzulegen,
bevor sie sich in der Öffentlichkeit äußern.
Unterdessen ergaben Umfragen, deren Ergebnisse sicherlich wie so
oft mit Vorsicht zu genießen
sind, dass angeblich zwei Drittel der französischen Gesellschaft
Valls gegen Duflot unterstützen. Und bei den Popularitätswerten
erntet Valls Anfang Oktober d.J. bei Befragungen 70 bis 71
Prozent an positiven Meinungen. Also fast drei mal so viel wie
sein oberster Chef, François Hollande.
Zoff auf der
EU-Ebene
Der
innenpolitische Streit erfasste unterdessen auch mehrere
Nebenkriegsschauplätze. Wie bereits im September 2010 unter dem
damaligen Präsidenten Sarkozy, kritisierte die EU-Kommissarin
für das Justizwesen Viviane Reding nun drei Jahre später erneut
die französische Politik gegenüber den Roma und erinnerte daran,
dass die EU-Bürger unter ihnen – etwa die rumänischen und
bulgarischen Roma – wie andere Unions-Angehörige Freizügigkeit
genießen.
Ein konservativer Abgeordneter, Philippe Meunier, profilierte
sich daraufhin mit dem öffentlichen Ausspruch:
„Reding zieh‘ Leine!“
Eine solche verbale Aggressivität war beim letzten Mal, im
Spätsommer 2010, gegenüber Brüssel noch nicht geherrscht.
Unterdessen haben sowohl Manuel Valls als auch konservative
Oppositionspolitiker die aktuell stattfindenden Gespräche über
die Erweiterung des Schengen-Raums auf Bulgarien und Rumänien
als Anlass entdeckt, um verbal zu eskalieren. Das Thema hat
eigentlich mit der Freizügigkeit für Roma aus den beiden Ländern
nichts zu tun: Bei den Schengen-Abkommen geht es um die Einreise
und den Verkehr von Nicht-EU-Bürgern und gemeinsame Kontrollen
an den Außengrenzen.
Valls oder der frühere konservative Minister Laurent Wauquiez
erwecken nun den gegenteiligen Eindruck und fordern die
Aussetzung der Ausweitung des Schengen-Raums, so lange Rumänien
und Bulgarien nicht die Roma besser integrierten und vom
massiven Ausreisewillen abhielten. Der Konflikt mag nur
symbolisch sein, verärgert aber die politische Elite in Bukarest
und Sofia erheblich. Marine Le Pen musste für ihre
innenpolitischen Bedürfnisse in Frankreich nur noch hinzufügen,
die
„Altparteien“
UMP und PS seien in der Sache nicht glaubwürdig, da sie bislang
die Grenzöffnungspolitik – im Binnenraum der EU und des
Schengen-Abkommens – ja bereitwillig mitgetragen hätten. Und man
solle deswegen lieber das Original gegenüber der Kopie
vorziehen.
Verbale Eskalation auf einer anderen Ebene betrieb der
konservative Bürgermeister von Croix, in der Nähe von Lille,
Régis Cauche. Er erklärte Ende September 13 prophylaktisch,
falls einer der Einwohner seiner Kommune - wo sich bis Ende
September ein Roma-Camp befand, woraufhin Diebstahlsvorwürfe
laut wurden – „Notwehr“ übe und mit dem Gewehr auf
einen Campbewohner losgehe, „dann stehe ich hinter ihm“.
Editorische Hinweise
Wir erhielten den Artikel vom Autor für
diese Ausgabe.
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