Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Frankreich, Einwanderungspolitik (Teil 1)
Roma, Zielscheibe im Vorwahlkampfklima – für fast alle Parteien

11-2013

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Ein kleiner Mann will hoch hinaus. Sein politisches Sprungbrett ist das Innenministerium, aber er strebt nach höheren Weihen. Bei Polizisten ist er als Vorgesetzter beliebt. Offen erklärte er seine Ambitionen für das höchste Staatsamt, während er gleichzeitig mit seiner Gattin in der Regenbogenzeitschrift Paris Match posierte. Auf seinem Weg nach oben gehören - neben anderen - auch die Roma zu den Gruppen, die bei Bedarf zur Profilierung auf ihre Kosten herhalten müssen.

Nein, die Rede ist nicht vom ehemaligen Innenminister und späteren Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy, sondern von seinem sozialdemokratischen Nachfolger im Innenministerium, Manuel Valls. Auch wenn gewisse Ähnlichkeiten nicht abzustreiten sind. Vor gut einem Jahr konnte es noch als übertriebene Behauptung von Linksradikalen durchgehen, unter dem rechten Sozialdemokraten Valls würden mehr Roma abgeschoben oder aus ihren provisorischen Siedlungen zwangsgeräumt als zuvor unter der Rechtsregierung. Doch inzwischen hat die Wirklichkeit die Diskussion darüber eingeholt.

Ende September 2013 veröffentlichten die französische Liga für Menschenrechte (LDH) und Amnesty international dazu Zahlen. Bezüglich Zwangsräumungen lauten sie: Im Sommer und Herbst 2010 betrafen sie über 9.000 in Barackensiedlungen und provisorischen Behausungen lebende Roma, im ganzen Jahr 2012 – das in Frankreich zur Hälfte durch eine Rechtsregierung und zur Hälfte von Sozialdemokraten regiert war – waren es 11.982. Und im laufenden Jahr waren es bereits in den ersten sechs Jahresmonaten 10.174.

Dabei ist es nicht so sehr der Abriss von Elendssiedlungen ohne Wasseranschluss und mit schlechten hygienischen Bedingungen – die Gesamtzahl ihrer als Roma geltenden Bewohner in Frankreich wird mit knapp 17.000 angegeben - als solcher, der von einigen Stimmen kritisiert wird. Sondern die Tatsache der puren Zerstörung von Wohnraum und Hausrat, ohne den Betroffenen jegliche positive Alternative zu bieten. Würden ihnen Umzugsmöglichkeiten gegeben, wäre es anders zu bewerten. Doch stattdessen verlieren sie in aller Regel nur ihre Habe, um sich in noch schlechterer Situation einige Kilometer weiter anzusiedeln. Die Regierungspolitik konnte auf diese Weise dem Wahlvolk ihren Handlungswillen unter Beweis stellen – während dieser auf fast allen anderen Gebieten ausbleibt, vor allem auf der sozial-ökonomischen Ebene wird einfach nur das Bestehende verwaltet und Durchwursteln in Krisenzeiten betrieben -, das „Problem“ wurde nur verschoben, und die Hauptbetroffenen stehen noch schlechter da.

Manuel Valls hat sich entschieden, das Ganze mit martialischen Sprüchen zu begleiten. Und darin ähnelt er, unter anderem, seinem illustren Vorgänger Nicolas Sarkozy. Am 24. September 13 gab er dem Sender Radio France Inter ein Rundfunkinterview, das einigen Zündstoff enthielt. Darin erklärte er: „Diese Bevölkerungen haben Lebensweisen, die sich extrem von den unseren unterscheiden, und die natürlich in Konfrontation mit ihnen stehen.“ Auf diese Weise kulturalisierte und naturalisierte er Wohn- und Lebensstile, die sich überwiegend aus einer sozialen Situation und einer seit anderthalb Jahrhunderten während Ghettoisierung – seitdem die Roma in Südosteuropa um 1850 offiziell aus der Sklaverei entlassen wurden – erklären. Valls fügte hinzu, „nur eine Minderheit“ könne sich überhaupt in Frankreich „integrieren“. Und einige Tage darauf präzisierte er, die in einigen Kommunen erprobten Übergangssiedlungen und Integrationsversuche könnten höchstens „nur einige Dutzend Familien betreffen“.

Einer der Kernsätze aber lautete: „Die Roma sind dazu berufen, nach Rumänien und Bulgarien zurückzukehren.“ Dieses wie ein objektives Naturgesetz formulierte Postulat mit seiner Kernaussage – << ont vocation à >>, also „sind berufen dazu“ – behauptet einen unentrinnbaren Zwang, und gerade diese Aussage wurde in der Folgezeit viel kommentiert. Der frühere KP-Abgeordnete Jean-Claude Lefort verfasste daraufhin einen vielbeachteten offenen Brief an Valls, in dem der Verfasser seine eigene „Zigeunerherkunft“ herauskehrt. Darin schreibt er, Valls sei auf ähnliche Weise bei seiner Volljährigkeit „berufen“ gewesen, nach Spanien zurückzukehren: Der spätere Politiker wurde in Barcelona geboren, und da die Franco-Diktatur in seiner Jugend vorbei war, entfielen nach innenministeriellen Maßstäben dann theoretisch die Aufenthaltsgründe für Valls‘ Familie – sein Geburtsland war damals noch nicht in der Europäischen Gemeinschaft.

Flügelflattern im Regierungslager

Valls‘ Erklärungen riefen jedoch Ende September d.J. zum ersten Mal auch lautere Gegenstimmen bis hinein ins Regierungslager hervor. Die grüne Wohnungsbauministerin Cécile Duflot meldete sich mit der Bemerkung zu Wort, Valls sei „über das hinausgegangen, was den republikanischen Pakt“ – also den demokratischen Gesellschaftsvertrag – „gefährdet“. Dies erklärte sie bei einer Abgeordnetentagung ihrer Partei in Angers. Auch wenn Cécile Duflots Vorstoß nebenbei auch durchsichtigen Profilierungsbedürfnissen diente, die mit Ereignissen drei Tage zuvor zusammenhingen. Zu Anfang derselben Woche (am 25. September 13) hatte der profilierte Politiker, frühere TV-Journalist und frühere Präsidentschaftskandidat Noël Mamère die grüne Partei verlassen und ihre Überanpassung ans Regierungsgeschäft kritisiert, dabei standen Duflot und ihr Umfeld besonders im Visier. Dennoch löste Duflot durch ihre Stellungnahme, durch ihre Kritik erstmals eine kontroverse Diskussion aus.

Zwei Tage später pflichtete ihr der Staatssekretär für Verbraucherschutz Benoît Hamon vom linken Parteiflügel der Sozialdemokratie bei. Er nannte zwar Valls nicht beim Namen. Aber als er bei einem Kongress seines Flügels am letzten Septemberwochenende in Vieux-Boucau „Grenzüberschreitungen, die mir missfallen“ anprangerte, war allen Beobachtern klar, wer und was gemeint war. Die konservative Opposition tobte und forderte Präsident François Hollande zu Klarstellungen auf und dazu, zu zeigen, dass es einen Herrn im Hause gebe.

Das Staatsoberhaupt äußerte sich nicht klar zur Sache, was er bei Streitfällen ohnehin selten tut. Es wurde jedoch eine technische Lösung eingerichtet – nunmehr sind alle Minister aufgefordert, die Inhalte ihrer Wortmeldungen dem Premierminister Jean-Marc Ayrault vorzulegen, bevor sie sich in der Öffentlichkeit äußern. Unterdessen ergaben Umfragen, deren Ergebnisse sicherlich wie so oft mit Vorsicht zu genießen sind, dass angeblich zwei Drittel der französischen Gesellschaft Valls gegen Duflot unterstützen. Und bei den Popularitätswerten erntet Valls Anfang Oktober d.J. bei Befragungen 70 bis 71 Prozent an positiven Meinungen. Also fast drei mal so viel wie sein oberster Chef, François Hollande.

Zoff auf der EU-Ebene

Der innenpolitische Streit erfasste unterdessen auch mehrere Nebenkriegsschauplätze. Wie bereits im September 2010 unter dem damaligen Präsidenten Sarkozy, kritisierte die EU-Kommissarin für das Justizwesen Viviane Reding nun drei Jahre später erneut die französische Politik gegenüber den Roma und erinnerte daran, dass die EU-Bürger unter ihnen – etwa die rumänischen und bulgarischen Roma – wie andere Unions-Angehörige Freizügigkeit genießen. Ein konservativer Abgeordneter, Philippe Meunier, profilierte sich daraufhin mit dem öffentlichen Ausspruch: „Reding zieh‘ Leine!“ Eine solche verbale Aggressivität war beim letzten Mal, im Spätsommer 2010, gegenüber Brüssel noch nicht geherrscht.

Unterdessen haben sowohl Manuel Valls als auch konservative Oppositionspolitiker die aktuell stattfindenden Gespräche über die Erweiterung des Schengen-Raums auf Bulgarien und Rumänien als Anlass entdeckt, um verbal zu eskalieren. Das Thema hat eigentlich mit der Freizügigkeit für Roma aus den beiden Ländern nichts zu tun: Bei den Schengen-Abkommen geht es um die Einreise und den Verkehr von Nicht-EU-Bürgern und gemeinsame Kontrollen an den Außengrenzen. Valls oder der frühere konservative Minister Laurent Wauquiez erwecken nun den gegenteiligen Eindruck und fordern die Aussetzung der Ausweitung des Schengen-Raums, so lange Rumänien und Bulgarien nicht die Roma besser integrierten und vom massiven Ausreisewillen abhielten. Der Konflikt mag nur symbolisch sein, verärgert aber die politische Elite in Bukarest und Sofia erheblich. Marine Le Pen musste für ihre innenpolitischen Bedürfnisse in Frankreich nur noch hinzufügen, die „Altparteien“ UMP und PS seien in der Sache nicht glaubwürdig, da sie bislang die Grenzöffnungspolitik – im Binnenraum der EU und des Schengen-Abkommens – ja bereitwillig mitgetragen hätten. Und man solle deswegen lieber das Original gegenüber der Kopie vorziehen.

Verbale Eskalation auf einer anderen Ebene betrieb der konservative Bürgermeister von Croix, in der Nähe von Lille, Régis Cauche. Er erklärte Ende September 13 prophylaktisch, falls einer der Einwohner seiner Kommune - wo sich bis Ende September ein Roma-Camp befand, woraufhin Diebstahlsvorwürfe laut wurden – „Notwehr“ übe und mit dem Gewehr auf einen Campbewohner losgehe, „dann stehe ich hinter ihm“.
 

Editorische Hinweise

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