Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Frühling im Oktober/November für den Front National?

11-2013

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Der rechtsextreme Front National übt eine neue Attraktivität auch auf Berufsgruppen aus, die ihm bislang fernstanden. Am 12. Oktober 13 wurde im Beisein von Parteichefin Marine Le Pen ein Lehrerinnen- und Lehrerkollektiv, das dem FN nahe steht, gegründet. Am darauffolgenden Tag gewann die neofaschistische Partei ihren ersten Bezirksparlamentssitz, wofür eine absolute Stimmenmehrheit erforderlich war. Rassistische Auslassungen einer Kandidatin zu den Kommunalwahlen sorgen unterdessen für einen Skandal und trüben die Illusionen, welche mit der Strategie der vermeintlichen „Mäßigung allerorten“ hervorgerufen wurden. Während ein frisch gewählter Mandatsträger der Partei einem Bericht zufolge als „Hitler-Verehrer“ gelten kann...

Eine dicke Zahl ziert das Titelblatt des sozialliberalen Wochenmagazins Le Nouvel Observateur in seiner Ausgabe vom 10. Oktober 13. Sie lautet: << 24 % >>, und der Untertitel dazu: „Die Umfrage, die Angst bereitet.“ Es handelt sich um eine Anfang Oktober dieses Jahres durchgeführte Repräsentativbefragung unter knapp 1.900 ausgewählten Französinnen und Franzosen, im Hinblick auf die im Mai 2014 bevorstehenden Europaparlamentswahlen. Demnach würde der Front National (FN) unter den antretenden Parteien mit 24 % der abgegebenen Stimmen in Frankreich auf dem ersten Platz landen. An zweiter Stelle stünde die konservativ-wirtschaftsliberale UMP mit 22 %, gefolgt von der Sozialdemokratie auf dem dritten Platz mit 19 %. Im Hintergrund des Titelblatts sieht man das Konterfei der Parteichefin des FN, Marine Le Pen. Die Umfrage wurde natürlich kurz nach ihrem Erscheinen vielfach kommentiert.

Brignoles

Auch mit anderen Mitteln versucht die rechtsextreme Partei, einer unliebsamen Berichterstattung durch Vorsichtsmaßnahmen vorzubeugen. Etwa, indem ihre Führung örtlichen Kandidat-inn-en und Funktionär-inn-en verbot, mit Journalistinnen und Journalisten der Sendereihe Le petit journal des privaten TV-Senders Canal + zu sprechen. Diese Erfahrung musste die Reporterin Sahlia Brakhlia machen, die am 08. Oktober d.J. extra ins südfranzösische Brignoles gereist war, um mit örtlichen Mandatsträgern des FN zu sprechen. Soeben hatte die rechtsextreme Partei dort – am Sonntag, den 06. Oktober – einen erheblichen Wahlerfolg im ersten Durchgang der Bezirksparlamentswahl eingefahren. Und ihr Kandidat Laurenz Lopez war gut platziert, um die Stichwahl am darauffolgenden Sonntag zu gewinnen. Allein, er weigerte sich, mit der Journalistin zu sprechen: „Anordnung von oben!“...1

Knapp 49 Prozent im ersten Wahlgang: so lautete unterdessen das Ergebnis der extremen Rechten bei ebendieser Bezirksparlamentswahl in Brignoles, im Hinterland der Côte d’Azur. Die Stichwahl am darauffolgenden Sonntag, den 13. Oktober trugen nun Konservative (UMP) und extreme Rechte unter sich aus; die Linksparteien waren nach dem ersten Durchgang aus dem Rennen geflogen. Der gemeinsame Kandidat von Sozialdemokraten und Parteikommunisten – die Letzteren stellen den Bürgermeister von Brignoles –, Laurent Carratala, erhielt nur 14,6 Prozent; hinzu kommen 8,9 Prozent für die Kandidatin der in Paris mit den Sozialdemokraten zusammen regierenden Grünen. Beide Parteien „bezahlten“ mit hoher Wahrscheinlichkeit vor allem die Unpopularität der Regierungspolitik auf nationaler Ebene.

Und dies, obwohl ein KP-Parteifreund Carratalas, ebender Bürgermeister der Stadt Brignoles – Claude Gilardo -, bei der letzten Wahl für denselben Bezirksparlamentssitz (im Juli 2012) noch eine Mehrheit errungen und den Sitz erobert hatte. Die Wahl in Brignoles musste infolge von Anfechtungen gleich zwei mal hintereinander wiederholt werden. Im März 2011, als die Bezirksparlamentswahlen überregional durchgeführt wurden, hatte der Front National (FN) in der Stichwahl eine hauchdünne Mehrheit von 50,0 Prozent mit nur fünf Stimmen Vorsprung erhalten. Beim darauffolgenden Mal hatte er verloren, doch es fehlten ihm dieses Mal (wiederum in der Stichwahl) dreizehn Stimmen zur absoluten Mehrheit.

Der Sitz von Brignoles war 2011, und ist auch jetzt wieder, der erste und einzige Sitz für den Front National in den Bezirksparlamenten: Diese werden nach dem Mehrheits-, und nicht nach dem in manchen anderen Wahlgängen (u.a. für Regionalparlamente und Stadträte) geltenden Verhältniswahlrecht besetzt. Umso höher war der Symbolwert dieser Bezirksparlamentswahl. Ebenso, wie er aufgrund der örtlichen politischen Konstellation – das Rathaus von Brignoles wird noch immer „kommunistisch“ geführt – hoch ist.

Und nun zum Ergebnis der Stichwahl vom Sonntag, den 13. Oktober d.J.: Tatsächlich konnte Laurent Lopez als momentan einziger, unter den Bedingungen des Mehrheitswahlrechts gewählter Bezirksverordneter in den Conseil général (das Bezirksparlament) in Toulon einziehen. Lopez setzte sich in der Stichwahl mit 53,91 Prozent der abgegebenen Stimmen klar gegen die UMP-Bewerberin Catherine Delzers durch. Oder in absoluten Zahlen: Der FN-Mann erhielt 5.031 Stimmen, die konservative Kandidatin 4.301. Auch die UMP-Bewerberin hatte mit, nun ja, zweifelhaften Argumenten um Wähler/innen zu werben versucht. So hatte sie als Argument gegen den (von der Regionalparlamentsfraktion des FN aus Marseille abgeorderten) Laurent Lopez vorgetragen, „nur ein/e Einheimische/r“ könne die Bedürfnisse der Menschen vor Ort aufgreifen, Lopez sei jedoch ein Auswärtiger...

Die „Links“parteien, mit oder ohne Anführungszeichen, waren nach dem ersten Wahlgang ausgeschieden, riefen jedoch mehrheitlich zur Wahl der UMP-Kandidatin auf, um den FN zu stoppen. Was nicht auf einhellige Zustimmung stieß; Linkspartei-Chef Jean-Luc Mélenchon gab etwa zu erkennen, für ihn gebe es in Brignoles keine annehmbare Wahl, sondern nur „Pest oder Cholera“2 – während er allerdings 2012 noch ganz auf die Karte „Alle Kräfte strikt gegen den FN“ gesetzt hatte.

Zwischen den beiden Durchgängen der Wahl in Brignoles, am 06. und am 13. Oktober, stieg die Stimmbeteiligung erheblich an. Im ersten Wahlgang betrug sie 33,4 % und in der Stichwahl dann 45,26 %3. Dies bedeutet jedoch, dass der FN auch Nichtwähler/innen oder aber Wähler/innen anderer Parteien aus dem ersten Durchgang für sich mobilisieren konnte. Im ersten Wahlgang erhielt sein Kandidat 40,4 %; ein anderer rechtsextremer Bewerber vereinigte 9,1 % auf seinen Namen, rief dann jedoch (aus Rache an seiner früheren Partei, weil der FN ihm die abermalige Kandidatur verweigert hatte) zur Wahl der UMP-Bewerberin auf. Er war im ersten Wahlgang für die Splitterpartei PdF oder Parti de la France angetreten, welche der frühere FN-Generalsekretär Carl Lang im Winter 2008/09 gründete, nachdem ihm seine frühere Partei zu schlapp geworden war.

Triumph eines Hitler-Verehrers?

Unterdessen behauptet Omar Djellil, eine schillernde Figur - ein französischer Moslem aus Marseille mit ehemaligen Kontakten zur extremen Rechten, deren Kader er auf eine „pro-islamische“ Linie zu bringen versuchte -, Laurent Lopez sei „ein Hitler-Verehrer“. In Gesprächen mit Omar Djellil, der ihn im Jahr 2010 im Marseiller Bezirksparlament kennenlernte, soll Lopez diesen mit dem Mufti von Jerusalem während des Zweiten Weltkriegs, einem notorischen Nazi-Kollaborateur, verglichen haben. Auf diese Weise habe er bewundernd Omar Djellils mögliche Rolle für die extreme Rechte unterstrichen. Der FN-Politiker Lopez seinerseits reagierte mit einem energischen Dementi auf diese Behauptungen.

Nun ist Omar Djellil eine mindestens zwielichtige Figur. Im Jahr 2011 unterhielt er zunächst rege Kontakte zum FN4. Gleichzeitig knüpfte er engere Verbindungen zum Netzwerk um den, auf vordergründig „pro-moslemische“ Demagogie spezialisierten, antisemitischen Schriftsteller Alain Soral. Dessen Gruppe Egalité & Réconciliation (E&R) veröffentlichte aber Ende 2011 heftige öffentliche Kritiken gegen den „überzeugungslosen Opportunisten“, welcher auch zu Sozialdemokraten und Konservative Kontakte unterhalte5... Aber noch im September 2013 war er anlässlich der Sommeruniversität der Parteijugend FNJ als „Ehrengast des Ehrenpräsidenten der Partei, Jean-Marie Le Pen“ anwesend. Bis es beinahe zu Handgreiflichkeiten kam. Und bis der Chef des für seine, nun ja, „Gewaltlosigkeit“ bekannten Jugendverbands FNJ -Julien Rochedy - ihm laut eigenen Worten „auf die Fresse (zu) hauen“ versuchte und nur durch den Ordnerdienst der Partei davon abgehalten werden konnte6... Omar Djellil behauptet von sich selbst, ein Freund von Jean-Marie Le Pen zu sein, aber „keine einzige Idee“ von dessen Tochter Marine zu teilen. Ursächlich dafür ist, dass Marine Le Pen eine wesentlich stärker auf den „Hauptfeind Islam“ ausgerichtete Linie einschlug als ihr Vater. (Welcher mehrfach, unter anderem 1998, aktive Kontakte zum iranischen Regime unterhielt. Und deswegen auch von stärker pro-westlich, pro-abendländisch und hauptsächlich anti-muslimisch ausgerichteten Fraktionen der europäischen extremen Rechten attackiert wurde.)

Kurz, es ist nicht auszuschließen, dass Omar Djellil in erster Linie einen Profilneurotiker oder einen Fall für die Psychiatrie bildet, oder aus sonstigen Gründen lügt wie gedruckt. Allerdings gibt es ein dickes Aber: Der sicherlich kaum um eine Provokation verlegene Herr legte auch zumindest einen Beweis für seine Behauptungen vor. Es handelt sich um den Ausdruck einer E-Mail, die Laurent Lopez an ihn sandte. Darin ist zu lesen: „Omar, Du bist intelligent. Du kannst selbst urteilen. Seit Jahrzehnten arbeiten Viele daran, Hass zwischen den ,Franzosen vom Herzen her’ zu säen. (Anm. AN: Diese Formulierung soll die angeblich zu unterscheidenden Abstammungs- und fremdstämmigen Franzosen gleichermaßen einschließen.) Diese Leute, die ,nicht existieren’, aber die die Medien und die Finanz kontrollieren. (Absatz) Ein Mann, den zu zitieren mir an dieser Stelle der Anstand verbietet, sprach oft von der Vorsehung. Ich glaube, dass unser Zusammentreffen zu den Werken dieser Vorsehung gehört.“ Nun ist ziemlich durchsichtig, dass es sich bei den „Leuten (...), die Medien und Finanzwelt kontrollieren“, im Geiste eines Rechtsextremen nur um Juden handeln kann. Was den Mann, den man angeblich nicht nennen darf, betrifft, so behaupten jedenfalls einige Stimmen, es handele sich um Adolf Hitler – der tatsächlich immer wieder gern die „Vorsehung“ im Munde geführt habe7.

Nun ist es – jenseits der Tatsache, dass Omar Djellil, von dem die Behauptungen stammen, als eine extrem zweifelhafte Gestalt gelten kann – durchaus gut möglich, dass er in dem Falle die Wahrheit sagt. Der 48jährige Laurent Lopez ist seit nunmehr dreißig Jahren beim Front National aktiv; war es also auch zu Zeiten, lange bevor Marine Le Pen eine „Entdiabolisierung“ der Partei einleiten wollte. Und zu Zeiten, in denen ihr Vater JMLP antisemitische Kalauer wie den berüchtigten Spruch ,Durafour-crématoire’ von 1988 (Durafour war der Name eines jüdischstämmigen Ministers, und four-crématoire bedeutet „Verbrennungsofen“) absonderte. Und Geschmeidigkeit im örtlichen Auftreten als Lokalpolitiker schließt nicht unbedingt Hardliner-„Überzeugungen“ im eigenen Kopf aus. Im Jahr 1995 wurde der ebenfalls langjährige FN-Aktivist Daniel Simonpieri, Parteimitglied seit 1974, zum Bürgermeister der Marseiller Trabantenstadt Marignane gewählt. 2001 wählte die örtliche Bevölkerung ihn wieder, in den darauffolgenden Jahren kehrte er dann allerdings der in der Krise steckenden extremen Rechten den Rücken und näherte sich an die UMP an. Als Simonpieri 1995 frisch gewählt worden war, erzählten frühere Handballkollegen des Herrn, er habe in jungen Jahren einen Hakenkreuz-Anhänger um den Hals getragen. (Die Behauptung ist nicht gerichtsfest bewiesen, war allerdings in einer größeren Zeitung nachzulesen, die deswegen nie angeklagt oder gar verurteilt wurde8.)

Kommende Kommunalwahlen

Die Wahl von Brignoles könnte nicht isoliert bleiben. Denn in naher Zukunft werden, genauer am 23. und 30. März 2014, in ganz Frankreich die Rathausregierungen neu gewählt. Dafür steht der Front National vielerorts bereits in den Startlöchern: 700 Spitzenkandidaten und –kandidatinnen hat die rechtsextreme Partei bereits aufgestellt. Sie will in den meisten großen und mittleren Städten gegen die anderen Parteien antreten, während in den kleinen und sehr kleinen Kommunen oft nur parteifreie „Listen für das kommunale Gemeininteressen“ antreten, so dass für eigene Listen wenig Raum bleibt. Am 03. Oktober 13 wurde Christophe Borgel, der für die Vorbereitung der Wahlen zuständige Parteisekretär bei den Sozialdemokraten, in der konservativen Tageszeitung Le Figaro mit den Worten zitiert, eventuell könne der FN sein Ergebnis bei der Präsidentschaftswahl 2012 (frankreichweit im Durchschnitt 17,9 %) im jetzigen Klima vielerorts noch um „zehn bis fünfzehn Prozentpunkte“ übertreffen.

Die rechtsextreme Partei ihrerseits bemüht sich vielerorts um ein eher untypisches, auf den ersten Blick überraschendes Auftreten. Dazu passt im Übrigen, dass Marine Le Pen am 02. Oktober 13 an die Öffentlichkeit ging und behauptete, ihre Partei sei „nicht rechts“ und wende sich „erst recht gegen die Bezeichnung ,rechtsextrem‘“ – es handele sich dabei nur um eine Suggestivformulierung von Journalisten, um ihre Partei „in denselben Topf mit (Andres Behring) Breivik und ,Goldene Morgenröte‘ (in Griechenland)“ zu stecken. Im selben Atemzug drohte sie mit Strafverfolgungen gegen alle, die diese Formulierung in Zukunft noch benutzen sollten. Gar so neu ist dieses Vorgehen allerdings nicht: Ihr Vater Jean-Marie Le Pen hatte im Jahr 1995 denselben Anspruch im Umgang der Presse mit seiner Partei erhoben. Daraufhin erstattete er Strafanzeige gegen die Tageszeitung Libération, die eine Gegendarstellung nicht abdrucken wollte, in der er jeden rechtsextremen Charakter seiner Partei dementieren wollte. Im Januar 1997 verlor er jedoch in zweiter Instanz. – Zurück in die Gegenwart: Am 07. Oktober dieses Jahres wurde dann bekannt, Marine Le Pen habe in dieser Sache eine erste, exemplarische Strafanzeige gegen das sozialliberale Wochenmagazin Le Nouvel Observateur erstattet. Noch am selben Abend dementierte die FN-Vorsitzende dies jedoch.

Unerwartete“ Profile

Mitunter hat der FN jetzt sehr junge Bewerberinnen und Bewerber aufgestellt, in Strasbourg kandidiert beispielsweise die 21jährige Julia Abraham auf dem zweiten Listenplatz. Ungewöhnlicher noch erscheint, bei oberflächlicher Betrachtung, das Profil anderer Kandidaten. In Saint-Martin-d’Hères – im Umland von Grenoble – etwa tritt als Spitzenkandidat für den Front National ein früheres Mitglied der Sozialistischen Partei an, Mungo Shematsi, ein Franzose togolesischer (also westafrikanischer) Abstammung. Mancherorts treten bekennende Homosexuelle, wie im elften Pariser Bezirk, oder Franzosen migrantischer Herkunft an, die sich vom offiziell auf „Öffnung“ abzielenden Diskurs von Marine Le Pen beeindrucken lassen. Dieser wendet sich zwar scharf gegen jede Zuwanderung, behauptet aber zugleich, die eingebürgerten „Landsleute mit ausländischen Wurzeln“ integrieren zu wollen, und wendet sich hauptsächlich gegen angeblich integrationsunwillige Muslime als Hauptgegner oder Hauptzielscheibe feindseliger Projektionen. Davon können sich auch manche Franzosen mit ausländischen Eltern angezogen fühlen, in der Hoffnung, dadurch ihre besonders gute „Integration“ unter Beweis zu stellen. Naiv oder nicht – es sind einige Bewerber mit eher unerwartetem Profil, die dadurch auf die Listen des FN kamen.

Die Parteiführung kalkuliert wohl, die harte Kernwählerschaft, die eher auf „Ausländer raus“ orientiert ist, werde ohnehin für den FN stimmen, da ihnen kein anderes Politikangebot näher stehen könnte – und nun müsse man die potenzielle Wählerklientel über diesen Sockel hinaus erweitern.

Aber mitunter blättert der Lack dann doch schnell ab, wie zuletzt die Affäre um die (Ex?-)Kandidatin Anne-Sophie Leclere belegt.

Die äffische (Ex-)Kandidatin

Der letzte Eintrag auf der persönlichen Facebook-Seite der Kandidatin stammt vom 17. Oktober 13. Es ist ein Hinweis auf eine TV-Sendung, die am Abend desselben Tages über die Bildschirme flimmern soll: In der Reihe Envoyé spécial des Fernsehsenders France 2 wird die Folge „Die neuen Gesichter des Front National“ ausgestrahlt. 17 Personen drückten die „Like“- Taste.

Danach folgt, bis zum Redaktionsschluss dieses Artikels (02. November d.J.), kein weiterer Eintrag, jedenfalls kein öffentlich einsehbarer. Die 33jährige dürfte sich, am Abend des fraglichen Tages, in ihrem Sessel vor dem Fernseher nicht allzu wohl gefühlt haben. Denn im Laufe der Minuten wurde in der Sendung immer deutlicher, dass sie sich politisch um Kopf und Kragen geredet hatte9. Prompt kam am folgenden Tag der Skandal ins Rollen, und die Führung ihrer Partei – des Front National (FN) – „suspendierte“ prompt ihre Kandidatur. Das bedeutet, dass ihre Bewerbung als Spitzenkandidatin des FN für das Rathaus von Rethel, im ostfranzösischen Ardennen-Département, „ausgesetzt“ wurde. Nun soll eine Sitzung des Disziplinarausschusses der Partei (ihrer ,Commission disciplinaire’) einberufen werden, um über die weiteren Folgen zu beraten. Es wird um ihre Bewerbung, und könnte eventuell auch um ihre Mitgliedschaft gehen.

Worum ging es? Eine Reporterin des Fernsehsenders hielt der Geschäftsinhaberin Anne-Sophie Leclere, die in Rethel einen Laden für Angelbedarf besitzt und dort auf dem Listenplatz Eins ihrer Partei zu den Kommunalwahlen kandidieren sollte, eine Abbildung vor. Das Bild stammt von ihrer Facebook-Seite, wo eine befreundete Person es eingestellt hatte – und die Kandidatin, offenkundig köstlich amüsiert, es mehrere Tage lang stehen ließ, bevor sie es doch noch löschte. Es zeigt eine Fotomontage: In der linken Bildhälfte sieht man ein Affenbaby (mit Kleidchen und Schleifchen im Haar ausgestattet), in der rechten das Portrait der amtierenden Justizministerin Christiane Taubira. Unter den beiden Fotos steht links: „Im Alter von 18 Monaten“; und rechts steht: „Heute“. - Taubira ist schwarz, Karibikfranzösin, kommt aus dem „Überseegebiet“ Französisch-Guyana und wurde eine breiteren Öffentlichkeit erstmals 2001 durch den nach ihr benannten Gesetzesvorschlag – der angenommen wurde, und den Sklavenhandel symbolisch als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ anerkennt – bekannt. In den Augen der extremen Rechten ist sie eine Hassfigur, u.a. aufgrund ihrer Rolle bei der Verabschiedung des Gesetzes zur historischen Verurteilung der Sklaverei, wegen ihrer (von rechts als „zu lasch“ gebrandmarkten) Justizpolitik, und wegen ihrer Rolle bei der Verabschiedung des Gesetzes zur Homosexuellenehe10.

In der gut eine Minute dauernden Bild- und Ton-Aufnahme, die in der Sendung ausgestrahlt wurde11, versucht Leclere sich zunächst aus der Affäre zu ziehen. Nein nein, nicht doch, mit Rassismus habe dies gar nichts zu tun - nein nein, „ein Affe ist ein Tier und ein Schwarzer ist ein Mensch“, versichert sie mit treuem Augenaufschlag. Und das Foto habe sie „nicht in Bezug auf Rassismus, auf Schwarze oder Graue oder was immer“ eingestellt (der Begriff „Graue“ ist ein altes rassistisches Schimpfwort für Araber, ungefähr wie der Begriff „Kanacken“ im Deutschen). Und sie holt zur Erklärung aus: Nein nein, nicht etwa aus Rassismus habe sie das Foto auf ihrer Facebook-Seite stehen lassen. Sondern um zu zeigen, dass Taubira „eine Wilde“ sei. Am Schluss versichert sie, diese „Wilde“ sähe sie „lieber in einem Baum an den Ästen hängen als in der Regierung (sitzen)“12. Statt zu dementieren, hatte sie also die ganze Palette rassistischer Standardformulierungen aufgeboten.

Während Alt-Parteichef und „Ehrenpräsident“ Jean-Marie Le Pen im Namen des FN versicherte, die Auslassungen Lecleres zeugten „sicherlich von schlechtem Geschmack“, aber seien doch „eine Bagatelle“, ergriff die Parteispitze rapide Maßnahmen, um den drohenden Imageschaden abzuwenden. Generalsekretär Steeve Briois verkündete in einer Presseaussendung noch am 18. Oktober 13, dass die Kandidatur Lecleres „suspendiert“ sei. Die Dame hatte sich allerdings auch zuvor, vor Ausbruch des Skandals, schon mehrfach auffällig bei Facebook ausgetobt. In Beiträgen, die auf ihrer Seite veröffentlicht wurden, wurde etwa gegen Pläne (finsterer „Lobbygruppen“) für einen systematischen „Bevölkerungsaustausch“ - durch gezielte Förderung von Einwanderung – gewettert. Oder es wurde in warnender Absicht behauptet: „93 Prozent der Ausländer stimmten für François Hollande!“ Dies war zwar leicht unlogisch, um nicht zu sagen: bezeichnend für ihre Intelligenz, denn natürlich haben Ausländer bei der französischen Präsidentschaftswahl kein Stimmrecht. Im Hinterkopf hatte die Seitenbesitzerin wohl eine Umfrage zur Präsidentschaftswahl von 2012, wonach in der Stichwahl 93 % der Muslime MIT französischer Staatsbürgerschaft (infolge moslemfeindlicher Kampagnen der regierenden Rechten) gegen Nicolas Sarkozy und also für Hollande votiert hatten. Die Assoziierung „Moslems – Ausländer“ war jedoch nur zu typisch...

Christiane Taubira reagierte übrigens auf die Affäre, indem sie am Samstag, den 19. Oktober 13 folgende öffentliche Erklärung abgab: „Diese Person (Anm.: d.h. die Kandidatin Anne-Sophie Leclere) kennt das tödliche und mörderische Denken dieser Partei, wie wir alle. Diese Funktionärin weiß darüber Bescheid. Nur hatte sie nicht verstanden, dass ihre Führung gesagt hatte, dass man sich besser verstellen soll. (…) Der Inhalt dieses tödlichen und mörderischen Denkens lautet: Die Schwarzen gehören auf die Bäume, die Araber ins Meer geworfen, die Homosexuellen in die Seine, und die Juden in den Ofen.“13 Die rechtsextreme Partei kündigte daraufhin ihrerseits an, Strafanzeige gegen Taubira zu stellen (wegen „Verleumdung“), was inzwischen auch erfolgt ist14. Seinerseits hat ein Verein von Schwarzen aus der Ardennen-Region eine Strafanzeige gegen die vormalige FN-Kandidatin aus Rethel erstattet15; und andere antirassistische Organisationen wie der MRAP haben angekündigt, selbiges zu tun.

Notbremsung

Es ist nicht das erste Mal, dass die Parteiführung die Notbremse zieht, um ihre Bemühungen um die durch Marine Le Pen ausgerufene „Entdämonisierung“ (dédiabolisation) nicht quasi im Handstreich zunichte machen zu lassen. Schon in den frühen 1970er Jahre hatte es dies in der Partei, damals frisch gegründet, gegeben; ein Parteifunktionär wurde damals etwa in einem internen Dokument wegen „Nazi-Neigungen - im schlechten Sinne -, da nur an Gewalt ohne echte politische Ziele interessiert“ (sic) gerügt und zurückgestellt. Dieses Bemühen um Eindämmung von unkontrollierten und die Reputation schädigenden Regungen prägte auch die Aktivität der Parteispitze in jüngerer Zeit.

Am 03. September 2013 nun forderte Generalsekretär Steeve Briois in einem Rundschreiben an alle Bezirkssekretäre des FN dieselben auf, „unverzüglich den Inhalt von Facebook-Seiten, von Twitter-Konten und Blogs der Kandidaten Ihres Bezirksverbands zu kontrollieren oder von einer Person Ihres Vertrauens kontrollieren zu lassen.“16 Offenkundig schwante ihm Übles. Das Absuchen aller öffentlich zugänglichen Quellen sollte verhindern helfen, was dem FN damals soeben widerfuhr: Bereits zu dem Zeitpunkt musste ein Kandidat wegen allzu auffälliger Inhalte bei Facebook „suspendiert“ werden. François Chatelain, Bewerber zu den Kommunalwahlen im Raum Lille, hatte Ende August d.J. dort die Abbildung einer brennenden Israelfahne publiziert, und in verschiedenen Beiträgen eine angebliche jüdische Dominanz in französischer Politik und Medien angeprangert17. Darauf machte am 03. September ein Kandidat der konservativen UMP Marine Le Pen aufmerksam. Am 04. September 13 wurde Chatelains Kandidatur daraufhin „suspendiert“.

Pauker für Le Pen

Derzeit vermag der FN es trotz alledem, derzeit eine erhebliche Anziehungskraft auf ihm bis dahin fernstehende gesellschaftliche Gruppen zu entwickeln. Unterdessen ergab eine Umfrage für den Sender BFM TV am 17. Oktober 13, Marine Le Pen werde durch die Befragten als „beste Opponentin (Herausforderin) gegen François Hollande“ betrachtet. 46 Prozent der befragten 957 Französinnen und Franzosen nennen dabei die FN-Chefin als glaubwürdigste Oppositionspolitikerin. In weitem Abstand dahinter folgen ihr die beiden Konservativen François Fillon und Jean-François Copé mit 18 % respektive 13 %, sowie der Linkspolitiker Mélenchon mit ebenfalls 13 %18.

Zu den Gruppen, die man beim Front National bislang eher nicht erwarten würde, zählen auch die Lehrerinnen und Lehrer. Bis vor kurzem schien die rechtsextreme Partei unter ihnen kaum oder gar nicht vertreten zu sein, auch wenn in den letzten drei bis vier Jahren eine rechte Internetpublikation unter dem Namen Riposte Laïque (ungefähr: „Die Laizisten schlagen zurück“) unter den Lehrkräften mancherorts einen gewissen Einfluss zu gewinnen begann. Diese ursprünglich von ehemaligen Linken und Möchte-Gern-Jakobinern gegründete Publikation agitiert und hetzt unter dem Deckmäntelchen der Religionskritik ausschließlich gegen Muslime. Anfänglich erhob sie einen „überparteilichen“ Anspruch, doch seit 2010 unterstützt die Publikation offen Marine Le Pen. Im laufenden Jahr radikalisierte sie sich noch weiter und rief, nach dem gewaltsamen Tod des jungen Antifaschisten Clément Méric im Juni 13 sowie abermals am 14. September 13, zusammen mit Anhängern gewalttätiger Gruppierungen wie der inzwischen verbotenen Vereinigung Troisième Voie zu Anti-Antifa-Demonstrationen auf.

Die Lehrerschaft wahrt seit der Zeit, als Jean-Marie Le Pen – der Vater der jetzigen Vorsitzenden – den FN anführte, erhebliche Distanz zu der rechtsextremen Partei. Unter dem alten Vorsitzenden forderte der FN etwa eine Förderung katholischer Privatschulen, ja faktisch ihre Bevorzugung gegenüber dem kostenlosen öffentlichen Bildungswesen - im Namen der „freien Schulwahl“ sollte die Förderung durch die öffentliche Hand auch dem zahlungspflichtigen konfessionellen Schul(un)wesen zugute kommen. Denn die Eltern sollten über einen aus Steuermitteln finanzierten „Bildungsscheck“ verfügen, den auch die Privatschulen einkassieren könnten. Dies kam beim Lehrkörper im öffentlichen Schulwesen, gelinde ausgedrückt, nicht gut an. Doch unter Marine Le Pen hat der FN einen Positionswechsel vollzogen: Während er auch auf wirtschaftspolitischem Gebiet seit einigen Jahren eher protektionistische und etatistische Positionen stark macht – allerdings gleichzeitig vor allem kleinere und mittlere Privatunternehmen verherrlicht -, übertrug er diese Wende weg vom ungetrübten Wirtschaftsliberalismus auch auf seine Positionen zur Schulpolitik. Nunmehr gibt die extreme Rechte sich als Unterstützerin des öffentlichen Schulwesens. Allerdings will sie verstärkt vermeintliche Tugenden wie „Disziplin“, Ordnung, strenge Auswahl nach Noten darin verankert wissen und das collège unique – das als Gesamtschule funktionierende Mittelschulwesen – zugunsten getrennter Schulzweige wie in vielen deutschen Bundesländern abschaffen. Und natürlich soll das Programm etwa im Geschichtsunterricht im nationalen Sinne umgekrempelt werden. Auf Sportunterricht soll Wert gelegt werden: mens sana in corpo sano.

Dadurch konnte die Partei nunmehr auch einige Lehrkräfte anwerben, die sich offen zum FN bekennen, was historisch neu ist. Am Samstag, den 12. Oktober 13 gründete sich in Paris, in Anwesenheit von Parteichefin Marine Le Pen – eine Gegendemonstration wurde verboten -, das „Kollektiv Racine“. Es beansprucht, etwa 90 Mitglieder aus der Lehrerschaft zu haben. Sein Name ist doppeldeutig: Einerseits bezieht er sich auf den französischen klassischen Autor aus dem 17. Jahrhundert, Jean Racine (im deutschen und englischen Sprachraum liest man fälschlich auch „Jean-Baptiste Racine“, aber so hieß sein früh verstorbener Sohn). Andererseits bedeutet la racine übersetzt „die Wurzel“, bezeichnet also einen der extremen Rechten in Bezug auf Nation und Kultur hochheiligen Wert.

Die Köpfe der neuen Vereinigung, allen voran die Schuldirektorin Valérie Laupis, unterstützen oft vor zehn Jahren noch den nationalistischen und als „EU-Kritiker“ profilierten Ex-Sozialdemokraten Jean-Pierre Chevènement, Innenminister in den Jahren 1997 bis 2000. Auch Chevènement, der in den achtziger Jahren auch Bildungsminister war, berief sich gern auf eine autoritäre Konzeption des Bildungswesens, in der Laizismus und säkularer „Bürgersinn“ mit dem Aufoktroyieren eines verbindlichen republikanischen Wertekanons einhergehen.

Anmerkungen

5 Vgl. dazu den Eintrag auf der Webseite von E&R, vom 14.11.2011: « Omar s’est ,tuer’ »

10 Da diese Leute noch immer keine Ruhe geben (gut fünf Monate nach dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Homosexuellenehe am 18.05.2013), kam es auch unlängst zu hässlichen Szenen, in denen die amtierende Justizministerin explizit rassistisch beleidigt wurde. Am Freitag, den 25. Oktober 13 besuchte die Ministerin Taubira die westfranzösische Stadt Angers. Dabei wurden von Gegnern der „Homo-Ehe“ u.a. Parolen skandiert wie: „Taubira, Du riechst übel!“ Die ärgsten Sachen wurden von Kindern gerufen, „unter dem amüsierten Blick der Eltern“, wie die Lokalpresse berichtet. Und ein circa zwölfjähriges Mädchen rief laut aus: „Eine Banane für die guenon (für das Affenweibchen)!“ Natürlich stammen diese ,Ideen‘ nicht von den Kindern selbst, für die politische Persönlichkeiten noch nicht zur Alltagsbeschäftigung gehören, sondern die Alten stachelten sie dazu auf… Vgl. http://www.angersmag.info/Quand-les-opposants-au-mariage-pour-tous-depassent-les-bornes_a7994.html und http://www.lepoint.fr/societe/le-derapage-des-anti-mariage-gay-a-angers-26-10-2013-1748303_23.php oder http://www.lefigaro.fr/flash-actu/2013/10/27/97001-20131027FILWWW00042-racisme-taubira-a-nouveau-insultee.php - Ferner wurde in der Nacht vom Donnerstag zum Freitag, vom 24. auf den 25. Oktober 13 ein Parteisitz der französischen Sozialdemokratie in Lorient (Bretagne) mit Anti-Taubira-Parolen und Slogans gegen die Homosexuellenehe beschmiert. Darunter fanden sich Sprüche wie „Tod dem Parti Socialiste“, „Wir geben nicht auf, fette Taubira“ oder auch einfach schlicht: „für den FN“. Vgl. http://www.europe1.fr/Politique/Tags-anti-Taubira-sur-une-permanence-PS-1687825/

 

Editorische Hinweise

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