Wer durch Neuköllner Straßen streift, trifft an
fast jeder Ecke auf Beratungsstellen, die
Hilfe bei „Mietschulden“, „Problemen mit
dem Jobcenter“ sowie „Wohnungsverlust“
anbieten. Einige solcher Aushänge sind in dieser
Ausgabe der Randnotizen abgebildet.
Beratungshochburg Neukölln
Die auffällige Dichte solcher
Beratungsstellen kommt in Neukölln
nicht von ungefähr. Der Bezirk hat in ganz
Berlin die mit Abstand meisten der insgesamt 11.046
Wohnungslosen: Zum Jahresende 2013 waren in Neukölln
2047 Menschen wohnungslos. Gleichzeitig ist das
Berliner Jobcenter das größte der Stadt mit den
meisten „Kundinnen und Kunden“ und
gilt nicht umsonst als das
repressivste: Seit 2007 weist das Jobcenter Neukölln jedes
Jahr mit ca. 85% die höchste Ablehnungsquote bei
Anträgen auf Mietschuldenübernahme
auf. Wessen Antrag
abgelehnt wird, der wird entweder
zwangsgeräumt oder verlässt vorher
„freiwillig“ die Wohnung, um die hohen
Kosten für die Zwangsvollstreckung nicht auch noch
zahlen zu müssen.
Auf der anderen Seite des staatlichen
Hilfesystems tauchen die Menschen
dann wieder auf: Neukölln ist der
Bezirk, in dem am meisten Geld
ausgegeben wird für freie Träger der
Wohnungsnotfallhilfe. 30% aller
Hilfeleistungen zur „Überwindung
besonderer Lebensverhältnisse und
sozialer Schwierigkeiten“ nach §67 SGB XII Berlins
wurden im Jahr 2013 in Neukölln gezahlt. |
Der Artikel
wurde dieser Ausgabe der RandNotizen entnommen
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Insgesamt 26 freie
Träger operieren auf dem Gebiet; sie erhalten einen
Satz von knapp 25 Euro pro betreuter Person und Termin
vom Bezirk, um Menschen zu helfen, die von Zwangsräumung
und Wohnungslosigkeit bedroht sind oder keine
Wohnung finden aufgrund „sozialer Schwierigkeiten“
und die ihren Lebensunterhalt nicht selbst bestreiten
können.
Keine Wohnungen, hilfl ose Träger
Dabei kommt es
nicht selten vor, dass Mitarbeiter*innen
dieser Träger eine Provision für jede Person erhalten, die
sie „aquirieren“ und so viele Klient*innen gleichzeitig
betreuen, dass sie keine Zeit für persönliche Termine
haben. Auf individuelle Ausgangslagen der
Betreuten kann bei dem hohen
Arbeitspensum der Sozialarbeiter*innen
oft mals nicht eingegangen werden: Wohnungsangebote
werden standardmäßig an alle Klient*innen übermittelt,
egal ob diese wegen ihrer vermeintlichen Herkunft in
bestimmten Berliner Stadtteilen nicht
sicher wohnen oder aufgrund ihres
Gesundheitszustandes weite Fahrwege zu
Besichtigungsterminen gar nicht auf sich nehmen können.
Einige der Beratungsstellen verlangen darüber hinaus
von ihren Klient*innen eine Pauschale von bspw.
10 Euro als Voraussetzung für jede
Unterstützungsstätigkeit. Obwohl es
selbstverständlich auch bemühte
Mitarbeiter*innen bei Trägern gibt, stellt sich angesichts
der Lage auf dem Neuköllner Wohnungsmarkt die Frage,
was die freien Träger überhaupt für die Leute tun können:
Eine Wohnung mit Hartz IV, Schufa-Eintrag und/oder
aktuellen Mietschulden im Kiez zu fi nden, ist nahezu
unmöglich. Da hilft es auch nicht viel,
wenn ein eloquenter Sozialarbeiter von
der „Bürgerhilfe“, „AWO“ oder „Casa
Nostra“ persönlich bei der Vermieterin anruft .
Bleibt nur das „geschützte Marktsegment“, in dem
die landeseigenen
Wohnungsbaugesellschaften Wohnungen für
Menschen, die sich selbst nur schwer mit Wohnraum
versorgen können, vorhalten. Wartezeit für eine solche
Wohnung in Neukölln aktuell: 1-2 Jahre. Gesamtzahl
der Wohnungen: 1376. Vertragsabschlüsse im Jahr 2013:
1114. Zudem sind die Wohnungen über die gesamte
Stadt verteilt (Hauptschwerpunkte liegen in Lichtenberg
und Marzahn-Hellersdorf) und Marktsegmentberechtigte
haben kein Recht, den Stadtteil, in dem sie wohnen
möchten, zu wählen.
Wenn keine Marktsegmentwohnung gefunden werden
konnte, bleibt auch für die freien Träger nach dem
Wohnungsverlust nicht viel mehr, als
einen Hostelplatz für maximal 25 Euro pro
Person und Nacht zu suchen, weil die
Wohnheime mal wieder voll sind.
Wer hilft eigentlich wem? Staatlich organisierte
Verdrängung und staatlich geförderte Hilfe
Eine völlig fehlgeschlagene Wohnungspolitik, das
repressive und sozialchauvinistische
Handeln des Jobcenters, fehlender
Wohnraum sowie eine auf Mittelschichtsklientel
ausgerichtete Geschäft spolitik bei den städtischen
Wohnungsbaugesellschaft en – der Staat produziert nicht
nur in Neukölln aktiv Wohnungslosigkeit und soziale
Notlagen. Er bietet gleichzeitig kaum Unterstützung
für Menschen in diesen Notlagen an und verweist
stattdessen auf Beratungs- und
Betreuungsangebote freier Träger, die
ihrerseits angesichts der Lage auf dem (Neuköllner)
Wohnungsmarkt weitgehend hilfl os sind. Im
schlechtesten Fall geht es den Trägern nur um den vom
Bezirk gezahlten Betreuungssatz.
Weder auf den Staat noch auf Träger kann
vertraut werden, wenn es darum geht, eine
Lösung für Probleme wie „Räumungsklagen“,
„Wohnungslosigkeit“ und „Schwierigkeiten
mit Ämtern“ zu fi nden. Stattdessen geht es
darum, solidarische Strukturen aufzubauen, sodass wir
selbst in der Lage sind, uns und anderen zu helfen und
gleichzeitig die Ursachen von Armut und Ausgrenzung
zu bekämpfen.
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