Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Soziale Bewegungen
Protest gegen unnötige Großprojekte: Ein Toter durch polizeilichen Granateneinsatz. Unterdessen wurde der Weiterbau an dem umstrittenen Projekt am Freitag, 31. Oktober ausgesetzt

 

11-2014

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Am vergangenen Wochenende, in der Nacht vom 25. zum 26. Oktober 14, starb erstmals seit langem1 ein Demonstrant in Frankreich, der an einem ökologisch motivierten Protest teilgenommen hatten. Zum ersten Mal seit 1977, als am 31. Juli jenes Jahres der Anti-Atomkraft-Demonstrant Vital Michalon durch eine „Offensivgranate“ der französischen Polizei getötet wurde (er hatte am Protest gegen den Bau des „Schnellen Brüters“ Superphénix in Creys-Malville teilgenommen, letzterer ist heute eingemottet). In der Nacht vom vergangenen Samstag zum Sonntag, um zwei Uhr früh, kam in Südwestfrankreich der 21jährige Toulouser Student Rémi Fraisse ums Leben. Zu Anfang der Woche waren die Umstände seines Todes noch weitgehend ungeklärt. Doch im Laufe des Dienstag, den 28. Oktober d.J. begann sich der Nebel allmählich zu lichten.

Auf der Liste der „unnötigen und dummen Großprojekte“, gegen die u.a. aufgrund befürchteter ökologischer Zerstörungen protestiert wird, steht in Frankreich das Flughafenprojekt von Notre-Dame-des-Landes (NDDL)2 bei Nantes seit zwei Jahren ganz oben. Seit einigen Monaten machte aber auch das Staudammprojekt im Wald von Sivens, im südwestfranzösischen Département Tarn (Bezirkshauptstadt: Albi) von sich reden. Dort soll, in der Nähe der Kleinstadt Lisle-Sur-Tarn und rund 30 Kilometer von Toulouse entfernt, der Flusslauf des Tescou – ein Zufluss des Tarn – aufgestaut werden, um Felder zu bewässern und deren Abhängigkeit vom Wasserstand des Tarn zu verringern.

Aufgrund seiner für lokale Verhältnisse überdimensionierten Ausmaße3 und der unverhältnismäßigen Kosten – circa 80 Millionen Euro für einen geplanten Aufstau von 1,5 Millionen Litern Wasser - schwoll der örtliche Protest an. Vor allem aber ruft die drohende Zerstörung des Feuchtgebiets von Le Testet, in dem über neunzig seltene und geschützte Arten (vor allem Pflanzenarten) leben, Zorn hervor. Kritiker/inne/n zufolge ist das Projekt schlicht unnötig, da die im Jahr 2001 zugrunde gelegten Zahlen nicht überarbeitet worden sind, heute jedoch als überholt gelten müssen. Ein Expertenbericht im Auftrag des französischen Umweltministeriums unter Ségolène Royal kam jedenfalls zu dem Ergebnis, das Staudammprojekt in der geplanten Form sei unnötig. Vgl. http://www.lefigaro.frDie Planung für das Projekt hatte im Jahr 1989 begonnen, doch heute beträgt der Gesamtumfang der landwirtschaftlichen Nutzfläche vor Ort rund ein Drittel weniger als damals. Allerdings wurde (,zum Ausgleich‘) seitdem die Wasserführung des Flüsschens Tescou, das aufgestaut werden soll, aufgrund des Klimawandels unregelmäßiger, so dass eine erhöhte Abhängigkeit vom Wasserstand besteht.

Hinzu kommt jedoch, dass laut Angaben von Kritiker/inne/n ohnehin nur eine geringe Zahl von Landwirten von einer Fertigstellung des Projekts profitieren würde. Nur die Felder weniger großer, intensive Landwirtschaft betreibender Bodenbesitzer würden stärker bewässert; nach dem Motto: Es gibt noch nicht genug Mais-Monokulturen, solche haben gerade noch gefehlt? Gut gut, es sei eingeräumt, in Wirklichkeit wird dort eher Raps und Sonnenblumenöl angebaut (Agrosprit?), aber jedenfalls in Monokulturen und für den alleinigen Nutzen relativ weniger Agrarbetriebe.

Seit Monaten steht ein Hüttendorf in dem umkämpften Feuchtgebiet, in der ZAD (für Zone à défendre, „zu verteidigende Zone“) von Le Testet, vgl. dazu https://www.facebook.com/SoutienTestet - An den Wochenenden kommt es dort immer wieder zu Demonstrationen auch mit Menschen von außerhalb, und seit einigen Monaten zunehmend zu Zusammenstößen mit den polizeilichen „Sicherheits“kräften, zumal die Entwaldung des Geländes begonnen hat.

So auch am vergangenen Wochenende, an dem die Auseinandersetzungen auf Video festgehalten wurden, vgl. http://www.liberation.fr

Um zwei Uhr früh in der Nacht zum Sonntag fanden Mitglieder der Einsatzkräfte an Ort und Stelle die Leiche des 21jährigen Studenten Rémi Fraisse. Zwei Tage lang blieb eine gewisse Unklarheit bestehen. Es wurde offiziell und inoffiziell spekuliert: Starb der junge Mann vielleicht an Herzversagen, oder gar an einem schlecht gezielten Molotow-Cocktail? Doch seit dem gestrigen Dienstag Nachmittag kann kein Zweifel mehr bestehen: Es wurde bekannt, dass Spuren von TNT auf dem Rücken des Getötet gefunden wurden. Dieser Explosivstoff ist in den so genannten „Offensivgranaten“ enthalten, die vor Ort durch die Gendarmerie (= Polizeieinheit, die dem Verteidigungsministerium untersteht) eingesetzt werden. Vgl. dazu etwa http://www.ladepeche.fr

Daraufhin gab das französische Innenministerium bekannt, dass die Benutzung dieser Offensivgranaten „suspendiert“, also vorläufig ausgesetzt wird; vgl. http://www.francetvinfo.fr Das klingt wie ein Eingeständnis, dass diese Geschosse, die durch ihr Explosionsgeräusch und durch die Druckwelle einen Schock hervorrufen sollen, verdammt gefährlich sind. - Auch die Bauarbeiten an dem Staudammprojekt wurden vorläufig eingefroren; allerdings nur bis zum Freitag, den 31. Oktober (was allerdings eine verstärkte Wiederbesetzung des Geländes zur Folge hatte). Vgl. http://tempsreel.nouvelobs.com

Baustopp

Am Mittwoch früh wurde zunächst bekannt, dass der sozialdemokratische Bezirkspräsident Thierry Carcenac ein Aufgeben des Projekts ausschließe, vgl. http://www.lemonde.fr - Auch die Bauern„gewerkschaft“ FNSEA, ein konservativer Lobbyverband, der sich noch stets für eine produktivistische, auf-Teufel-kaum-raus-und-egal-was-produzierende und sinnentleert profitorientierte Agrarwirtschaft in die Bresche geworfen hat, ist für einen Weiterbau. Er läuft gegen einen dauerhaften Baustopp mit dem Argument Sturm, sonst würde die Landschaft verschandelt. Ernsthaft: Weil die Abholzung (für das vom selben Verband befürwortete Projekt) bereits mehr oder minder weit fortgeschritten sei, drohe die Landschaft dann verschandelt zu bleiben, wenn nicht fertiggebaut werde. Also Weiterbau statt Aufforstung…

Am Freitag früh, den 31. Oktober 14 fand dann jedoch die Abstimmung im Bezirksparlament in Albi statt, während Gegner/innen des Projekts sich seit halb neun Uhr morgens zur Protestkundgebung vor dessen Türen versammelten. Gegen zehn Uhr wurde dann jedoch bekannt, dass Bezirkspräsident Carcenac einen einstweiligen Baustopp für das Projekt verkündete: Dieses könne in der aktuellen Situation nicht weitergebaut werden, wie er „zur Kenntnis nehmen“ müsse – de facto also deswegen, weil dies politisch nicht länger durchsetzbar ist4. Der Bezirkspräsident schob die Verantwortung an den (Zentral-)Staat weiter, welcher nun eine endgültige politische Entscheidung zu treffen habe.

Zuvor war es derselbe Thierry Carcenac gewesen, der durch einen Ausspruch in Reaktion auf den Tod des 21jährigen Demonstranten noch heftig Öl ins Feuer des Protests gegossen hatte: „Es ist ziemlich dumm, für eine Idee zu sterben.“

Proteste

In Städten der Region wie Albi und Gaillac, aber auch in Nantes (Hochburg des Protests gegen das oben erwähnte Flughafenprojekt von NDDL) kam es daraufhin seit Wochenanfang zu, zum Teil militanten, Protesten. Ebenso am Mittwoch Abend in Paris, wo es zu rund 180 Festnahmen und 33 In-Gewahrsam-Nahmen kam5, oder am Donnerstag Abend in Rennes6, wo ebenfalls Festnahmen stattfanden. Solche betrafen in der französischen Hauptstadt Angehörige der autonomen Szene (im weiteren Sinne), aber, um eine Formulierung der Tageszeitung Libération vom Freitag früh im Interview mit Rechtsanwalt William Bourdon aufzugreifen, auch „einfache Bürger, die gekommen waren, um Rémi Fraisse zu ehren“.

Grünenpolitiker/innen wie Cécile Duflot – frühere Wohnungsbauministerin von 2012 bis April 2014 –, Noël Mamère (Präsidentschaftskandidat 2002) und José Bové (Abgeordneter im Europaparlament) erheben laute Vorwürfe, und Cécile Duflot forderte eine parlamentarische Untersuchungskommission zu den Hintergründen des Todesfalls. Die Grünen respektive ihre Bündnispartei Europe Ecologie-Les Verts (EE-LV) sprachen von einer „Staatsaffäre“, Cécile Duflot von einem „unauslöschlichen Flecken auf der Politik dieser Regierung“; und Noël Mamère erklärte sich „verwundert darüber, dass der Innenminister noch nicht zurückgetreten ist.“

Von gewerkschaftlicher Seite hier eine Stellungnahme vom Bezirksverband der Union syndicale Solidaires (Zusammenschluss linker Basisgewerkschaften): http://danactu-resistance.over-blog.com

Zum Stand der Untersuchung

Von dem Opfer, dem 21jährigen Rémi Fraisse, ist auch drei Tage nach seinem Tod bislang nur wenig bekannt. Bis zur Stunde wurde nur publik, dass er über einen berufsbildenden Abschluss in Natur- und Landschaftsschutz verfügte und in Toulouse im Studienfach Botanik eingeschrieben war. Neben seinem Studium war er bei der eher braven Umweltschutzvereinigung France Nature Environnement (FNE) aktiv, nahm jedoch nur unregelmäßig an Terminen teil.

Zu seinem Todeszeitpunkt trug er, ausweislich der Untersuchungsergebnisse, weder einen Helm noch Schutzhandschuhe. Im Unterschied zu den jungen Autonomen, die ebenfalls vor Ort waren, blieb er ebenso unbewaffnet wie ungeschützt. Es war seine erste Teilnahme an einer Demonstration, und vielleicht ist es seiner Unzufriedenheit zuzuschreiben, dass der ausgesprochen friedliche und friedfertige Demonstrant sich dort aufhielt, wo sich auch härtere Auseinandersetzungen abspielten. Die Autopsie hat ergeben, dass Rémi Fraisse im oberen Rückenbereich durch die tödliche Granate getroffen wurde, welche ihm die obere Rückenhälfte abriss; er starb dadurch auf der Stelle. Die weitere Untersuchung wird erweisen müssen, ob dies auch bedeutet, dass er den Einsatzkräften zu seinem Todeszeitpunkt den Rücken zuwandte – was den kriminellen Charakter ihres Vorgehens noch erhöhen würde -, oder aber ob die Granate über seinen Kopf hinwegflog und ihn daraufhin im Rücken erreichte.

Der für den Granatenabschuss verantwortliche Beamte wurde bislang nicht vom Dienst suspendiert, und Innenminister Cazeneuve wollte dies ausgeschlossen wissen, weil ihm keine Verfehlung nachgewiesen sei. Unterdessen brüstet sich die politische Rechte; Nicolas Sarkozy wies dezent darauf hin, unter seiner Präsidentschaft (2007 bis 12) habe es keinen Toten im Zusammenhang mit Demonstrationen gegeben. Und sein Parteikollege, Ex-Minister und derzeitiger Mitbewerber um den Parteivorsitz der konservativ-wirtschaftsliberalen UMP, Bruno Le Maire, wurde am Mittwoch in Libération mit den empörten Worten zitiert: Was wäre nur los, wenn dies unter einer Rechtsregierung passiert wäre…?

Fußnoten

1 Im Dezember 1986 wurde in Paris de junge Demonstrant Malik Oussekine am Rande eines studentischen Protests durch motorisierte Polizeieinheiten buchstäblich totgeschlagen. Seitdem wurde kein Todesfall durch polizeiliche Gewaltwirkung innerhalb einer Demonstration mehr bekannt.

2 Das dortige Bauprojekt ruht im Augenblick, im Warten darauf, dass über umweltrechtliche Klagen entschieden sein wird. Ein gerichtliches Urteil dazu wurde ursprünglich für Oktober 14 erwartet, es wird jedoch erst zu Anfang des Jahres 2015 bekannt werden, vgl. http://www.ouest-france.fr

3 Insgesamt ist das Projekt nicht riesige, die gesamte vom Bau betroffene Fläche (unter Einschluss der künftigen Wasserfläche des Stausees) ist circa zwei Kilometer lang. Die Stauseefläche würde jedoch einen Großteil des schützenswerten Feuchtgebiets unter sich verschlingen.

 

Editorische Hinweise

Den Artikel bekamen wir vom Autor für diese Ausgabe.