TREND dokumentiert:
Offener Brief an Markus Tervooren, Geschäftsführer der Berliner VVN

von
Antonín Dick, Mitglied der Berliner VVN

11-2014

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Offener Brief

Antonín Dick Berlin – Steglitz
Mitglied der Berliner Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes

Herrn
Markus Tervooren
Geschäftsführer
BERLINER VEREINIGUNG DER VERFOLGTEN DES NAZIREGIMES (VVN)

Franz-Mehring-Platz 1
10243 Berlin

9. November 2014

Sehr geehrter Herr Tervooren,

heute, am 9. November 2014, gedenken wir Juden in aller Welt der Opfer der von den Deutschen durchgeführten grausamen Pogrome gegen Juden am 9. November 1938 im Deutschen Reich. Meine Familie wurde zerstört, ermordet und in alle Himmelsrichtungen verstreut. Als Kind des Holocaust, als Kind des Widerstands und als Kind des Exils bin ich Mitglied der Berliner Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN). Noch im Verfolgungszeitraum zwischen 1933 und 1945 habe ich im englischen Exil, wohin meine deutsch-jüdischen Eltern vor den Nazideutschen geflohen sind, das Licht der Welt erblicken dürfen.

Kürzlich ist seitens der Geschäftsführung und des Vorstandes der VVN die Krise der Berliner Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes vermeldet worden. Alle Mitglieder der Berliner VVN sind aufgerufen, ihre Vorschläge zur Überwindung der Krise zu unterbreiten, um sie überwinden zu können. Ich habe mich mit Schreiben vom 12. Oktober 2014 aktiv mit Vorschlägen daran beteiligt, wie Sie wissen, beispielsweise mit dem Vorschlag, die Kooperation mit dem Beauftragten für die Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus der Jüdischen Gemeinde zu Berlin zu suchen. Ich hege allerdings erhebliche Zweifel am Gelingen dieses anspruchsvollen Vorhabens. Hartnäckig weigern Sie sich, die dunklen Seiten der Geschichte der VVN aufzudecken und schonungslos in der demokratischen Öffentlichkeit, die dies erwartet, offenzulegen. Nur so aber geht Zukunft. Nur so gewinnen Sie verloren gegangenes Vertrauen zurück. Nur so gewinnen Sie die Jugend. Und nur so gewinnen Sie Bündnispartner. Zu den von Ihnen verdrängten dunklen Seiten der VVN-Geschichte gehört beispielsweise der Massenexodus von Juden aus Ostberlin und Ostdeutschland nach der Spaltung der VVN und dem Beginn der antijüdischen Repressalien im gesamten Ostblock.

Dazu gehört übrigens auch die unfassbare Geschichte der Englandemigrantin und Schriftstellerin Anna Maria Jokl, die Ende der vierziger Jahre im vollen Vertrauen auf einen demokratischen und antinazistischen Neubeginn die Staatsbürgerschaft der DDR erwarb, um eine kreative Existenz in der DDR zu begründen. Ihr im Prager Exil geschriebenes Buch „Die Perlmutterfarbe“ 1), ein höchst lebendiges Prosawerk über einen Kampf zweier Klassen in einer Schule, das – jenseits aller blutleeren Hochscholastik deutscher Faschismusforschung der Gegenwart – zugleich eine exzellente mikrosoziologische Studie über die Entstehung des Nationalsozialismus liefert, wurde im deutschen Nachkrieg mit Genehmigung der Sowjetischen Militäradministration in Berlin verlegt. Das bedeutsame Romanwerk sollte von der DEFA verfilmt werden, die jüdische Exilautorin schrieb bereits fleißig an dem Drehbuch. Ein Jahr später wurde die Anti-Hitler-Emigrantin und engagierte Schriftstellerin ohne Angabe von Gründen aus der DDR ausgewiesen. Es hagelte Proteste seitens der Emigrantinnen und Emigranten gegen die SED. Der deutsch-jüdische Schriftsteller Arnold Zweig und seine Frau, beide ebenfalls Anti-Hitler-Emigranten, boten der bedrängten Mitstreiterin illegales Asyl in den Kellerräumen ihres Einfamilienhauses in Ostberlin an. Ging nicht. Sollte nicht gehen. Durfte nicht gehen. Aber warum nicht? Sie stand doch aktiv im Widerstand gegen Hitler? Sie hat sich doch aus diesen Gründen ganz bewusst für die DDR ..? „Tut nichts, der Jude wird verbrannt“, sagt der sozialistische, pardon, christliche Funktionär in Lessings Drama „Nathan der Weise“. Und dies dreimal in einer einzigen Szene. Begründung: „… gefährlich für den Staat.“ 2)


Anna Maria Jokl
(23. 1. 1911 in Wien; † 21. 10. 2001 in Jerusalem)

Verjagt aus gutem Grund.

Dreißig Jahre später erwischte mich, ein jüdisches Emigrantenkind, ein sehr ähnliches Schicksal. Als aktiver Teilnehmer der unabhängigen Friedensbewegung in der DDR hatte ich in meiner Eigenschaft als Theaterregisseur 1981/82 in Berlin eine Performance gegen das atomare Wettrüsten in Ost und West inszeniert, die nach fünf Aufführungen seitens der DDR-Behörden auf brutale Weise unterdrückt wurde. Wegen Pazifismus, Pluralismus und Glaubensnähe erhielt ich Berufsverbot und wurde schwerwiegenden Repressalien und Verfolgungen seitens des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR ausgesetzt. Das Ensemble der Schauspieler wurde zerschlagen. Als Sohn von Verfolgten des Naziregimes suchte ich Schutz für Leib und Leben bei dem damaligen Komitee der Antifaschistischen Widerstandskämpfer in der DDR, der Nachfolgeorganisation der aufgelösten VVN. Man ließ mich dort fallen wie eine heiße Kartoffel und verfolgte mich weiter. Ich holte mir daraufhin einen am seidenen Faden hängenden Schutz bei dem Rechtsanwalt Lothar de Maizière, bei der Aktion Sühnezeichen in der DDR sowie bei dem Pfarrer Martin Passauer, dessen Familie im Rahmen der Bekennenden Kirche aktiv gegen das Hitlerregime gekämpft hatte, dessen Vater in den Nazikerker geworfen wurde. Ich tauchte ab, studierte aus dem Untergrund heraus die mikrosozialen und mikroökonomischen Gesetzmäßigkeiten des nichtkommunistischen Kommunismus in der DDR, schrieb darüber illegale Gedichte, die nach der ersten Morgenröte der Freiheit veröffentlicht werden konnten. Fast so hellsichtig wie die ungeschriebenen Visionen meiner wunderbaren Eltern, die im tapferen Kampf gegen den Nationalsozialismus in den Untergrund gegangen waren, um dann vor den mörderischen Nazideutschen, die sie gezielt suchten, nach England zu fliehen, um buchstäblich ihr nacktes Leben zu retten.

Verjagt aus gutem Grund.

In Fortführung des politischen Weges meiner Eltern betätigte ich mich aktiv im Umweltbereich der im Entstehen begriffenen Bürgerrechtsbewegung der DDR sowie im Bereich des Aufbaus einer Zivilgesellschaft und gründete im Zuge der Vorbereitung meiner Emigration aus der DDR die oppositionelle „Arbeitsgruppe Staatsbürgerschaftsrecht der DDR“, die neben Emigrationshilfen für bedrängte und emigrationswillige DDR-Bürger vor allem auch diskriminierten Ausländern mit festem Wohnsitz in der DDR Beratung und Unterstützung bot. Es ging um die Begründung einer neuen, nichtstaatlichen Solidarität, es ging um Rettung von Menschen in verzweifelter Lage, denn emigrationswillige DDR-Bürger wurden von den Behörden der DDR grausam verfolgt. Das Vorhaben trug. Während die DDR als Staat und Gesellschaft spätestens seit Ende der siebziger Jahre immer mehr den Weg einer sozialfaschistischen Orientierung eingeschlagen hatte – mein Theaterprojekt von 1981, den Widerstandskampf der Widerstandsgruppe „Weiße Rose“ der Geschwister Scholl auf die Bühne zu bringen, entwickelt vor dem Hintergrund der Herausbildung neofaschistischer Jugendgruppen in der DDR, wurde von den Behörden verboten, dafür hetzten DDR-Sicherheitskräfte sechs Jahre später neofaschistische Gruppen auf linksalternative Besucher eines Konzertes in der Zions-Kirche, um nur zwei markante Beispiele für diese verhängnisvolle Entwicklung herauszugreifen – , ging es mir und anderen Andersdenkenden um den Versuch einer Neubegründung der Traditionen des Kampfes gegen den Neonazismus – ohne Staat, der im Innern bereits längst nach rechts abgedriftet war.

Verjagt aus gutem Grund.

Die Trümmer der einstürzenden Mauer von 1989 sind dann auf diesen Versuch gefallen und zerstörten ihn. Jetzt gibt es eine neue VVN – allerdings ohne authentischen und glaubwürdigen Bezug zu den Gründeridealen der VVN. Und den kann es auch nicht geben, solange über die Jahre zwischen 1949 und 1989 weiterhin hartnäckig geschwiegen wird. Das waren keine Flegel-, das waren blutige Jahre, die unbegreiflicherweise in Gedanken heute noch anhalten. Mit Schreiben vom 12. Oktober 2014 hatte ich Sie, sehr geehrter Herr Tervooren, auf Ihren eliminatorischen Impuls gegenüber Juden aufmerksam machen müssen, da Sie sich anschickten, einen Gründungsmythos der Berliner VVN zu etablieren – ohne Juden. Eine primitive Fälschung. Entgegen folgender Tastsache: Die Gründung der Berliner VVN im Jahre 1947 fand in den Räumen der Jüdischen Gemeinde zu Berlin statt, und der Stellvertreter des Vorsitzenden des Vorstandes der VVN war der Auschwitz-Überlebende Heinz Galinski. Das hatten Sie in alter, bewährter Parteitradition unterschlagen. Unter der erdrückenden Last meines Beweises sahen Sie sich gezwungen, auf Ihrer Homepage der VVN hastig projüdisch nachzubessern. Aber diese hastig durchgeführte kosmetische Maßnahme ersetzt nicht das ernste und aufrichtige Geschäft einer gründlichen Aufarbeitung der schmutzigen Geschichte der VVN in der DDR, sehr geehrter Herr Geschäftsführer.

Es gibt keinen aufrichtigen Neubeginn der VVN ohne aufrichtige Begegnung mit der Geschichte der VVN in der DDR. Damit meine ich vor allem das jahrelange Misstrauen der Mächtigen in der DDR gegenüber Juden, das bis zu reaktivierter Judenfeindschaft ausarten konnte, sowie die zu Schanden gerittene Idee der Freiheit in der DDR, die auf eine zügellose Eliminierung von Andersdenkenden hinauslief. Der deutsch-jüdische Widerstandskämpfer, Emigrant und Historiker Helmut Eschwege führte in seinen Erinnerungen “Fremd unter meinesgleichen. Erinnerungen eines Dresdner Juden“ dazu beispielsweise aus: „Das Internationale Auschwitz-Komitee wurde von der SED nicht anerkannt, deren Mitglieder galten als Dissidenten, Abweichler. Doch nicht alle kommunistischen Parteien waren so dogmatisch und verdammten alles, was nicht kritiklos die jeweiligen Dogmen des allein seligmachenden Marxismus-Leninismus vertrat.“ 3) Und von höchst aktueller Bedeutung ist Eschweges Tatsachenfeststellung aus dem Jahre 1975, dass die „Theorie der SED“ darauf hinauslief, dass „die Juden selbst schuld an ihrem Los seien, weil sie sich nicht der Kommunistischen Partei angeschlossen hatten …“ 4) Das war infam! Fast so infam wie die „Stürmer“-Lügen! Doch just diese die Juden verächtlich machende Theorie verbreitet heute die von Ihnen zu verantwortende Monatszeitschrift „Antifa“ in ihrer letzten Ausgabe. Da heißt es: „Das Schlimme ist, dass Israels Regierung mit ihrer Politik den Antisemitismus noch verstärkt. Die Bomben-Politik erleichtert es den Antisemiten, den Menschen zuzurufen: Seht, die Juden bringen Frauen und Kinder um.“ 5) Wie sich die braune Sprache doch gleicht! Dieselbe Infamie! Der Überlebende des Holocaust und Anti-Hitler-Emigrant Helmut Eschwege setzte sich nicht nur mit dieser parteiamtlichen Dauerverachtung von jüdischen Menschen in der DDR auseinander, sondern er schuf mit seinem autobiographischen Werk eine packende Darstellung der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, der wechselvollen Geschichte der VVN, des Antifaschismus und des Komitees der antifaschistischen Widerstandskämpfer in der DDR aus leidvoller Erfahrung eines Überlebenden der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft.

Und noch eines wäre Ihnen zu sagen, sehr geehrter Herr Tervooren, wenn ich schon von Ihnen zum Sagen aufgefordert worden bin. Ihr „Vergangenheitsentwurf Antifaschismus“, den Sie fälschlicherweise „Zukunftsentwurf Antifaschismus“ nennen, glänzt vor allem durch ein Charakteristikum: Germanozentrismus. Diese „nationale Borniertheit“ (Marx) steht eindeutig im Widerspruch zum Schwur der Internationale der Buchenwaldkämpfer und ist einer entschlossenen Kritik zu unterziehen. Nur so könnte auch eine tragfähige Zukunftsperspektive für die VVN entstehen, die über sektiererische Selbstbeweihräucherung hinausgeht.

Worin äußert sich Ihre nationale Borniertheit? Da werden zum einen die Westemigranten plump von Ihnen ausgegrenzt. Auch auf Ihrem Perspektivtreffen der Berliner VVN vom 12. April 2014 betrieben Sie, wie das Protokoll ausweist, die Ausgrenzung der Westemigranten. Diese Ausgrenzung der Westemigranten ist bereits seit 1947 die Generallinie der SED unter Führung von Walter Ulbricht. Woher das bekannt ist? Ein Geheimdokument der SED belegt dies. 6) In der Mehrzahl hervorragende und hochgebildete Kommunisten, tapfere Kämpfer gegen das Hitlerregime, die ihr nacktes Leben retteten, indem sie nach Großbritannien, dem einzigen freien, von den Nazideutschen noch nicht besetzten Land in Europa, flohen, wurden, wie man an dem ganzen Zuschnitt dieses Dokuments erkennen kann, auf dem Boden einer zukünftigen DDR als politisch Infizierte identifiziert! „Insgesamt ca. 40 000 Deutsche und Österreicher (ca. 95 % Juden)“ retteten sich in den Westen! Vorsicht, Westler! Achtung, Juden! Wir haben sie vorsorglich auf dem Papier selektiert! Parteimäßig! Nur 5 % Arier! Alarm! Unter ihnen KPD, gemischte Erstemigrierte zwischen 1933 und 1938, „eine kleine Gruppe – Intellektuelle – ca. 15 – Sympathisierende ca. 40.“ Um Himmelswillen, Intellektuelle! Hat Geld genommen von amerikanischen Hilfsorganisationen, dieser unkontrollierbare Haufe, um vor den Nazideutschen fliehen zu können! Es gibt nur Rettung Ost! Westgeld! Haben die noch Westgeld, diese Abweichler? „Finanz. Affaire noch nicht geklärt“ bei Jürgen Kuczynski. Auch noch „amerikanischer Offizier“ im Kampf gegen Hitler, dieser unsichere Kantonist! Schluss damit! Deutsch! Mauerbau! Deutschbolschewismus. Ulbricht ruft den Eingeschlossenen optimistisch zu: Intellektuelle nie mehr Emigrantenliteratur schreiben! Der neue Mensch! Er lacht! Wir tunken endlich ein die Ideale in die heiligen Farben der DDR! Es lebe die Sozialistische Menschengemeinschaft! Erste Vorboten einer nationalen Verengung der DDR-Gesellschaft, die sich dann ab Ende der siebziger Jahre immer mehr in Richtung eines sozialfaschistischen Systems entwickeln sollte. Die armen Emigranten! Sie traf öffentlich der fürchterlichste Vorwurf aller Vorwürfe der Partei: Kosmopolitismus! Wenn Sie jetzt, sehr geehrter Herr Tervooren, 67 Jahre nach Beginn dieser systematischen Ausgrenzung der Westemigration aus dem Bezugsrahmen der VVN immer noch die Geschäfte der Ausgrenzung der Westemigration betreiben, so treten sie die Ideale derjenigen, die ihr Leben gewagt und aktiv gegen Hitler gekämpft haben, in den Dreck. Ihr sogenannter „Zukunftsentwurf Antifaschismus“ glänzt außerdem dadurch, dass Sie heute verfolgten Juden demonstrativ keinen Schutz mehr bieten wollen, denn Sie eliminieren bewusst den Kampf gegen den Antisemitismus aus der rechtskräftigen Satzung der Berliner VVN, die ausdrücklich den Schutz der Juden garantiert. Eine Ohrfeige für alle jüdischen Verfolgten des Naziregimes und deren Angehörige. Es passt übrigens dazu, dass Sie das zweite Perspektivtreffen zur Erneuerung der VVN just am 25. Oktober 2014 haben stattfinden lassen – unter Ausschluss der jüdischen Mitglieder der VVN, denn dieser Tag war ein Feiertag der Juden, den diese gemeinsam mit allen Juden auf der Welt feierten: Sabbat.

Was hieß eigentlich Antifaschismus in der DDR? Welche Rolle spielte das Komitee der Antifaschistischen Widerstandskämpfer in der DDR? Was wurde aus den Idealen der Gründer der Berliner VVN in der DDR? Was aus dem gefährdeten Leben der naziverfolgten Juden? Wann hörte die Berliner VVN auf, eine selbstbestimmte Organisation der Opfer des der nationalsozialistischen Verfolgung zu sein? Worin liegen die Hauptlinien der inneren Widersprüchlichkeit der Geschichte des Antifaschismus in der DDR? Wie vor allem konnte es geschehen, dass sich die ursprünglichen antifaschistischen Ideale der Aufbaugeneration der DDR, die von selbstlosen Widerstandskämpfern gegen das Naziregime geleitet wurde, in der DDR nicht nur nicht verwirklicht wurden, sondern sich am Ende genau ins Gegenteil verkehrten? Wie konnte aus edlen antifaschistischen Anfängen am Ende ein widerlicher Sozialfaschismus werden, der auch noch in der parteiamtlichen Abschaffung des 8. Mai, des Tages der Befreiung, als gesetzlicher Feiertag seinen krönenden Abschluss fand? Was ist das für ein groteskes Gesetz der Geschichte? Fünfter Abschnitt Buchstabe B der „Phänomenologie des Geistes“ von Georg Wilhelm Friedrich Hegel? „Das Gesetz des Herzens und der Wahnsinn des Eigendünkels“? Vierzig Jahre DDR auf neun Seiten der „Phänomenologie des Geistes“ ? 7) Welche Himmel und Höllen hefteten sich da an die Schuhsohlen der sich im Kreise drehenden Westemigranten, die in der DDR kaum anders gehen konnten als im Kreis? Wie schlugen sie sich durch im undurchdringlichen Massiv der DDR-Gesellschaft in diesem selbstquälerischen Kreisgang? Und in welcher Beziehung stand dies alles – sehr wichtige Frage der französischen Antifaschisten! – zum massenhaften Verrat der Intellektuellen in der DDR?

Das alles sind Fragen, die der Antworten harren, und Sie, sehr geehrter Herr Tervooren, können ihnen ausweichen oder nicht ausweichen, je nachdem, was Sie wollen: ein sektiererisches „Weiter so“ oder einen echten Neubeginn der Berliner VVN im Interesse der Bürger Berlins und der europäischen Gemeinschaft.

Die von Ihnen selbst annoncierte Krise der Berliner VVN, sehr geehrter Herr Tervooren, ist nicht zuletzt eine Krise des Geschichts- und Menschenbildes der VVN. Ohne wahrhaftigen Rückblick kein wahrhaftiger Neubeginn. Die nicht aufgearbeitete, blutige, von Judenfeindschaft immer wieder durchzogene Geschichte der VVN der DDR hängt Ihnen wie ein schweres Bleigewicht an, das Sie unbeweglich macht. Und umso mehr Sie verdrängen, desto schwerer wird dieses Gewicht. Doch die heutige Auseinandersetzung mit dem Neonazismus steht vor völlig neuen Herausforderungen, denen Sie nicht gerecht werden können mit diesem nichtaufgearbeiteten Erbe der VVN-Geschichte. Geistig kraftlos geworden, stehen Sie vor diesen neuen Herausforderungen. Da waren 2011 die ersten Aufschreie der Angehörigen der vom Nationalsozialistischen Untergrund ermordeten, unschuldigen Menschen zu hören. Engagierte Menschen, vor allem türkische Frauen, organisierten im November 2011 auf dem Pariser Platz vor dem Brandenburger Tor in Berlin eine Mahnwache für die Opfer dieser rassistischen Morde – in der Mehrzahl aus der Türkei eingewanderte Bundesbürger bzw. Kinder von Einwanderern sind die Opfer. Die Berliner waren aufgerufen, auf einem Blatt Schreibpapier oder Zeichenkarton den Namen eines der Ermordeten festzuhalten, um diesen Namen dann hochhalten zu können während zweier Gedenkminuten – zusammen mit einer weißen Rose. Es waren ungefähr zweihundert Menschen gekommen, meist Emigranten und Emigrantenkinder: mit Namensschildern, mit weißen Rosen, mit Kerzen. Kaum Deutsche. Für mich als Emigrantenkind war es selbstverständlich, an dieser Mahnwache teilzunehmen, die Gefühle der Trauer, des Schmerzes und der Wut mit den anderen Teilnehmern der Mahnwache zu teilen. Sie, sehr geehrter Herr Tervooren, waren bezeichnenderweise nicht anwesend. Sie und die von Ihnen geleitete Berliner VVN haben diese bewegende Manifestation des solidarischen Mitfühlens mit den Familien der Ermordeten bewusst boykottiert. Eine unglaubliche Tat für den Geschäftsführer einer antinazistischen Verfolgtenorganisation! Und das an diesem symbolischen Ort! Am 30. Januar 1933 zogen die Nazis durch das Brandenburger Tor, um die „Machtübernahme“ Hitlers zu feiern! Sie und die VVN fehlten auf dieser antinazistischen Gegenveranstaltung, sehr geehrter Herr Tervooren. Und Sie und Ihr Vorstand fehlten auch bei dem prominent besetzten Podiumsgespräch zu den tieferen Ursachen der Nazi-Morde und dem Schweigen der deutschen Gesellschaft, das Anfang Juni 2013 in der Gedenkstätte „Topographie des Terrors“ durchgeführt wurde. 8) Diese schwerwiegenden Boykotte, erst gegen Juden und dann gegen Türken, stehen im diametralen Gegensatz zur Präambel der Satzung der Berliner VVN, denn dort heißt es klar und unmissverständlich: „Im Namen derer, in deren Tradition wir stehen, wollen wir mit allen Kräften dafür wirken, dass in Deutschland Humanismus, Toleranz und Gewaltlosigkeit, zum ersten Gebot des Miteinander aller Bürger zur gesellschaftlichen Norm werden.“ Wohlgemerkt „aller Bürger“, nicht nur der deutschen, sondern auch der jüdischen und türkischstämmigen, die Sie ausgrenzen. Und weiter: „Dem Faschismus, der auch heute noch Gehör findet, keinen Fußbreit Boden! Das ist auch die Grundlage für die Gestaltung gleichberechtigter, friedlicher und freundschaftlicher Beziehungen zwischen den Völkern.“ Das bleiben ungedeckte Proklamationen, sehr geehrter Herr Tervooren, solange Sie sich Persilscheine für Ausgrenzungen und Boykotte ausstellen. Sie und die Berliner VVN fehlten bezeichnenderweise auch auf der Manifestation des Schutzes für die jüdischen Bürger Deutschlands am 14. September 2014 an demselben historischen Ort – eine Manifestation, auf der über 15000 Menschen guten Willens teilgenommen hatten. Sie und die Berliner VVN fehlten nicht nur bei dieser machtvollen Manifestation für Humanismus, Toleranz und Gewaltlosigkeit, Sie hatten es sogar satzungswidrig fertiggebracht, auf der offiziellen Homepage der Berliner VVN diese republikweit angenommene Manifestation bewusst zu verschweigen und bewusst darauf zu verzichten, die Mitglieder der Berliner VVN zur Teilnahme an dieser machtvollen Manifestation aufzurufen.

Die tieferen Ursachen für Ihr Versagen, sehr geehrter Herr Tervooren, liegen aus meiner Sicht in dem bewussten Versuch zur nationalen Umwidmung des ursprünglich international konzipierten Auftrages der VVN. Ich spreche hier solche prinzipiellen Vorwürfe nicht aus, weil ich individuellen Zwecken folgen würde, sondern ich lebe, fühle und denke aus dem Erbe meiner engagierten Eltern heraus, die aktiv im internationalen Widerstand gegen den Nationalsozialismus standen. Meine Mutter ist Trägerin der hohen staatlichen Auszeichnung „Kämpfer gegen den Faschismus zwischen 1933 und 1945“. Sie haben mir und allen anderen Angehörigen der Zweiten Generation der Naziverfolgten einen Auftrag gegeben. Sie, sehr geehrter Herr Tervooren, haben diesen Auftrag nicht im Interesse irgendwelcher postsozialistischen Gruppen abzufälschen bzw. zu ignorieren. „Die Vereinigung ist ein überparteilicher und überkonfessioneller Zusammenschluss von Verfolgten des Naziregimes, Hinterbliebener, Widerstandskämpferinnen und Widerstandskämpfern, Antifaschistinnen und Antifaschisten“, heißt es in § 2 Abs. 1 der rechtskräftigen Satzung der VVN. Es ist Ihr Auftrag als Geschäftsführer dieser Verfolgtenorganisation, den gesellschaftlichen Auftrag meiner Eltern und der anderen Verfolgten des Nationalsozialismus zu Ihrem persönlichen Auftrag zu machen.

Der bedeutsame Gründungsimpuls der VVN, der Schwur von Buchenwald, auf den Sie sich positiv beziehen, wird bei Ihnen zunehmend nationalisiert bzw. nationalbolschewisiert. Dieser Schwur ist aber ein kein nationaler, sondern ein internationaler, sehr geehrter Herr Tervooren, wie der Text des Schwures klar und unmissverständlich beweist. Sie aber gehen selektiv und sogar auch abfälschend an diesen Text heran, unterschlagen bewusst den eindeutig internationalistischen Charakter des Textes, unterschlagen bewusst den Beitrag der Amerikaner, deren Streitkräfte auf das Konzentrationslager mutig vorrückten. Den Häftlingen von Buchenwald, die sich selber befreit hatten, war gerade dieser internationalistische Charakter wichtig, wie aus dem Schwur von Buchenwald klar ersichtlich ist, und nicht zuletzt an diesem Punkt zeigt sich die Aktualität, die Brücke zu den völlig neuen Herausforderungen der Auseinandersetzung mit einem neuen Nazismus, vor denen wir heute, wie ich Ihnen schon mehrfach auseinandersetzte, stehen. Der „Schwur von Buchenwald“ gibt deshalb überhaupt keinen Bezugsrahmen für irgendeinen Versuch zur nationalen Einigelung in der Auseinandersetzung mit heutigen Strömungen von Rechtsextremismus und Neofaschismus her, wie man an dem Text, dessen weltumspannenden Geist Sie in Ihrem „Zukunftsentwurf Antifaschismus“ völlig ausblenden, klar erkennen kann:

„Ansprache in französischer, russischer, polnischer, englischer und deutscher Sprache auf der Trauerkundgebung des Lagers Buchenwald am 19. April 1945

Kameraden!

Wir Buchenwalder Antifaschisten sind heute angetreten zu Ehren der in Buchenwald und seinen Aussenkommandos von der Nazibestie und ihrer Helfershelfer ermordeten

51 000 Gefangenen!

51 000 erschossen, gehenkt, zertrampelt, erschlagen, erstickt, ersäuft, verhungert, vergiftet – abgespritzt –
51 000 Väter, Brüder – Söhne starben einen qualvollen Tod, weil sie Kämpfer gegen das faschistische Mordregime waren.
51 000 Mütter und Frauen und hunderttausende Kinder klagen an:
Wir lebend gebliebenen, wir Zeugen der nazistischen Bestialitäten sahen in ohnmächtiger Wut unsere Kameraden fallen.
Wenn uns ein‘s im Leben hielt, dann war es der Gedanke:

Es kommt der Tag der Rache!

Heute sind wir frei!

Wir danken den verbündeten Armeen, der Amerikaner, Engländer, Sowjets und aller Freiheitsarmeen, die uns und der gesamten Welt Frieden und das Leben erkämpfen.

Wir gedenken an dieser Stelle des grossen Freundes der Antifascisten aller Länder, eines Organisatoren und Initiatoren des Kampfes um eine neue demokratische, friedliche Welt.

F . D. R o o s e v e l t .

Ehre seinem Andenken!

Wir Buchenwalder,

Russen, Franzosen, Polen, Tschechen, Slovaken und Deutsche, Spanier, Italiener und Österreicher, Belgier und Holländer, Engländer, Luxemburger, Rumänen, Jugoslaven und Ungarn

kämpften gemeinsam gegen die SS, gegen die nazistischen Verbrecher, für unsere eigene Befreiung.

Uns beseelte eine Idee: Unsere Sache ist gerecht. –
                                Der Sieg muss unser sein!

Wir führten in vielen Sprachen den gleichen, harten, erbarmungslosen, opferreichen Kampf und dieser Kampf ist noch nicht zu Ende.

Noch wehen Hitlerfahnen!
Noch leben die Mörder unserer Kameraden!
Noch laufen unsere sadistischen Peiniger frei herum!

Wir schwören deshalb vor aller Welt auf diesem Appellplatz, an dieser Stätte des faschistischen Grauens:

Wir stellen den Kampf erst ein, wenn auch der
letzte Schuldige vor den Richtern der Völker steht!

Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel. Das sind wir unseren gemordeten Kameraden, ihren Angehörigen schuldig. Zum Zeichen Eurer Bereitschaft für diesen Kampf erhebt die Hand zum Schwur und sprecht mir nach:

W i r s c h w o e r e n ! “ 9)


Sie aber, sehr geehrter Herr Tervooren, schrecken sogar nicht davor zurück, diesen doch eigentlich absolut unantastbaren Text für Ihre Zwecke zu instrumentalisieren und gezielt abzufälschen. Im „Schwur von Buchenwald“ heißt es: „Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel.“ Ihr abgefälschtes Zitat im sogenannten Zukunftsentwurf Antifaschismus“ lautet dagegen: „Die Vernichtung des Faschismus mit seinen Wurzeln, der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel“. Ich empfinde Ihre Fälschung als Zeugnis tiefen menschlichen Versagens. Sie wagen es, den Opfern der nazistischen Verfolgung das Wort aus dem Mund zu reißen und nach Ihren Zwecken umzuformen. Eine Grenzüberschreitung, für die mir die Worte fehlen, sie zu beschreiben und zu reflektieren.

Doch dies ist Ihnen unbedingt zu sagen: Es ist Ihr erfundenes Zitat nicht nur eine Fälschung in der Form, dem Buchstaben nach, sondern auch eine Fälschung dem Geiste nach. Sie setzen nämlich fälschlicherweise Faschismus und Nationalsozialismus gleich. Es ist im Original von „Nazismus“ die Rede, nicht von „Faschismus“, wie Sie „nachbessern“, sehr geehrter Herr Tervooren. Das Neue am Nazismus, am Nationalsozialismus, war die Dimension der Extermination von Mitgliedern der Gesellschaft. Der italienische Faschismus als Gesellschaftssystem, und daher kommt ja bekanntlich der Terminus ‚Faschismus‘, ist nicht identisch mit den deutschen Höllen der Extermination, d. h. mit der physischen Vernichtung von Juden, Roma und Sinti und von behinderten Menschen. Diese prinzipielle Unterscheidung darf und kann nicht verwischt werden, und wer dies versucht, betreibt Geschichtsfälschung, das muss man Ihnen sehr deutlich sagen, sehr geehrter Herr Tervooren. Zu dieser exterminatorischen Dimension des Nationalsozialismus hatte ich bereits in meinem Schreiben vom 12. Oktober 2014 Stellung nehmen müssen, weil Sie in Ihrem Protokoll des Perspektivtreffens vom 12. 04. 2014 alle Verfolgten des Naziregimes im Zuge eines unwissenschaftlichen Furor ohnegleichen unter dem Begriff der Ausgrenzung subsummieren. Doch Kommunisten, Sozialdemokraten, Anarchisten, engagierte Christen, Gewerkschaftler, unangepasste Künstler und Schriftsteller, sogenannte Asoziale usw. sollten von den Nazideutschen umerzogen werden, doch Menschen mit einem angeblichen genetischen Defekt, also Juden, Roma und Sinti, behinderte Menschen sollten von den Nazideutschen vernichtet werden. Wer diese Unterscheidung aushebelt, betreibt Geschichtsfälschung. Diese grundlegende Unterscheidung ist eigentlich Allgemeingut der historischen Forschung, und davon wollen Sie, sehr geehrter Herr Geschäftsführer, der eine traditionsreiche Verfolgtenorganisation leitet, noch nie etwas gehört haben? Ich fordere Sie auf, vor diesem Hintergrund der Abwesenheit von Respekt vor den Verfolgten des Nationalsozialismus und ihrer Angehörigen und Kinder noch einmal in sich zu gehen. Ihr unwissenschaftliches Elaborat „Zukunftsentwurf Antifaschismus“ bedarf der völligen Überarbeitung.

Ja, dieser krude, von tagtäglichen Instrumentalisierungen und Fälschungen und Amerikahass gezeichnete Antifaschismus der DDR kann doch heute nicht die Geschäftsgrundlage der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes sein, sehr geehrter Herr Geschäftsführer. Das ist doch nicht die real existierende Wirklichkeit des deutschen Nachkriegs. Es gibt keine „von der Geschichte befreite Deutsche Demokratische Republik“ mehr, ein Diktum des schwedischen Kindes von Auschwitzüberlebenden Göran Rosenberg, der in seiner aufsehenerregenden Recherche „Ein kurzer Aufenthalt auf dem Weg von Auschwitz“ folgende Episode überliefert: „Die Zwangsgrabungen fanden am 7. Mai 1945 statt. Während die Welt die deutsche Kapitulation feiert, sind in Ludwigslust zweihundert Leichen aus Wöbbelin zwischen Schloss und Kirche aufgereiht. Sie alle sind in weiße, requirierte Tücher gehüllt und wurden von zwangsweise abgestellten Deutschen an die frisch ausgehobenen Gräber getragen, wo sie auf einfachen Feldbahren liegen, die gequälten, ausgemergelten Gesichter gut sichtbar, Jedes Grab ist mit einem weißgestrichenen Holzkreuz markiert. Im Kommentartext zu den Bildern des Dokumentarfilms über die Bestattung heißt es, einundfünfzig der zweihundert Gräber seien mit einem weißen Davidstern markiert, auf den Bildern ist jedoch kein solcher Stern zu sehen. Hingegen sieht man die Einwohner von Ludwigslust, die gesenkten Blickes und barhäuptig an den eingehüllten Leichen vorbeidefilieren. Sie sind gut genährt und gut gekleidet, viele sogar feiertäglich angezogen, und scheinen noch nicht begriffen zu haben, was ihnen widerfahren ist. Manche der schwarz gekleideten Frauen legen bei einigen Leichen unsicher Blumen nieder, als wären sie nicht sicher, was sich schickt, oder als schreckten sie im letzten Augenblick vor den nun abgedeckten Gesichtern zurück. Der amerikanische Militärgeistliche, Major B. Wood, nagelt in seiner Trauerrede ihre Schuld und Schande fest: ‚Nur sechs Kilometer von Ihren gemütlichen Häusern mussten viertausend Menschen leben wie die Tiere. Noch nicht einmal das Futter, das Sie für Ihre Hunde übrig hatten, waren sie ihnen wert. Obwohl Sie behaupten, keine Kenntnis von diesen Toten gehabt zu haben, sind Sie doch einzeln und gemeinsam für diese Gräueltaten verantwortlich.‘ Der Kontrast zwischen dem Tod in Wöbbelin und dem Leben in Ludwigslust ist grotesk und provozierend, und der Impuls, die Wohlgenährten und Gutgekleideten zur Verantwortung zu ziehen, lässt sich nur mit Mühe im Zaum halten. Rache liegt in der Luft. Der Zorn sucht Auslauf. Die Entscheidung, den schönsten Platz von Ludwigslust in einen Friedhof und eine Stätte der Erinnerung zu verwandeln, ist die Antwort auf dieses Bedürfnis. Die Gutgekleideten und Wohlgenährten sollen eine Lehre erhalten, die sie niemals vergessen. Nie wieder werden sie im Park zwischen Schloss und Kirche unter den Linden promenieren können, ohne an die Gräueltaten von Wöbbelin erinnert zu werden. So ist es gedacht, aber so wird es nicht. Nach nicht einmal einem Jahr sind … die US-amerikanischen Truppen von den sowjetischen ersetzt, und nach einem weiteren Jahr sind die weißen Holzkreuze und die Davidsterne verschwunden, und bald legt sich die schamlose Lüge (wir haben nichts gewusst und hätten sowieso nichts machen können) wie ein dichter Rasenteppich über die Erinnerung, und wäre es nur auf die guten Bürger der Stadt Ludwigslust in der von der Geschichte befreiten Deutschen Demokratischen Republik angekommen, dann hätte das Gras auf den Gräbern immer höher und höher wachsen können.“ 10)

Es war genau diese „von der Geschichte befreite Deutsche Demokratische Republik“ das Leitbild, die politisch-ideologische Klammer für den sich in die Gesellschaft der DDR hineinfressenden Sozialfaschismus, der selbstverständlich ein Sozialfaschismus neuen Typs war, aber eben doch Sozialfaschismus. Was genau, wird man noch politikwissenschaftlich exakt ermitteln, vielleicht eine eigentümliche Mischung aus dem Staatssozialisten Fichte mit seinem „Geschlossenen Handelsstaat“ 11) und dem kaltblütigen Soziologen Pareto 12), das wird man noch herausfinden, da bin ich mir so ziemlich sicher. Auf jeden Fall für die Menschen eine Tragödie! Eine groteske Tragödie, die das menschliche Leben zu etwas völlig Austauschbarem machen konnte, ja, zu etwas Sinnlosem, das auf seine Brauchbarkeit auch noch stolz war, was bereits Goethe in seinem Reisebericht „Beireis, Hagen, Gleim“ aus dem Jahre 1805 antizipierte 13), als er die spezifische Persönlichkeitsstruktur dieser Art von neuem Menschen – diese gefährliche Mischung aus Leutseligkeit, Vulgärmaterialismus, Halbbildung, Doppelbödigkeit, Cleverness, Lust am Galgenmäßigen und einem brutalen Zugriff auf die Welt – scharfsinnig herausgearbeitet hatte.

Menschliches Leben ist etwas Unantastbares und Einzigartiges im Sinne von Rettung, habe ich, im englischen Exil meiner Eltern geboren, schon früh erfahren, ohne es im eigentlichen Sinne des Wortes erfahren zu haben. Eine große, mich in den Exilkreisen ständig umschwirrende Verwunderung, quasi mit der Muttermilch aufgesogen. Es war ein Lebensgefühl, nicht benennbar, und es hat mich bis heute getragen, ja, gerettet, wenn ich auch mit etlichen faulen Kompromissen gegensteuerte, aber jedenfalls gerettet vor einer sozialfaschistischen Vereinnahmung im staatssozialistischen System der DDR, die auf nichts anderes hinauslief als auf einen unaufhaltsamen Verfall der Persönlichkeit.

Die Berliner VVN steht, wie ich hier versucht habe, Ihnen ausführlich nachzuweisen, am Scheideweg, und Sie, sehr geehrter Herr Tervooren, haben jetzt als Beauftragter aller Mitglieder dieser Verfolgtenorganisation die einzigartige Chance, sich zu einer Wiedergeburt der VVN offen und mutig zu bekennen, mit allen Konsequenzen, vor allem mit der des Mutes zur Wahrheit. Handeln Sie nicht, verwenden Sie weiterhin all Ihre wertvolle Kraft auf die Verdrängung, wird es einsam um Sie und Ihren Vorstand werden. Doch unabhängig von Ihrer Entscheidung werden Sie dem Urteil der Gerechtigkeit, dem Urteil der Geschichte, deswegen keineswegs entgehen, sehr geehrter Herr Tervooren, denn Gerechtigkeit ist weiblich, wie auch die legendäre Geschichte des Exilbuches „Die Perlmuttfarbe“ demonstriert: in Prag geschrieben, inspiriert von einem lebhaften Austausch mit deutschen, tschechischen und slowakischen Schriftstellern und Künstlern der Exilszene in Prag, vor allem mit dem Maler-Schriftsteller Oskar Kokoschka, dann, als die Nazis in Prag einmarschierten, rasch der französischen Botschaft zur Aufbewahrung übergeben, auf der Flucht wie durch ein Wunder wieder in den Besitz des Manuskripts gelangt, als ein tschechischer Fluchthelfer, der sie über die Grenze bis ins polnische Katowice geführt und von dem Manuskript hörte, wieder nach Prag zurückging, es aus der französischen Botschaft holte und an sich nahm, um es über die Grenze zu schmuggeln zurück bis nach Katowice, worauf es die flüchtende Schriftstellerin bis nach England retten konnte, nach dem Krieg nach Berlin mitnahm, bis es auf dem Tisch des Lektoren des Dietz Verlages landete und bald darauf erstmals in Druck ging. Die Vorbereitung der Verfilmung wurde, wie schon geschildert, jäh und brutal von höchsten Parteistellen abgebrochen. Der Traum der wunderbaren Anna Maria Jokl, dass ihr antifaschistisches Werk „Die Perlmutterfarbe“ eines Tages verfilmt wird, konnte durch die Nationale in der DDR zwar aufgehalten, aber nicht verhindert werden. Ein halbes Jahrhundert später setzte der Regisseur Marcus H. Rosenmüller im Auftrag einer international agierenden Münchener Filmfirma diesen Traum der legendären Antifaschistin in die Tat um, auf meisterliche Weise, und da gab es die DDR schon längst nicht mehr.

Mit freundlichen Grüßen

Antonín Dick

Anmerkungen:

1) Anna Maria Jokl: Die Perlmutterfarbe, Dietz Verlag GmbH, Berlin 1948

2) Gotthold Ephraim Lessing: Nathan der Weise, in Lessings Werke, Zweiter Band, Leipzig 1899, Seite 304 – 304

3) Helmut Eschwege: Fremd unter meinesgleichen. Erinnerungen eines Dresdner Juden, Christoph Links Verlag, Berlin 1991, Seite 134

4) Helmut Eschwege: Fremd unter meinesgleichen. Erinnerungen eines Dresdner Juden, ebenda, Seite 93

5) P. C. Walther: Zur Debatte um Antisemitismus auf „Deutschlands Straßen“, in: Antifa, Magazin der Berliner VVN, 2014 - 9

6) Landesarchiv Berlin, C Rep. 900 IV L – 2 / 4 / 190 – 2

7) Georg Friedrich Wilhelm Hegel: Phänomenologie des Geistes, Berlin 1964, Seite 266-274

8) Antonín Dick: Er meinte es so. Das Dickicht, die Last und der Anwalt: Ein Podiumsgespräch zum NSU in Berlin. In: junge Welt, 5 Juni 2013

9) Siehe dazu: Buchenwaldarchiv

10) Göran Rosenberg: Ein kurzer Aufenthalt auf dem Weg von Auschwitz, Reinbek bei Hamburg 2014, Seite 174 – 176

11) Johann Gottlieb Fichte: Der geschlossene Handelsstaat, Tübingen 1800

12) George C. Homans and Charles P. Curtis, Jr: Pareto. An Introduction to His Sociology, New York 1970

13) Johann Wolfgang von Goethe: Beireis, Hagen, Gleim, in: Goethes Werke in sechs Bänden, Sechster Band, Leipzig 1909, Seite 29-48

Editorische Hinweise

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