Was tun?
Eine Kritik an der Politik des Leninismus

von Jens Benicke

11/2015

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„Für Lenin ist die Arbeiterklasse dasselbe, was für den Metallurgen das Erz ist.“
Maxim Gorki

25 Jahre nach dem Fall der Lenin-Statuen in Osteuropa ist Wladimir Iljitsch Uljanow in der radika­len Linken mal wieder sehr angesagt. Sowohl international gefeierte „Theoriegrößen“, wie Slavoj Zizek, Alain Badiou oder Dietmar Dath kokettieren mit dem Gründer der Sowjetunion, als auch Tei­le der autonomen Antifabewegung beziehen sich wieder positiv auf den Leninismus. Im letzten Jahr konnte man sich fast an das sog. Gründungsfieber nach 1968 erinnert fühlen, so viele Kleinstzirkel schlossen sich plötzlich zu größeren Bündnissen zusammen. Ein nicht unerheblicher Teil davon be­zieht sich auch positiv auf den Leninismus.

Ein wichtiger Grund für dieses x-te Revival liegt sicherlich darin begründet, dass sich mit Lenin pri­ma „Politik machen“ lässt. Vor allem in seiner Kampfschrift gegen die linken Kommunist_innen „Der linke Radikalismus. Kinderkrankheit im Kommunismus“,(1) die zur „Bibel des Stalinismus“ (In­itiative Sozialistisches Forum Freiburg) wurde, gibt er unzählige konkrete Verhaltensanweisungen: Be­teiligt euch an Wahlen, tretet in die Gewerkschaften ein, erobert die Gewerkschaften usw. Diese Handlungsvorgaben fallen in einer unübersichtlichen Zeit, in der alles irgendwie mit allem zusam­menhängt und man nicht genaues mehr weiß offensichtlich auf fruchtbaren Boden.

Das aber diese Form der Politik bereits selbst ein Problem darstellt, und diese nicht einfach alterna­tiv angewendet werden kann, sondern genauso wie der Staat, der untrennbar mit der Politik zusam­menhängt, nur abgeschafft werden kann, zeigt sich im historischen Ergebnis der leninschen Politik: der Sowjetunion. Diese brachte eben nicht die Befreiung der Arbeiter_innenklasse, sondern nur eine staatskapitalistische Modernisierungsdiktatur, die die nachholende Entwicklung organisierte. Folge­richtig wurde der Leninismus genau dafür die Legitimationsideologie. Sein Nachfolger ließ diese systematisieren und für die gesamte kommunistische Weltbewegung kanonisieren. Aber schon in Lenins Schriften war dieser Prozess angelegt.

Bereits in seiner früher Schrift „Was tun? Brennende Fragen unserer Bewegung“(2), die 1902 erschie­nen ist, finden sich die Grundlagen der späteren Entwicklung vorgezeichnet.

Dabei geht es weniger um den historischen Kontext in dem Lenin die Schrift verfasst hat und in dem seine Argumente meist sogar richtig waren. So war etwa eine hierarchisch-konspirative Orga­nisation der Revolutionäre aufgrund der zaristischen Diktatur in Russland wahrscheinlich unum­gänglich und „dem russischen Polizeistaat angemessen“(3) (Adorno). Auch hat Lenin gegen seine politischen Gegner, gegen die er in „Was tun?“ polemisiert, meistens sogar recht. In erster Linie sind dies die Zeitschriften „Rabotschaja Mysl“ und „Rabotscheje Delo“, die für Lenin den „Ökono­mismus“ und „Spontaneismus“ in der russischen Arbeiter_innenbewegung repräsentieren.

Die Kritik richtet sich in erster Linie gegen eine unhistorische Übernahme der leninschen Positio­nen, wie sie später auch von der KPdSU und der Komintern vertreten wurde, und nach der die sieg­reiche Oktoberrevolution die Blaupause für alle kommenden Revolutionen darstellen sollte. Das sich allerdings die gesellschaftlichen Bedingungen in einem kaum industrialisierten und kapitali­sierten Land nicht auf die hochentwickelten Staaten des damaligen kapitalistischen Zen­trums oder gar auf die heute global durchgesetzte Wertvergesellschaftung übertragen lassen, war schon den frü­hen Kritiker_innen der Sowjetunion klar.(4) Die bolschewistische Machtübernahme wurde deshalb nicht umsonst zum Vorbild für zahlreiche Revolutionen in ökonomisch unterentwickelten Ländern, wie China, Kuba, Algerien, Vietnam usw. Charakteristisch war in diesen Revolutionen, dass das „historische“ revolutionäre Subjekt, das Proletariat, nicht die in der Theorie doch vorgesehene Hauptrolle spielte, ja über­haupt nicht spielen konnte, da es in diesen Gesellschaften kaum entwi­ckelt war, geschweige denn, dass es „die selbständige Bewegung der ungeheuren Mehrzahl im In­teresse der ungeheuren Mehr­zahl“ (Marx/Engels) war. Es ist in diesem Sinne dann auch nicht ver­wunderlich, dass das Proletariat bei Lenin nicht gut wegkommt.

Lenins Argumentation in „Was tun?“ basiert im Wesentlichen auf Gedanken die der später vom ihm als „Renegat“ bekämpfte „Papst des Marxismus“ Karl Kautsky formuliert hat. Folgerichtig zitiert Lenin auch ausführlich dessen Grundgedanken zum Verhältnis von Revolutionär_innen zur Arbei­ter_innenklasse:

„In der Tat bildet die heutige ökonomische Wissenschaft ebenso eine Vorbedin­gung sozialistischer Produktion wie etwa die heutige Technik, nur kann das Proletariat beim besten Willen die eine ebensowenig schaffen wie die andere; sie entstehen beide aus dem heutigen gesell­schaftlichen Prozeß. Der Träger der Wissenschaft ist aber nicht das Proletariat, sondern die bürger­liche Intelligenz (Hervorhebung von Karl Kautsky); in einzelnen Mitgliedern dieser Schicht ist denn auch der moderne Sozialismus entstanden und durch sie erst geistig hervorragenden Proletariern mitgeteilt worden, die ihn dann in den Klassenkampf des Proletariats hineintragen, wo die Verhält­nisse es gestatten. Das sozialistische Bewußtsein ist also etwas in den Klassenkampf des Proletariats von außen Hineingetragenes, nicht etwas aus ihm urwüchsig Entstandenes. Dem entsprechend sagt auch das alte Hainfelder Programm (5) ganz richtig, daß es zu den Aufgaben der Sozialdemokratie ge­höre, das Proletariat mit dem Bewußtsein (Hervorhebung von Karl Kautsky) seiner Lage und seiner Aufgabe zu erfüllen. Das wäre nicht notwendig, wenn dies Bewußtsein von selbst aus dem Klassen­kampf entspränge.“ (S. 395)

Im gesamten Text variiert Lenin diesen Grundgedanken immer wieder. Die Arbeiter_innen können von sich aus nur für ihre unmittelbaren Interessen kämpfen, sie sind aber unfähig die Systematik der Ausbeutung der sie unterworfen sind, zu durchschauen. Diese Fähigkeit haben seiner Meinung nach nur die Intellektuellen. Nur diese sind in der Lage die herrschenden Verhältnisse rational zu erken­nen und zu analysieren und daraus die angemessenen Strategien zu entwickeln. Die Arbeiter_innen dagegen reagieren auf ihre Unterdrückung und Ausbeutung spontan und emotional, folglich irratio­nal. Das Verhältnis das Lenin hier zwischen Intellektuellen und Arbeiter_innen beschreibt entspricht exakt dem patriarchalen Weltbild: Hier der rationale Mann, der den Intellekt verkörpert und dort die emotionale Frau, die das Gefühl repräsentiert. Konzentriert zusammengefasst finden sich dieses Verständnis in folgendem Zitat:

„Wir haben gesagt, daß die Arbeiter ein sozialdemokratisches Bewußtsein gar nicht haben konnten.(Hervorhebung von Lenin) Dieses konnte ihnen nur von außen gebracht werden. Die Geschichte al­ler Länder zeugt davon, daß die Arbeiterklasse ausschließlich aus eigener Kraft nur ein trade-unio­nistisches Bewußtsein hervorzubringen vermag, d. h. die Überzeugung von der Notwendigkeit sich in Verbänden zusammenzuschließen, einen Kampf gegen die Unternehmer zu führen, der Regierung diese oder jene für die Arbeiter notwendigen Gesetze abzutrotzen u. a. m. Die Lehre des Sozialis­mus ist hingegen aus den philosophischen, historischen und ökonomischen Theorien hervorgegang­en, die von den gebildeten Vertretern der besitzenden Klassen, der Intelligenz, ausge­arbeitet wur­den.“ (S. 385f.)

Natürlich weiß auch Lenin, dass die Intellektuellen den Klassenkampf nicht alleine führen können, dass müssen schon die Arbeiter_innen machen, aber sie sollen es sein, die die Arbeiter_innenmas­sen anleiten. Gleichsam der Offiziere einer Armee die ihre Truppen befehligen. Lenin spricht des­halb von den Revolutionär_innen als den „Ideologen“ (S. 388), den „Politikern“ (S. 446) und den „Führern“ (S. 388). Sie machen „die Politik“ für die „Massen“. Lenin argumentiert damit in den Kategorien des bürgerlichen Politikbetriebs, in dem nur eine Kaste spezifischer Berufspolitiker_in­nen für diejenigen handelt, die sie vorgeben zu repräsentieren. Der Leninismus lässt sich somit als „Verbürgerlichung der Praxis des Klassenkampfes“(6) fassen. Als notwendiges Instrument dieser Politiker_innen der Arbeiter_innenklasse wird die Partei benötigt, die Führer_innen und Geführten organisatorische Gestalt verleiht. Deshalb ist die Rolle der Partei in Lenins Denken zentral. Denn „... der spontane Kampf des Proletariats wird nicht zu einem wirklichen „Klassenkampf“ werden, solange dieser Kampf nicht von einer starken Organisation der Revolutionäre geleitet wird.“ (S. 492) Die Arbeiter_innen sind also nicht in der Lage den Klassenkampf alleine zu führen. Es war so­mit nur folgerichtig, dass die Bolschiwiki die Organe der proletarischen Selbstverwaltung, die Arbeiter_innenräte zerschlugen. Lenins Parteikonzept führte zu einer völligen Umkehrung des Ver­hältnisses von Intellektuellen und Arbeiter_innen. Nicht die bürgerliche Intelligenz sollte sich den Interessen der Arbeiter_innenklasse unterordnen, sondern die Proletarier_innen den Vorgaben der Partei. Linkskommunistische Kritiker_innen des Bolschewismus haben dies bereits früh erkannt. „Der absolute Führungsanspruch der revolutionären, kleinbürgerlichen, jakobinischen Intelligenz verbirgt sich hinter der bolschewistischen Auffassung von der Rolle der Partei in der Arbeiterklasse. […] Die Unterordnung der kämpfenden Arbeiterklasse unter die kleinbürgerliche Führung begrün­det der Bolschewismus mit der Theorie von der ‚Avantgarde’ des Proletariats, die er in seiner Praxis bis zu dem Grundsatz ausbaute: Die Partei verkörpert die Klasse. Sie ist also nicht Werkzeug der Arbeiterschaft, sondern die Arbeiterschaft ist ihr Werkzeug.“(7) Der Aufbau der Partei dient also per­fiderweise der Aufrechterhaltung der Vormachtstellung der Intellektuellen über die Arbeiter_innen, und das Ganze im Namen der Arbeiter_innenklasse. Wenn heute also wiedereinmal linke Aktivist_innen den Leninismus „wiederentdecken“ und dessen Konzepte umzusetzen versuchen, dann beantworten auch sie die Frage nach dem „Was tun“, die sich ja jedem um die Emanzipation der Menschheit Besorgten aufgrund der dramatischen Weltsituation drängend stellt, erneut falsch. Und dies wird auch wieder fatale Folgen für die Emanzipation haben.

Endnoten

1) Wladimir Iljitsch Lenin, Der „linke Radikalismus“, die Kinderkrankheit im Kommunismus, in: W. I. Lenin, Werke Band 31, Berlin 1972, S. 1-91.

2) Wladimir Iljitsch Lenin, Was tun? Brennende Fragen unserer Bewegung, in: W. I. Lenin, Werke Band 5, Berlin 1976, S. 355-551. Im folgenden werden Zitate aus Was tun? Lediglich durch die Seitenzahlen in Klammer angege­ben.

(3) Zitiert nach: Lars Quadfasel, Adornos Leninismus. Kritische Theorie und das Problem der Avantgarde, in: Jungle World 21 vom 23.05.2013.

(4)Vgl. etwa Rosa Luxemburg (1922), Die russische Revolution. Eingeleitet und herausgegeben von Ossip Kurt Flecht­heim, Frankfurt am Main 1963 und die in Anton Pannekoek, Paul Mattick u.a., Marxistischer Antileninismus. Ein­geleitet von Diethard Behrens, Freiburg im Breisgau 1991, abgedruckten Texte.

5) Das Hainfelder Programm war das Gründungsprogramm der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs (SDAP). Vom 30. Dezember 1888 bis zum 1. Januar 1889 fand in der Ortschaft Hainfeld, in Niederösterreich, der Einigungsparteitag der SDAP statt.

6)Gruppe eiszeit, Ein Schritt in die falsche Richtung. Eine Kritik an Lenin und der Systematisierung seiner Idee, in: Kosmoprolet, Heft 2, 2009, S 167.

7)Gruppe Internationaler Kommunisten Hollands, (1934), Thesen über den Bolschewismus, in: Pannekoek et. al., 1991, S. 30.