Verabsolutierung der negativen Theorie
Anmerkungen zu Adorno

von Peter Reichel

11/2015

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Die Spezifik von Adornos Philosophie - gegenüber anderen bürgerlich-philosophischen Varianten - besteht in der Verabso­lutierung der negativen Theorie. Man hat darunter sowohl die Absolutsetzung der Theorie im Gegensatz zur Praxis wie auch die Absolutsetzung der Negation im Gegensatz zur Dialektik zu verstehen. Aus ihrer ständig geringeren Verbindung zur Praxis resultieren Ohnmadit und Auflösung der Theorie, die im Nachhinein durch die verabsolutierte Negation mit der Be­hauptung sanktioniert werden, daß alle Widersprüche nicht nur ewig, sondern auch unaufhebbar seien, das einzig angemes­sene Verhalten zu jeglicher objektiver Realität in deren perma­nenter Kritik, in ihrer totalen Negation bestünde. Die negative Theorie wird in dem Maße total, wie Adorno die Totalität einer schlechten Welt konzediert und immer mehr von der historisch-konkreten Analyse absieht. Vom Verzicht auf histo­rische Konkretheit bis zum Einschwenken auf die Positionen der Konvergenztheorie ist es dann nur noch ein kleiner Schritt. Neuer Maßstab des angemessenen Verhaltens wird nun die Kraft subjektiver und theoretischer Negation der Totalität und die Unterwanderung und Auflösung der faktischen Totalität durch eine totale Mikrologie. Adorno will den Positivismus, der nach seiner Meinung jedem Ganzen, jedem System imma­nent ist, durch die Negation jedes Ganzen und jedes Systems zerstören. Inhaltlich wie methodologisch entspricht dem seine mikrologische Praxis.

Indessen hat Adorno diese Position nicht immer mit solcher Ausschließlichkeit vertreten. In seinen frühen Schriften hat er die kapitalistische Gesellschaftsformation durchaus als Klassen­gesellschaft analysiert.(74) Dort ist auch noch die Rede von der Notwendigkeit und Möglichkeit tätiger Veränderung: „Was unveränderlich ist an der Natur, mag für sich selber sorgen. An uns ist es, sie zu verändern. Einer Natur aber, die trübe und schwer in sich beharrt, ist füglich zu mißtrauen."(75) Selbst Ador­nos Antifaschismus steht außer Zweifel. Noch die Beurteilung der Niederlage des deutschen Imperialismus im zweiten Welt­krieg unterscheidet ihn von den meisten bürgerlichen Philo­sophen; schon der Terminus „befreites Deutschland" (76) spiegelt die historische Realität richtig wider. Adorno hat zwar die Position des Antifaschismus nie verlassen(77), ist aber auch nicht darüber hinausgelangt. Spätestens seit 1945 aber läßt sich die Regression der Adornoschen Philosophie beobachten. Sie ist gekennzeichnet durch eine ständig zunehmende Enthistorisie-rung und Fetischisierung der imperialistischen Gesellschaft, durch wachsenden Subjektivismus und Agnostizismus, durch die Aufgabe einstiger sozialökonomischer Kriterien, die Ten­denz zur philosophiegeschichtlichen Argumentation und damit zur Selbstisolierung der Philosophie gegen die Wirklichkeit. Dieser Regressionsprozeß gewinnt seine Qualität aber auch dadurch, daß er sich eindeutig antikommunistisch polarisiert und von daher den neuen Adressaten seiner verabsolutierten Negation findet: den dialektischen Materialismus. 1966 heißt es dann in der „Negativen Dialektik": „Das Banausische und Barbarische am Materialismus verewigt jene Exterritorialität des Vierten Standes zur Kultur, die mittlerweile nicht mehr auf diesen sich beschränkt, sondern über die Kultur selber sich ausgebreitet hat. Materialismus wird zum Rückfall in die Bar­barei, den er verhindern sollte; dem entgegenzuarbeiten ist nicht die gleichgültigste unter den Aufgaben einer kritischen Theorie."(78) Diese eindeutige Ideologie imperialistischer Prä­gung umreißt das Niveau, auf das der späte Adorno gesunken ist und das tatsächlich nur noch individualistische „Reflexionen aus dem beschädigten Leben"(79) und nicht mehr revolutionäre Aktionen der progressiven Klasse zuläßt.

Adornos Widerstand, wenn man von einem solchen spre­chen kann - und im Hinblick auf gewisse Erscheinungen im Überbau des staatsmonopolistischen Kapitalismus kann man es trotz allem -, beschränkt sich also auf den nur geistigen Protest. Die Theorie wird verabsolutiert, indem sie sich von der Praxis isoliert. Die Ohnmacht der Theorie rührt aus ihrer Trennung von der Praxis, von den revolutionären Klassen­kräften her. „Die Theorie ist nicht ohnmächtig, wenn sie als Stimulus revolutionärer Prozesse theoretische Antizipation ihres Ergebnisses wird, sondern dann, wenn sie ihre Selbst­reflexion zur einzigen Triebkraft der Geschichte ernennt und dadurch die Veränderung der Welt auf die Veränderung des Bewußtseins reduziert."(80) Adorno hat sich ausdrücklich zu Re­flexion und Kontemplation bekannt, die aber im günstigsten Falle eben nur zu einem „richtigen Bewußtsein" führen. In den Feuerbachthesen haben sich Marx und Engels grundsätzlich zum Verhältnis von Theorie und Praxis geäußert. Dort erklä­ren sie auch, daß es nicht ausreicht, „ein richtiges Bewußtsein über ein bestehendes Faktum hervorzubringen", sondern daß es notwendig ist, „die bestehende Welt zu revolutionieren, die vor-gefundnen Dinge praktisch anzugreifen und zu verändern"(81).

Der notwendige Zusammenhang der Ausschließlichkeit der Theorie mit der Ausschließlichkeit der Negation ist evident.(82) Theorie, die sich nicht verwirklichen, also in Praxis aufheben will, entbehrt des konstruktiven, des positiven Moments; sie bleibt allein auf negative Kritik verwiesen. Denn nach Ador­nos zentraler Erklärung „hat unbeirrte Negation ihren Ernst daran, daß sie sich nicht zur Sanktionierung des Seienden her­gibt. Die Negation der Negation macht diese nicht rückgängig, sondern erweist, daß sie nicht negativ genug war; sonst bleibt Dialektik zwar, wodurch sie bei Hegel sich integrierte, aber um den Preis ihrer Depotenzierung, am Ende indifferent gegen das zu Beginn Gesetzte. Das Negierte ist negativ, bis es ver­ging. Das trennt entscheidend von Hegel."(83) Das trennt aller­dings noch entscheidender von Marx und insgesamt von der materialistischen Dialektik. Adorno schließt auf diese Weise nicht nur jede Höherentwicklung aus, sondern verzichtet auf die wesentliche Aufgabe der Philosophie, theoretische Anti­zipation des Ergebnisses gegenwärtiger und künftiger mate­rieller Prozesse zu leisten. Aus der Selbstbescheidung in nur kritischer Interpretation folgen mit Notwendigkeit die ab­strakte Utopie und der praktische Pessimismus.

Adorno begibt sich freiwillig in einen erkenntnistheoretischen Teufelskreis: Indem er die Erkenntnis der objektiven Realität mit untauglichen, agnostizistischen Mitteln - unter anderen dem der totalen Kritik - bewerkstelligt, gelangt er zu einem falschen Bewußtsein von ihr, nämlich zu einem Bild von der Welt als einem „System des Grauens"; aus der so gewonnenen Verallgemeinerung vom Unwesen der Welt als ihrem Wesen bezieht er die Rechtfertigung, ihr mit der totalen Negation zu begegnen. „Die Welt ist das System des Grauens, aber darum tut ihr noch zuviel Ehre an, wer sie ganz als System denkt, denn ihr einigendes Prinzip ist die Entzweiung, und sie ver­söhnt, indem sie die Unversöhnlichkeit von Allgemeinem und Besonderem rein durchsetzt. Ihr Wesen ist das Unwesen."(84)' Die falsche Prämisse ist Wurzel des falschen Bewußtseins; mit dem falschen Bewußtsein aber wird nun die Prämisse gerecht­fertigt und als einzig richtige ausgegeben. So bestätigt Nega­tion sich selber. Wahrhaft ein circulus vitiosus!

Nun beginnt Adorno, seine Theorie von der Negation als Hauptaufgabe der Philosophie auch publizistisch auszubauen. Seine verstärkten Bemühungen darum datieren etwa seit dem Jahre 1961. Eine besondere Rolle spielen dabei der im Januar 1962 im Hessischen Rundfunk gehaltene und später gedruckte Vortrag „Wozu noch Philosophie"(85) und sein spätes philoso­phisches Hauptwerk „Negative Dialektik" (1966). Der Schein der „Ideologiefreiheit", den sich Adorno durch philosophie­immanente Argumentation geben möchte, indem er seine An­griffe gegen Apologie und Positivismus richtet, kann allerdings nicht lange gewahrt werden. Zunächst benutzt er aber noch diesen Mantel, wenn er folgende Maximen postuliert: „Philo­sophie, die dem genügt, was sie sein will, und nicht kindlich hinter ihrer Geschichte und der realen hertrottet, hat ihren Lebensnerv am Widerstand gegen die heute gängige Übung und das, dem sie dient, gegen die Rechtfertigung dessen, was nun einmal ist."(86) Im gleichen Rundfunkvortrag heißt es dann: „Ist Philosophie noch nötig, dann wie von je als Kritik, als Widerstand gegen die sich ausbreitende Heteronomie, als sei's auch machtloser Versuch des Gedankens, seiner selbst mächtig zu bleiben."(87)

Nun mag praktische Negation des untergehenden Kapitalis­mus mit Sicherheit ihre Berechtigung haben, doch Adornos Negation ist weder praktisch noch allein gegen die unter­gehende Gesellschaftsordnung gerichtet. Der „Versuch des Ge­dankens, seiner selbst mächtig zu bleiben", ist tatsächlich nichts anderes als der Ausdruck der Ohnmacht einer von der Praxis isolierten Philosophie.(88) Und in dem Maße, in dem Adorno von jeglicher historischen Konkretheit absieht und nicht etwa nur den staatsmonopolistischen Kapitalismus, sondern die ge­samte heutige objektive Realität der Negation unterwirft, be­kommt seine Theorie nun auch ihren eindeutigen ideologischen und politischen Charakter: sie ordnet sich fast nahtlos ein in die bürgerliche Konvergenztheorie.

Adorno unterscheidet sich selbst darin nicht von anderen Konvergenztheoretikern, daß er die Konsequenzen der voraus­gesetzten sozialökonomischen Konvergenz von Kapitalismus und Sozialismus zuerst im ästhetischen Bereich auszutragen wünscht. So enthalten denn vor allem seine literatur- und kunsttheoretischen Schriften eine Sammlung von Diagnosen, Prognosen und Forderungen im Sinne dieser Theorie. Als pars pro toto kann Adornos Auffassung von dem großen Gemein­samen stehen, das über die Gattungsspezifik hinweg sämtliche Künste verbindet, nämlich ihre Trennung von Realität, also die Negation der Wirklichkeit. „Allein negativ hat man", meint Adorno, „was inhaltlich, über den leeren klassifikatorischen Be­griff hinaus, die Kunstarten vereint: alle stoßen sich ab von der empirischen Realität, alle tendieren zur Bildung einer die­ser qualitativ sich entgegensetzenden Sphäre."(89) Hinter diesen „schönen" Worten verbirgt sich nichts anderes als die Diffa­mierung des sozialistischen Realismus, konkreter: die Forde­rung, Kunst habe sich auch im Sozialismus gegen die soziali­stische Basis zu richten, sich von ihr zu trennen. Allerdings zögert Adorno nicht, das bei anderer Gelegenheit auch weniger verklausuliert zu formulieren. In einem Aufsatz im „Merkur" - der wie der Rundfunkvortrag über Philosophie vom Januar 1962 stammt - vermerkt Adorno, daß Kunst „zum gesell­schaftlichen Schauplatz nicht mehr den sei's auch zerfallenen Spätliberalismus, sondern eine gesteuerte, überdachte, inte­grierte Gesellschaft, die .verwaltete Welt'" habe, woraus er schlußfolgert: „keine künstlerische Form wäre länger denkbar, die nicht Protest ist"(90). Damit ist denn auch noch die typische konvergenztheoretische Manipulation vollzogen, die den Vor­wand aller abgeleiteten Postulate liefert, nämlich die Subsum-tion von Kapitalismus und Sozialismus unter Begriffe wie „integrierte Gesellschaft" und „verwaltete Welt". Hier verläßt Adorno mit den anderen Konvergenztheoretikern den Boden der Ästhetik und begibt sich durchaus praktisch in den anti­kommunistischen Feldzug. Nun fordert er Kritik und Negation des realen Sozialismus mit dem demagogischen Anspruch, nur eben so den Sozialismus „vorm theoretischen Abgleiten in den Positivismus"(91) bewahren zu können.

So hat Adornos Theorie der verabsolutierten Negation eine sehr reale Funktion; in ihrem Affront gegen Positivismus und Apologie, die sie nur abstrakt sieht, negiert sie unhistorisch die gesamte objektive Realität, bekämpft gleichermaßen solche divergierenden Gesellschaftsordnungen wie Kapitalismus und Sozialismus, liefert sich damit selbst dem Fatalismus aus, wäh­rend sie objektiv beiträgt zur Destruktion der Kräfte des ge­sellschaftlichen Fortschritts.

Adornos Totalität der Negation äußert sich vorrangig als Negation der Totalität. Hier laufen nun viele Gedankengänge und Folgerungen Adornos zusammen: die These von der „Ato-misierung des Menschen" als quasi-objektiver Begründung, die Gleichsetzung der Totalität mit Dialektikfeindlichkeit, die Auf­fassung von der Gewaltsamkeit des Ganzen sowohl gegenüber der Theorie als auch gegenüber dem Individuum; die daraus abgeleitete Notwendigkeit der Demontage der Systeme, der Inthronisierung des Details, der negativen Handhabung der Dialektik, die vom Ganzen nichts wissen darf; schließlich die praktische Ausführung in aphoristischer Diktion und System­feindlichkeit, in agnostizistischem Verzicht auf Zusammenhänge und Verallgemeinerungen.

Doch selbst dieses Kramen Adornos in Kleinigkeiten, Ein­zelheiten hat einen eminent politisch-ideologischen Aspekt. Es richtet sich nämlich einmal gegen die Einheitlichkeit und Ge­schlossenheit des dialektischen Materialismus, gegen die Uni­versalität des Marxismus-Leninismus und zum anderen gegen die gesellschaftliche Haupttriebkraft im Sozialismus, die Übereinstimmung der Interessen des einzelnen mit den Interessen des Ganzen. Deshalb ist es auch notwendig, sich mit Adornos „Mikrologie" auseinanderzusetzen.

Ausgangspunkt der Adornoschen Argumentation ist die Dia­gnose der „Atomisierung". Der Terminus wird im Verständnis Adornos meist synonym für den marxistischen der „Entfrem­dung" gebraucht. Diese sei so total geworden, daß sie selbst den für Adorno stets privilegierten Intellektuellen nicht mehr verschont. „Einzig listige Verschränkung von Glück und Arbeit läßt unterm Druck der Gesellschaft eigentliche Erfahrung noch offen. Sie wird stets weniger geduldet. Auch die sogenannten geistigen Berufe werden durch Anähnelung ans Geschäft der Lust vollends entäußert. Die Atomisierung schreitet nicht nur zwischen den Menschen, sondern auch im einzelnen Indivi­duum, zwischen seinen Lebenssphären, fort."(92) Und damit nie­mand auf den Gedanken kommt, das sei der allein subjektive Eindruck eines heimatlosen Bürgers, der einen geistigen Beruf ausübt, beschwört Adorno den objektiven Charakter des Tat­bestandes: „Die Atomisierung des Menschen ist, als Ausdruck des Gesamtzustandes, auch die Wahrheit."(93)

Für diejenigen, deren Zweifel immer noch nicht restlos be­seitigt sind, verschafft sich Adorno nun zusätzlich die mora­lische Rechtfertigung, im Namen des geknechteten Individuums zu sprechen, wobei er abermals die Objektivität der Diagnose betont: „Objektiv verschwinden hinter der Einheit der Epoche alle jene Differenzen, die das Glück, ja die moralische Sub­stanz der individuellen Existenz ausmachen."(94) Daraus leitet Adorno seine Schlußfolgerungen für Wesen und Aufgabe der Philosophie ab.

Allerdings kommt er wieder nicht aus ohne eine jener Mani­pulationen, mittels deren die historische Konkretheit getilgt wird; er identifiziert kurzerhand jede Philosophie, die totalen, geschlossenen, systematischen Charakter trägt, mit der realen Totalität, um ihr so Apologetik vorwerfen zu können. „Der Totalitätsanspruch der traditionellen Philosophie, kulminierend in der These von der Vernünftigkeit des Wirklichen, ist nicht zu trennen von Apologetik. Die aber ist absurd geworden."(95) Die Lüge, daß solche Philosophie die „Vernünftigkeit des Wirklichen" behaupte, geht unversehens mit ein. Dagegen stellt sich heraus, daß gerade Adornos Philosophie mit ihren Thesen gegen die Totalität, wenn man ihr einmal auf den Grund geht, genau das ist, was sie vorgibt nicht zu sein, nämlich Apolo­getik. Immerhin wird dann auch im „Fischer Lexikon Philo­sophie" behauptet, daß „die Zeit geschlossener philosophischer Systeme auf lange Zeit vorbei"(96) sein dürfte. Adorno befindet sich mit seiner Theorie also nicht nur in illustrer, sondern in beinahe amtlicher Gesellschaft. Totalität ist historisch konkret, und Apologie ist es auch. Der Imperialismus sucht die Er­kenntnis seines Systems durch die Bekämpfung einer systema­tischen Philosophie zu verhindern. Wer das Ganze nicht mehr für denkbar und erkennbar hält, stellt sich in den Dienst zur Erhaltung des Ganzen. So sieht Adornos imperialistische Apo­logetik konkret aus.

Außerhalb einer systematischen Philosophie bleiben dem imperialistischen Philosophen allerdings sowohl ein weites Be­tätigungsfeld wie auch eine wichtige ideologische Funktion. Adorno versucht beides abzustecken: Da das Ganze nicht mehr philosophisch zu erfassen ist, hebt er die Dialektik von Be­sonderem und Allgemeinem auf; das Einzelne avanciert zum Gegenstand der Philosophie. Das Ganze kann nur noch im Einzelnen aufgesucht werden, aber es ist aus diesem nicht mehr zu abstrahieren. Wieder einmal wird Hegel zu Unrecht bemüht: „Aber die Kraft, welche das bestimmte Einzelne der Erkennt­nis aufschließt, ist immer die der Insuffizienz seiner bloßen Einzelheit. Was es ist, ist immer mehr als es selber. Insofern das Ganze im Mikrokosmos des Einzelnen am Werk ist, kann man mit Grund von einer Reprise Leibnizens bei Hegel reden."(97) Das neue philosophische Feld heißt also „Mikrokos­mos", das neue Verfahren „aufgehellte Dialektik", die als Prin­zip das „Wissen vom Ganzen" ausschließt: „Um vor derlei Versuchungen sich zu schützen, bedarf die aufgehellte Dialektik des unablässigen Argwohns gegen jenes apologetische, restau-rative Element, das doch selber einen Teil der Unnaivität ausmacht. Der drohende Rückfall der Reflexion ins Unreflek-tierte verrät sich in der Überlegenheit, die mit dem dialekti­schen Verfahren schaltet und redet, als wäre sie selber jenes unmittelbare Wissen vom Ganzen, das vom Prinzip der Dia­lektik gerade ausgeschlossen wird. Man bezieht den Stand­punkt der Totalität, um dem Gegner jedes bestimmte negative Urteil... aus der Hand zu schlagen."(98)

Ihre exponierte philosophische Ausarbeitung findet die Theo­rie des Einzelnen in Adornos spätem Hauptwerk, der „Nega­tiven Dialektik". Die explizite Forderung nach der Demontage der Systeme verbindet sich mit der Fetischisierung des Details: „Die Demontage der Systeme und des Systems ist kein formal-erkenntnistheoretischer Akt. Was ehedem das System den Details anschaffen wollte, ist einzig in ihnen aufzusuchen. Weder ob es dort sei noch was es sei, ist vorher dem Gedanken verbürgt. Damit erst käme die durchweg mißbräuchliche Rede von der Wahrheit als dem Konkreten zu sich selbst. Sie nötigt das Denken, vorm Kleinsten zu verweilen. Nicht über Kon­kretes ist zu philosophieren, vielmehr aus ihm heraus. Hin­gabe an den spezifischen Gegenstand aber wird des Mangels an eindeutiger Position verdächtigt."(99) Der Verdacht, so nahe er tatsächlich liegt, ist unbegründet. So wenig es überhaupt für jeden angeht, auf die Dauer keine Position zu beziehen, so sehr ist Position über ein subjektives Verhalten hinaus objektiv faßbar. Adornos Standort läßt sich also eindeutig bestimmen, noch dazu, wenn er seinen Angriffen auf die Totalität schließ­lich jene Eindeutigkeit gibt, die man bisher vielleicht vermißt hat. Adornos Theorie kulminiert nämlich in folgender Unter­stellung gegen Marx: „Nicht Hegel allein, sondern auch Marx und Engels, kaum irgendwo so idealistisch wie im Verhältnis zur Totalität, hätten den Zweifel an deren Unvermeidbarkeit, der doch der Absicht zur Veränderung der Welt sich aufdrängt, wie eine tödliche Attacke auf ihr eigenes System anstatt auf das herrschende abgewehrt... Ökonomie habe den Primat vor der Herrschaft, die nicht anders denn ökonomisch abgeleitet werden dürfe."(100) So absurd der Vorwurf des Idealismus ist, wenn im gleichen Atemzug vom Primat der Ökonomie gespro­chen wird, so eindeutig entlarvt sich diese Attacke selbst nicht nur als idealistisch, sondern auch als antikommunistisch. Anti-kommunismus ist letztlich die Funktion von Adornos philoso­phischer Mikrologie.

Insofern trägt diese Philosophie aber selbst systembestimmte Züge. Der Kampf zwischen den beiden entgegengesetzten Ge­sellschaftsordnungen in der Welt nimmt gegenwärtig immer umfassenderen Charakter an; es ist der Kampf zweier antago­nistischer Gesellschaftsordnungen. Philosophen, die die Gesell­schaftsordnung des Sozialismus, die Einheitlichkeit und Ge­schlossenheit seiner Theorie angreifen, integrieren sich selbst in das imperialistische System und ordnen sich dessen Global­strategie unter. „Gegen diese Einheitlichkeit und Geschlossen­heit der marxistisch-leninistischen Philosophie richten die mo­dernen Revisionisten immer wieder ihre Angriffe. Sie wollen zwar den wissenschaftlichen Sozialismus oder gewisse Erkennt­nisse des historischen Materialismus in Worten anerkennen, aber nicht die marxistisch-leninistische Philosophie als Ganzes. Sie richten ihren Angriff auf die marxistisch-leninistische Philo­sophie, um die ideologisch-theoretische Geschlossenheit und Einheit der marxistisch-leninistischen Partei zu untergraben und zugleich der bürgerlichen Philosophie in der Arbeiter­bewegung und in den sozialistischen Ländern Eingang zu ver­schaffen."(101) Was Hager hier im Hinblick auf die Revisionisten sagt, trifft weitgehend auch auf Adorno zu, der allerdings den wissenschaftlichen Sozialismus nicht einmal verbal anerkennt.

Wer wie Adorno gesellschaftliche Systeme als starr, dok­trinär und undialektisch verwirft, stellt sich außerhalb des ge­sellschaftlichen Fortschritts, isoliert und disqualifiziert sich sel­ber und muß sich den Vorwurf eines philosophischen Igno­ranten gefallen lassen. Die Ausschließlichkeit der Negation trägt viel zur schließlichen Resignation Adornos bei, weil totale Negation ohne Alternative ist und zwangsläufig schei­tern muß. Man möchte Adorno das folgende Wort von Tho­mas Mann vorhalten, das von bedeutend größerer gesellschaft­licher Einsicht zeugt: „Verstand ich den Vorgang recht, so unterlag dieser Herr der Negativität seiner Kampfposition. Wahrscheinlich kann man vom Nichtwollen seelisch nicht leben; eine Sache nicht tun wollen, das ist auf die Dauer kein Lebensinhalt; etwas nicht wollen und überhaupt nicht mehr wollen, also das Geforderte dennoch tun, das liegt vielleicht zu benachbart."(102)

Endnoten


74) Vgl. zum Beispiel Th. W. Adorno, Metakritik der Erkenntnistheorie, Stuttgart 1936, S. 230.
75) Th. W. Adorno, Moments musicaux. Neu gedruckte Aufsätze 1928 bis 1962, Frankfurt (Main) 1964, S. 160. Der Text stammt aus dem Jahre 1930.
76) Th. W. Adorno, Eingriffe, a. a. O., S. 111.
77) Noch 1959 warnt er in einem Vortrag vor dem Neonazismus, wenn auch in der inzwischen geläufigen agnostizistischen Weise: „Der Nationalsozialismus lebt nach, und bis heute wissen wir nicht, ob bloß als Gespenst dessen, was so monströs war, daß es am eigenen Tode noch nicht starb, oder ob es gar nicht erst zum Tode kam; ob die Bereitschaft zum Unsäglichen fortwest in den Menschen wie in den Verhältnissen, die sie umklammern." (Th. W. Adorno, Eingriffe, a. a. O., S. 125f.)
78)
Th. W. Adorno, Negative Dialektik, a. a. O., S. 202 f.
79) So lautet der Untertitel der „Minima Moralia".
80) Walter Jopke, Dialektik der Anpassung, Berlin 1965, S. 164.
81) K. Marx/F. Engels, Die deutsche Ideologie, in: MEW, Bd. 3, Berlin 1962, S. 42.
82) Zu diesem Problem steuert Bernard Willms einen interessanten Ge­dankengang bei. Er erläutert, daß Adornos eklektizistische Philo­sophierezeption ihn durch das Beharren auf der bloßen Theorie hinter Marx zurückführt, daß aus einer Kritik, die nicht das Ganze will, die Dialektik verschwunden ist und damit die Möglichkeit der Höher­entwicklung, und daß schließlich undialektische Kritik mit eigener Konsequenz zur utopischen' Verfallstheorie wird. Willms argumen­tiert: „Die Theorie hat die Beziehung zur Praxis, daß sie diese als möglicherweise schlechte Wirklichkeit mit ihrem Begriff konfrontier­bar macht, mit dem Begriff, den die Sache von sich selbst hat. So erhält die Theorie die Dimension des Kritischen. Die Wahrheit der Theorie - und das gilt für jenes philosophische Theorieverständnis, dem anzugehören das Pathos der kritischen Sozialtheorie einerseits ist -, die Wahrheit der Theorie ist Kritik, die Wahrheit der Kritik ist Dialektik. Die Wahrheit der Dialektik ist aber das Ganze. Das Ganze ist philosophisch das System . .. Die Rezeption der Aufhebung der Theorie in revolutionäre Praxis muß der Theoretiker, der es bleiben will, schwer frustrieren. Der dann wieder durch Marx hin­durch gelesene und festgehaltene, also nicht im marxistischen Sinne mehr für aufhebbar gehaltene Hegel verliert genuine Dimensionen formaler als auch materialer Art. Übrig bleibt ein nicht versühnbarer Widerspruch, ein nicht mehr in ein Ganzes aufhebbares Moment, das - auf diese verkürzte Weise zu begreifen versucht - in der Kritik einer systematischen Selbstbegründung, also auch einer systematischen Theorie seines Gegenstandes, seines Ganzen, nicht mehr fähig ist. Dem Unentschiedenen eines Einholens von Tradition, dem Marx nicht zur Aufhebung der Philosophie, also zur revolutionären Praxis hinreicht, sondern nur dazu, ihm die Rechtsphilosophie .höchst frag­würdig' zu machen; das also sich umfunktionieren läßt zu einer Posi­tion, die postulierend hinter Hegel zurückfallen muß, sich schließlich nur utopisch rechtfertigend -: dem Unentschiedenen solchen Ein­holens von Tradition entspricht Theorie, die ganz Kritik ist, so im Grunde wieder in eine utopisch aufgehobene Verfallstheorie ein­mündend." (Bernard Willms, Theorie, Kritik und Dialektik, in: Über Theodor W. Adorno, a. a. O., S. 67 f.)
83) Th. W. Adorno, Negative Dialektik, a. a. O., S. 160. Das hindert Adorno nicht, an anderer Stelle, besonders im Hinblick auf die Meta­physik, genau das Gegenteil zu behaupten und der Hegelschcn Philo­sophie zu bestätigen, daß sie „ihr positiv Absolutes an der Totalität der Negationen hatte". (Jargon der Eigentlichkeit, a. a. O., S. 116.)
84) 84 Th. W. Adorno, Minima Moralia, a. a. O., S. 145.
85) Abgedruckt in: Th. W. Adorno, Eingriffe, a. a. O., S. 11-28.
86) Ebenda, S. 13.
87) Ebenda, S. 17.
88) Geht Adornos Theorie ins Detail, dann schlägt sie solche Kapriolen wie die vom Bewußtsein, das sich unter dem Einfluß der objektiven Realität zwar verändert, aber eben nicht verändern darf, wenn es sich selbst und der Stagnation treu bleiben will: Der Geist „ist im Dasein entsprungen, als Organ, sich am Leben zu erhalten. Indem jedoch Dasein im Geist sich reflektiert, wird er zugleich ein anderes. Das Daseiende negiert sich als Eingedcnken seiner selbst. Solche Negation ist das Element des Geistes. Ihm selber wiederum positive Existenz, wäre es auch höhere Ordnung, zuzuschreiben, liefert ihn an das aus, wogegen er steht." (Th. W. Adorno, Minima Moralia, a. a. O., S. 328.)
89) Th. W. Adorno, Ohne Leitbild. Parva Aesthetica, Frankfurt (Main) 1968 (1. Aufl. 1967), S. 186 f.
90) Th. W. Adorno, Eingriffe, a. a. O., S. 67.
91) Th. W. Adorno, Minima Moralia, a. a. O., S. 61.
92) Ebenda, S. 170.
93) Th. W. Adorno, Jargon der Eigentlichkeit, a. a. O., S. 118.
94) Th. W. Adorno, Minima Moralia, a. a. O., S. 23.
95) Th. W. Adorno, Eingriffe, a. a. O., S. 13. - Solche „Kunstgriffe" häufen sich. Unter dem Vorwand, gegen Heidegger zu polemisieren, denunziert Adorno das Denken des Ganzen als dogmatisch und den Willen zum System als idealistisch: „Daß Philosophie Ganzheit zu entwerfen habe, war für ihn so dogmatisch wie einst nur einem Idealisten die Pflicht zum System." (Th. W. Adorno, Jargon der Eigentlichkeit, a. a. O., S. 117.)
96)  Das Fischer Lexikon Philosophie, Frankfurt (Main) 1958, S. 5.
97) Th. W. Adorno, Drei Studien zu Hegel, a. a. O., S. 97.
98) Th. W. Adorno, Minima Moralia, a. a. O., S. 333.
99) Th. W. Adorno, Negative Dialektik, a. a. O., S. 41. - Adorno versucht in diesem Zusammenhang sogar, den Beweis, daß philosophische Verallgemeinerungen unzulässig, weil verfälschend seien, mit
Marx und Engels zu führen, denn „Marx und Engels haben dagegen etwa sich gesträubt, daß man die dynamische Klassentheorie und ihren zugespitzten ökonomischen Ausdruck durch den einfacheren Gegensatz von Arm und Reich verwässere. Das Wesen wird durchs Resume des Wesentlichen verfälscht". (Negative Dialektik, a. a. O., S. 40 f.) Wiewohl er Marx' und Engels' Einwand gegen irreführende Vergröberung richtig wiedergibt, unterschlägt Adorno gerade das Wesentliche, daß nämlich die marxistische Klassentheorie nicht nur dynamisch, sondern in seinem Sinne auch total ist, weil sie eine voll­ständige, lückenlose und allgemeine Erklärung für den Standort jedes Menschen innerhalb eines historisch konkreten gesellschaftlichen Sy­stems der Produktion gibt.
100) Ebenda, S. 313.
101) Kurt Hager, Grundfragen des geistigen Lebens im Sozialismus, a. a. O., S. 43.
102) Thomas Mann, Mario und der Zauberer, in: Thomas Mann, Gesammelte Werke, 12 Bände, Berlin 1955, Band 9, S. 756.

Editorische Hinweise

Peter Reichel, Verabsolutierte Negation, Zu Adornos Triebkräften der gesellschaftlichen Entwicklung, Berlin 1972, S. 32-41