Die Spezifik von Adornos
Philosophie - gegenüber anderen bürgerlich-philosophischen
Varianten - besteht in der Verabsolutierung der negativen
Theorie. Man hat darunter sowohl die Absolutsetzung der
Theorie im Gegensatz zur Praxis wie auch die Absolutsetzung
der Negation im Gegensatz zur Dialektik zu verstehen. Aus
ihrer ständig geringeren Verbindung zur Praxis resultieren
Ohnmadit und Auflösung der Theorie, die im Nachhinein durch
die verabsolutierte Negation mit der Behauptung
sanktioniert werden, daß alle Widersprüche nicht nur ewig,
sondern auch unaufhebbar seien, das einzig angemessene
Verhalten zu jeglicher objektiver Realität in deren
permanenter Kritik, in ihrer totalen Negation bestünde.
Die negative Theorie wird in dem Maße total, wie Adorno die
Totalität einer schlechten Welt konzediert und immer mehr
von der historisch-konkreten Analyse absieht. Vom Verzicht
auf historische Konkretheit bis zum Einschwenken auf die
Positionen der Konvergenztheorie ist es dann nur noch ein
kleiner Schritt. Neuer Maßstab des angemessenen Verhaltens
wird nun die Kraft subjektiver und theoretischer Negation
der Totalität und die Unterwanderung und Auflösung der
faktischen Totalität durch eine totale Mikrologie. Adorno
will den Positivismus, der nach seiner Meinung jedem
Ganzen, jedem System immanent ist, durch die Negation
jedes Ganzen und jedes Systems zerstören. Inhaltlich wie
methodologisch entspricht dem seine mikrologische Praxis.
Indessen hat Adorno diese
Position nicht immer mit solcher Ausschließlichkeit
vertreten. In seinen frühen Schriften hat er die
kapitalistische Gesellschaftsformation durchaus als
Klassengesellschaft analysiert.(74)
Dort ist auch noch die Rede von der Notwendigkeit und
Möglichkeit tätiger Veränderung: „Was unveränderlich ist an
der Natur, mag für sich selber sorgen. An uns ist es, sie
zu verändern. Einer Natur aber, die trübe und schwer in
sich beharrt, ist füglich zu mißtrauen."(75)
Selbst Adornos Antifaschismus steht außer Zweifel. Noch
die Beurteilung der Niederlage des deutschen Imperialismus
im zweiten Weltkrieg unterscheidet ihn von den meisten
bürgerlichen Philosophen; schon der Terminus „befreites
Deutschland" (76) spiegelt die
historische Realität richtig wider. Adorno hat zwar die
Position des Antifaschismus nie verlassen(77),
ist aber auch nicht darüber hinausgelangt. Spätestens seit
1945 aber läßt sich die Regression der Adornoschen
Philosophie beobachten. Sie ist gekennzeichnet durch eine
ständig zunehmende Enthistorisie-rung und Fetischisierung
der imperialistischen Gesellschaft, durch wachsenden
Subjektivismus und Agnostizismus, durch die Aufgabe
einstiger sozialökonomischer Kriterien, die Tendenz zur
philosophiegeschichtlichen Argumentation und damit zur
Selbstisolierung der Philosophie gegen die Wirklichkeit.
Dieser Regressionsprozeß gewinnt seine Qualität aber auch
dadurch, daß er sich eindeutig antikommunistisch
polarisiert und von daher den neuen Adressaten seiner
verabsolutierten Negation findet: den dialektischen
Materialismus. 1966 heißt es dann in der „Negativen
Dialektik": „Das Banausische und Barbarische am
Materialismus verewigt jene Exterritorialität des Vierten
Standes zur Kultur, die mittlerweile nicht mehr auf diesen
sich beschränkt, sondern über die Kultur selber sich
ausgebreitet hat. Materialismus wird zum Rückfall in die
Barbarei, den er verhindern sollte; dem entgegenzuarbeiten
ist nicht die gleichgültigste unter den Aufgaben einer
kritischen Theorie."(78)
Diese eindeutige Ideologie imperialistischer Prägung
umreißt das Niveau, auf das der späte Adorno gesunken ist
und das tatsächlich nur noch individualistische
„Reflexionen
aus dem beschädigten
Leben"(79)
und nicht mehr revolutionäre Aktionen der progressiven
Klasse zuläßt.
Adornos Widerstand, wenn
man von einem solchen sprechen kann - und im Hinblick auf
gewisse Erscheinungen im Überbau des staatsmonopolistischen
Kapitalismus kann man es trotz allem -, beschränkt sich
also auf den nur geistigen Protest. Die Theorie wird
verabsolutiert, indem sie sich von der Praxis isoliert. Die
Ohnmacht der Theorie rührt aus ihrer Trennung von der
Praxis, von den revolutionären Klassenkräften her. „Die
Theorie ist nicht ohnmächtig, wenn sie als Stimulus
revolutionärer Prozesse theoretische Antizipation ihres
Ergebnisses wird, sondern dann, wenn sie ihre
Selbstreflexion zur einzigen Triebkraft der Geschichte
ernennt und dadurch die Veränderung der Welt auf die
Veränderung des Bewußtseins reduziert."(80)
Adorno hat sich ausdrücklich zu Reflexion und
Kontemplation bekannt, die aber im günstigsten Falle eben
nur zu einem „richtigen Bewußtsein" führen. In den
Feuerbachthesen haben sich Marx und Engels grundsätzlich
zum Verhältnis von Theorie und Praxis geäußert. Dort
erklären sie auch, daß es nicht ausreicht, „ein richtiges
Bewußtsein über ein
bestehendes
Faktum hervorzubringen",
sondern daß es notwendig ist, „die bestehende Welt zu
revolutionieren, die vor-gefundnen Dinge praktisch
anzugreifen und zu verändern"(81).
Der notwendige
Zusammenhang der Ausschließlichkeit der Theorie mit der
Ausschließlichkeit der Negation ist evident.(82) Theorie, die
sich nicht verwirklichen, also in Praxis aufheben will,
entbehrt des konstruktiven, des positiven Moments; sie
bleibt allein auf negative Kritik verwiesen. Denn nach
Adornos zentraler Erklärung „hat unbeirrte Negation ihren
Ernst daran, daß sie sich nicht zur Sanktionierung des
Seienden hergibt. Die Negation der Negation macht diese
nicht rückgängig, sondern erweist, daß sie nicht negativ
genug war; sonst bleibt Dialektik zwar, wodurch sie bei
Hegel sich integrierte, aber um den Preis ihrer
Depotenzierung, am Ende indifferent gegen das zu Beginn
Gesetzte. Das Negierte ist negativ, bis es verging. Das
trennt entscheidend von Hegel."(83)
Das trennt allerdings noch entscheidender von Marx und
insgesamt von der materialistischen Dialektik. Adorno
schließt auf diese Weise nicht nur jede Höherentwicklung
aus, sondern verzichtet auf die wesentliche Aufgabe der
Philosophie, theoretische Antizipation des Ergebnisses
gegenwärtiger und künftiger materieller Prozesse zu
leisten. Aus der Selbstbescheidung in nur kritischer
Interpretation folgen mit Notwendigkeit die abstrakte
Utopie und der praktische Pessimismus.
Adorno begibt sich
freiwillig in einen erkenntnistheoretischen Teufelskreis:
Indem er die Erkenntnis der objektiven Realität mit
untauglichen, agnostizistischen Mitteln - unter anderen dem
der totalen Kritik - bewerkstelligt, gelangt er zu einem
falschen Bewußtsein von ihr, nämlich zu einem Bild von der
Welt als einem „System des Grauens"; aus der so gewonnenen
Verallgemeinerung vom Unwesen der Welt als ihrem Wesen
bezieht er die Rechtfertigung, ihr mit der totalen Negation
zu begegnen. „Die Welt ist das System des Grauens, aber
darum tut ihr noch zuviel Ehre an, wer sie ganz als System
denkt, denn ihr einigendes Prinzip ist die Entzweiung, und
sie versöhnt, indem sie die Unversöhnlichkeit von
Allgemeinem und Besonderem rein durchsetzt. Ihr Wesen ist
das Unwesen."(84)'
Die falsche Prämisse ist Wurzel des falschen Bewußtseins;
mit dem falschen Bewußtsein aber wird nun die Prämisse
gerechtfertigt und als einzig richtige ausgegeben. So
bestätigt Negation sich selber. Wahrhaft ein circulus
vitiosus!
Nun beginnt Adorno, seine
Theorie von der Negation als Hauptaufgabe der Philosophie
auch publizistisch auszubauen. Seine verstärkten Bemühungen
darum datieren etwa seit dem Jahre 1961. Eine besondere
Rolle spielen dabei der im Januar 1962 im Hessischen
Rundfunk gehaltene und später gedruckte Vortrag „Wozu noch
Philosophie"(85)
und sein spätes philosophisches Hauptwerk „Negative
Dialektik" (1966). Der Schein der „Ideologiefreiheit", den
sich Adorno durch philosophieimmanente Argumentation geben
möchte, indem er seine Angriffe gegen Apologie und
Positivismus richtet, kann allerdings nicht lange gewahrt
werden. Zunächst benutzt er aber noch diesen Mantel, wenn
er folgende Maximen postuliert: „Philosophie, die dem
genügt, was sie sein will, und nicht kindlich hinter ihrer
Geschichte und der realen hertrottet, hat ihren Lebensnerv
am Widerstand gegen die heute gängige Übung und das, dem
sie dient, gegen die Rechtfertigung dessen, was nun einmal
ist."(86)
Im gleichen Rundfunkvortrag heißt es dann: „Ist Philosophie
noch nötig, dann wie von je als Kritik, als Widerstand
gegen die sich ausbreitende Heteronomie, als sei's
auch machtloser Versuch des Gedankens, seiner
selbst mächtig zu bleiben."(87)
Nun mag praktische Negation
des untergehenden Kapitalismus mit Sicherheit ihre
Berechtigung haben, doch Adornos Negation ist weder
praktisch noch allein gegen die untergehende
Gesellschaftsordnung gerichtet. Der „Versuch des
Gedankens, seiner selbst mächtig zu bleiben", ist
tatsächlich nichts anderes als der Ausdruck der Ohnmacht
einer von der Praxis isolierten Philosophie.(88)
Und in dem Maße, in dem Adorno von jeglicher historischen
Konkretheit absieht und nicht etwa nur den
staatsmonopolistischen Kapitalismus, sondern die gesamte
heutige objektive Realität der Negation unterwirft,
bekommt seine Theorie nun auch ihren eindeutigen
ideologischen und politischen Charakter: sie ordnet sich
fast nahtlos ein in die bürgerliche Konvergenztheorie.
Adorno unterscheidet sich
selbst darin nicht von anderen Konvergenztheoretikern, daß
er die Konsequenzen der vorausgesetzten sozialökonomischen
Konvergenz von Kapitalismus und Sozialismus zuerst im
ästhetischen Bereich auszutragen wünscht. So enthalten denn
vor allem seine literatur- und kunsttheoretischen Schriften
eine Sammlung von Diagnosen, Prognosen und Forderungen im
Sinne dieser Theorie. Als pars pro toto kann Adornos
Auffassung von dem großen Gemeinsamen stehen, das über die
Gattungsspezifik hinweg sämtliche Künste verbindet, nämlich
ihre Trennung von Realität, also die Negation der
Wirklichkeit. „Allein negativ hat man", meint Adorno, „was
inhaltlich, über den leeren klassifikatorischen Begriff
hinaus, die Kunstarten vereint: alle stoßen sich ab von der
empirischen Realität, alle tendieren zur Bildung einer
dieser qualitativ sich entgegensetzenden Sphäre."(89)
Hinter diesen „schönen" Worten verbirgt sich nichts anderes
als die Diffamierung des sozialistischen Realismus,
konkreter: die Forderung, Kunst habe sich auch im
Sozialismus gegen die sozialistische Basis zu richten,
sich von ihr zu trennen. Allerdings zögert Adorno nicht,
das bei anderer Gelegenheit auch weniger verklausuliert zu
formulieren. In einem Aufsatz im „Merkur" - der wie der
Rundfunkvortrag über Philosophie vom Januar 1962 stammt -
vermerkt Adorno, daß Kunst „zum gesellschaftlichen
Schauplatz nicht mehr den sei's auch zerfallenen
Spätliberalismus, sondern eine gesteuerte, überdachte,
integrierte Gesellschaft, die .verwaltete Welt'" habe,
woraus er schlußfolgert: „keine künstlerische Form wäre
länger denkbar, die nicht Protest ist"(90).
Damit ist denn auch noch die typische
konvergenztheoretische Manipulation vollzogen, die den
Vorwand aller abgeleiteten Postulate liefert, nämlich die
Subsum-tion von Kapitalismus und Sozialismus unter Begriffe
wie „integrierte Gesellschaft" und „verwaltete Welt". Hier
verläßt Adorno mit den anderen Konvergenztheoretikern den
Boden der Ästhetik und begibt sich durchaus praktisch in
den antikommunistischen Feldzug. Nun fordert er Kritik und
Negation des realen Sozialismus mit dem demagogischen
Anspruch, nur eben so den Sozialismus „vorm theoretischen
Abgleiten in den Positivismus"(91)
bewahren zu können.
So hat Adornos Theorie der
verabsolutierten Negation eine sehr reale Funktion; in
ihrem Affront gegen Positivismus und Apologie, die sie nur
abstrakt sieht, negiert sie unhistorisch die gesamte
objektive Realität, bekämpft gleichermaßen solche
divergierenden Gesellschaftsordnungen wie Kapitalismus und
Sozialismus, liefert sich damit selbst dem Fatalismus aus,
während sie objektiv beiträgt zur Destruktion der Kräfte
des gesellschaftlichen Fortschritts.
Adornos Totalität der
Negation äußert sich vorrangig als Negation der Totalität.
Hier laufen nun viele Gedankengänge und Folgerungen Adornos
zusammen: die These von der „Ato-misierung des Menschen"
als quasi-objektiver Begründung, die Gleichsetzung der
Totalität mit Dialektikfeindlichkeit, die Auffassung von
der Gewaltsamkeit des Ganzen sowohl gegenüber der Theorie
als auch gegenüber dem Individuum; die daraus abgeleitete
Notwendigkeit der Demontage der Systeme, der
Inthronisierung des Details, der negativen Handhabung der
Dialektik, die vom Ganzen nichts wissen darf; schließlich
die praktische Ausführung in aphoristischer Diktion und
Systemfeindlichkeit, in agnostizistischem Verzicht auf
Zusammenhänge und Verallgemeinerungen.
Doch selbst dieses Kramen
Adornos in Kleinigkeiten, Einzelheiten hat einen eminent
politisch-ideologischen Aspekt. Es richtet sich nämlich
einmal gegen die Einheitlichkeit und Geschlossenheit des
dialektischen Materialismus, gegen die Universalität des
Marxismus-Leninismus und zum anderen gegen die
gesellschaftliche Haupttriebkraft im Sozialismus, die
Übereinstimmung der Interessen des einzelnen mit den
Interessen des Ganzen. Deshalb ist es auch notwendig, sich
mit Adornos „Mikrologie" auseinanderzusetzen.
Ausgangspunkt der Adornoschen
Argumentation ist die Diagnose der „Atomisierung".
Der Terminus wird im Verständnis Adornos meist synonym für
den marxistischen der „Entfremdung" gebraucht. Diese sei
so total geworden, daß sie selbst den für Adorno stets
privilegierten Intellektuellen nicht mehr verschont.
„Einzig listige Verschränkung von Glück und Arbeit läßt
unterm Druck der Gesellschaft eigentliche Erfahrung noch
offen. Sie wird stets weniger geduldet. Auch die
sogenannten geistigen Berufe werden durch Anähnelung ans
Geschäft der Lust vollends entäußert. Die Atomisierung
schreitet nicht nur zwischen den Menschen, sondern auch im
einzelnen Individuum, zwischen seinen Lebenssphären,
fort."(92)
Und damit niemand auf den Gedanken kommt, das sei der
allein subjektive Eindruck eines heimatlosen Bürgers, der
einen geistigen Beruf ausübt, beschwört Adorno den
objektiven Charakter des Tatbestandes: „Die Atomisierung
des Menschen ist, als Ausdruck des Gesamtzustandes, auch
die Wahrheit."(93)
Für diejenigen, deren Zweifel
immer noch nicht restlos beseitigt sind, verschafft sich
Adorno nun zusätzlich die moralische Rechtfertigung, im
Namen des geknechteten Individuums zu sprechen, wobei er
abermals die Objektivität der Diagnose betont: „Objektiv
verschwinden hinter der Einheit der Epoche alle jene
Differenzen, die das Glück, ja die moralische Substanz der
individuellen Existenz ausmachen."(94)
Daraus leitet Adorno seine Schlußfolgerungen für Wesen und
Aufgabe der Philosophie ab.
Allerdings kommt er wieder
nicht aus ohne eine jener Manipulationen, mittels deren
die historische Konkretheit getilgt wird; er identifiziert
kurzerhand jede Philosophie, die totalen, geschlossenen,
systematischen Charakter trägt, mit der realen Totalität,
um ihr so Apologetik vorwerfen zu können. „Der
Totalitätsanspruch der traditionellen Philosophie,
kulminierend in der These von der Vernünftigkeit des
Wirklichen, ist nicht zu trennen von Apologetik. Die aber
ist absurd geworden."(95)
Die Lüge, daß solche Philosophie die „Vernünftigkeit des
Wirklichen" behaupte, geht unversehens mit ein. Dagegen
stellt sich heraus, daß gerade Adornos Philosophie mit
ihren Thesen gegen die Totalität, wenn man ihr einmal auf
den Grund geht, genau das ist, was sie vorgibt nicht zu
sein, nämlich Apologetik. Immerhin wird dann auch
im „Fischer Lexikon Philosophie" behauptet, daß „die Zeit
geschlossener philosophischer Systeme auf lange Zeit
vorbei"(96)
sein dürfte. Adorno befindet sich mit seiner Theorie also
nicht nur in illustrer, sondern in beinahe amtlicher
Gesellschaft. Totalität ist historisch konkret, und
Apologie ist es auch. Der Imperialismus sucht die
Erkenntnis seines Systems durch die Bekämpfung einer
systematischen Philosophie zu verhindern. Wer das Ganze
nicht mehr für denkbar und erkennbar hält, stellt sich in
den Dienst zur Erhaltung des Ganzen. So sieht Adornos
imperialistische Apologetik konkret aus.
Außerhalb einer
systematischen Philosophie bleiben dem imperialistischen
Philosophen allerdings sowohl ein weites Betätigungsfeld
wie auch eine wichtige ideologische Funktion. Adorno
versucht beides abzustecken: Da das Ganze nicht mehr
philosophisch zu erfassen ist, hebt er die Dialektik von
Besonderem und Allgemeinem auf; das Einzelne avanciert zum
Gegenstand der Philosophie. Das Ganze kann
nur noch im Einzelnen aufgesucht werden, aber es ist
aus diesem nicht mehr zu abstrahieren. Wieder einmal wird
Hegel zu Unrecht bemüht: „Aber die Kraft, welche das
bestimmte Einzelne der Erkenntnis aufschließt, ist immer
die der Insuffizienz seiner bloßen Einzelheit. Was es ist,
ist immer mehr als es selber. Insofern das Ganze im
Mikrokosmos des Einzelnen am Werk ist, kann man mit Grund
von einer Reprise Leibnizens bei Hegel reden."(97)
Das neue philosophische Feld heißt also „Mikrokosmos",
das neue Verfahren „aufgehellte Dialektik", die als
Prinzip das „Wissen vom Ganzen" ausschließt: „Um vor
derlei Versuchungen sich zu schützen, bedarf die
aufgehellte Dialektik des unablässigen Argwohns gegen jenes
apologetische, restau-rative Element, das doch selber einen
Teil der Unnaivität ausmacht. Der drohende Rückfall der
Reflexion ins Unreflek-tierte verrät sich in der
Überlegenheit, die mit dem dialektischen Verfahren
schaltet und redet, als wäre sie selber jenes unmittelbare
Wissen vom Ganzen, das vom Prinzip der Dialektik gerade
ausgeschlossen wird. Man bezieht den Standpunkt der
Totalität, um dem Gegner jedes bestimmte negative Urteil...
aus der Hand zu schlagen."(98)
Ihre exponierte
philosophische Ausarbeitung findet die Theorie des
Einzelnen in Adornos spätem Hauptwerk, der „Negativen
Dialektik". Die explizite Forderung nach der Demontage der
Systeme verbindet sich mit der Fetischisierung des Details:
„Die Demontage der Systeme und des Systems ist kein
formal-erkenntnistheoretischer Akt. Was ehedem das System
den Details anschaffen wollte, ist einzig in ihnen
aufzusuchen. Weder ob es dort sei noch was es sei, ist
vorher dem Gedanken verbürgt. Damit erst käme die durchweg
mißbräuchliche Rede von der Wahrheit als dem Konkreten zu
sich selbst. Sie nötigt das Denken, vorm Kleinsten zu
verweilen. Nicht über Konkretes ist zu philosophieren,
vielmehr aus ihm heraus. Hingabe an den spezifischen
Gegenstand aber wird des Mangels an eindeutiger Position
verdächtigt."(99)
Der Verdacht, so nahe er tatsächlich liegt, ist
unbegründet. So wenig es überhaupt für jeden angeht, auf
die Dauer keine Position zu beziehen, so sehr ist Position
über ein subjektives Verhalten hinaus objektiv faßbar.
Adornos Standort läßt sich also eindeutig bestimmen, noch
dazu, wenn er seinen Angriffen auf die Totalität
schließlich jene Eindeutigkeit gibt, die man bisher
vielleicht vermißt hat. Adornos Theorie kulminiert nämlich
in folgender Unterstellung gegen Marx: „Nicht Hegel
allein, sondern auch Marx und Engels, kaum irgendwo so
idealistisch wie im Verhältnis zur Totalität, hätten den
Zweifel an deren Unvermeidbarkeit, der doch der Absicht zur
Veränderung der Welt sich aufdrängt, wie eine tödliche
Attacke auf ihr eigenes System anstatt auf das herrschende
abgewehrt... Ökonomie habe den Primat vor der Herrschaft,
die nicht anders denn ökonomisch abgeleitet werden dürfe."(100)
So absurd der Vorwurf des Idealismus ist, wenn im gleichen
Atemzug vom Primat der Ökonomie gesprochen wird, so
eindeutig entlarvt sich diese Attacke selbst nicht nur als
idealistisch, sondern auch als antikommunistisch.
Anti-kommunismus ist letztlich die Funktion von Adornos
philosophischer Mikrologie.
Insofern trägt diese
Philosophie aber selbst systembestimmte Züge. Der Kampf
zwischen den beiden entgegengesetzten
Gesellschaftsordnungen in der Welt nimmt gegenwärtig immer
umfassenderen Charakter an; es ist der Kampf zweier
antagonistischer Gesellschaftsordnungen. Philosophen, die
die Gesellschaftsordnung des Sozialismus, die
Einheitlichkeit und Geschlossenheit seiner Theorie
angreifen, integrieren sich selbst in das imperialistische
System und ordnen sich dessen Globalstrategie unter.
„Gegen diese Einheitlichkeit und Geschlossenheit der
marxistisch-leninistischen Philosophie richten die
modernen Revisionisten immer wieder ihre Angriffe. Sie
wollen zwar den wissenschaftlichen Sozialismus oder gewisse
Erkenntnisse des historischen Materialismus in Worten
anerkennen, aber nicht die marxistisch-leninistische
Philosophie als Ganzes. Sie richten ihren Angriff auf die
marxistisch-leninistische Philosophie, um die
ideologisch-theoretische Geschlossenheit und Einheit der
marxistisch-leninistischen Partei zu untergraben und
zugleich der bürgerlichen Philosophie in der
Arbeiterbewegung und in den sozialistischen Ländern
Eingang zu verschaffen."(101)
Was Hager hier im Hinblick auf die Revisionisten sagt,
trifft weitgehend auch auf Adorno zu, der allerdings den
wissenschaftlichen Sozialismus nicht einmal verbal
anerkennt.
Wer wie Adorno
gesellschaftliche Systeme als starr, doktrinär und
undialektisch verwirft, stellt sich außerhalb des
gesellschaftlichen Fortschritts, isoliert und
disqualifiziert sich selber und muß sich den Vorwurf eines
philosophischen Ignoranten gefallen lassen. Die
Ausschließlichkeit der Negation trägt viel zur
schließlichen Resignation Adornos bei, weil totale Negation
ohne Alternative ist und zwangsläufig scheitern muß. Man
möchte Adorno das folgende Wort von Thomas Mann vorhalten,
das von bedeutend größerer gesellschaftlicher Einsicht
zeugt: „Verstand ich den Vorgang recht, so unterlag dieser
Herr der Negativität seiner Kampfposition.
Wahrscheinlich kann man vom Nichtwollen seelisch nicht
leben; eine Sache nicht tun wollen, das ist auf die Dauer
kein Lebensinhalt; etwas nicht wollen und überhaupt nicht
mehr wollen, also das Geforderte dennoch tun, das liegt
vielleicht zu benachbart."(102)
Endnoten
74) Vgl. zum Beispiel Th. W. Adorno, Metakritik der
Erkenntnistheorie, Stuttgart 1936, S. 230.
75) Th. W. Adorno, Moments musicaux. Neu gedruckte Aufsätze
1928 bis 1962, Frankfurt (Main) 1964, S. 160. Der Text
stammt aus dem Jahre 1930.
76) Th. W. Adorno, Eingriffe, a. a. O., S. 111.
77) Noch 1959 warnt er in einem Vortrag vor dem
Neonazismus, wenn auch in der inzwischen geläufigen
agnostizistischen Weise: „Der Nationalsozialismus lebt
nach, und bis heute wissen wir nicht, ob bloß als Gespenst
dessen, was so monströs war, daß es am eigenen Tode noch
nicht starb, oder ob es gar nicht erst zum Tode kam; ob die
Bereitschaft zum Unsäglichen fortwest in den Menschen wie
in den Verhältnissen, die sie umklammern." (Th. W. Adorno,
Eingriffe, a. a. O., S. 125f.)
78) Th. W. Adorno, Negative Dialektik, a. a. O., S.
202 f.
79) So lautet der Untertitel der
„Minima Moralia".
80) Walter Jopke, Dialektik der
Anpassung, Berlin 1965, S. 164.
81) K. Marx/F. Engels, Die deutsche
Ideologie, in: MEW, Bd. 3, Berlin
1962, S. 42.
82) Zu diesem Problem steuert
Bernard Willms einen interessanten Gedankengang bei. Er
erläutert, daß Adornos eklektizistische
Philosophierezeption ihn durch das Beharren auf der bloßen
Theorie hinter Marx zurückführt, daß aus einer Kritik, die
nicht das Ganze will, die Dialektik verschwunden ist und
damit die Möglichkeit der Höherentwicklung, und daß
schließlich undialektische Kritik mit eigener Konsequenz
zur utopischen' Verfallstheorie wird. Willms argumentiert:
„Die Theorie hat die Beziehung zur Praxis, daß sie diese
als möglicherweise schlechte Wirklichkeit mit ihrem Begriff
konfrontierbar macht, mit dem Begriff, den die Sache von
sich selbst hat. So erhält die Theorie die Dimension des
Kritischen. Die Wahrheit der Theorie - und das gilt für
jenes philosophische Theorieverständnis, dem anzugehören
das Pathos der kritischen Sozialtheorie einerseits ist -,
die Wahrheit der Theorie ist Kritik, die Wahrheit der
Kritik ist Dialektik. Die Wahrheit der Dialektik ist aber
das Ganze. Das Ganze ist philosophisch das System . .. Die
Rezeption der Aufhebung der Theorie in revolutionäre Praxis
muß der Theoretiker, der es bleiben will, schwer
frustrieren. Der dann wieder durch Marx hindurch gelesene
und festgehaltene, also nicht im marxistischen Sinne mehr
für aufhebbar gehaltene Hegel verliert genuine Dimensionen
formaler als auch materialer Art. Übrig bleibt ein nicht
versühnbarer Widerspruch, ein nicht mehr in ein Ganzes
aufhebbares Moment, das - auf diese verkürzte Weise zu
begreifen versucht - in der Kritik einer systematischen
Selbstbegründung, also auch einer systematischen Theorie
seines Gegenstandes, seines Ganzen, nicht mehr fähig ist.
Dem Unentschiedenen eines Einholens von Tradition, dem Marx
nicht zur Aufhebung der Philosophie, also zur
revolutionären Praxis hinreicht, sondern nur dazu, ihm die
Rechtsphilosophie .höchst fragwürdig' zu machen; das also
sich umfunktionieren läßt zu einer Position, die
postulierend hinter Hegel zurückfallen muß, sich
schließlich nur utopisch rechtfertigend -: dem
Unentschiedenen solchen Einholens von Tradition entspricht
Theorie, die ganz Kritik ist, so im Grunde wieder in eine
utopisch aufgehobene Verfallstheorie einmündend." (Bernard
Willms, Theorie, Kritik und Dialektik, in: Über Theodor W.
Adorno, a. a. O., S. 67 f.)
83) Th. W. Adorno, Negative
Dialektik, a. a. O., S. 160. Das hindert Adorno nicht, an
anderer Stelle, besonders im Hinblick auf die Metaphysik,
genau das Gegenteil zu behaupten und der Hegelschcn
Philosophie zu bestätigen, daß sie „ihr positiv Absolutes
an der Totalität der Negationen hatte". (Jargon der
Eigentlichkeit, a. a. O., S. 116.)
84) 84 Th. W. Adorno, Minima
Moralia, a. a. O., S. 145.
85) Abgedruckt in: Th. W. Adorno,
Eingriffe, a. a. O., S. 11-28.
86) Ebenda, S. 13.
87) Ebenda, S. 17.
88) Geht Adornos Theorie ins Detail,
dann schlägt sie solche Kapriolen wie die vom Bewußtsein,
das sich unter dem Einfluß der objektiven Realität zwar
verändert, aber eben nicht verändern darf, wenn es sich
selbst und der Stagnation treu bleiben will: Der Geist „ist
im Dasein entsprungen, als Organ, sich am Leben zu
erhalten. Indem jedoch Dasein im Geist sich reflektiert,
wird er zugleich ein anderes. Das Daseiende negiert sich
als Eingedcnken seiner selbst. Solche Negation ist das
Element des Geistes. Ihm selber wiederum positive Existenz,
wäre es auch höhere Ordnung, zuzuschreiben, liefert ihn an
das aus, wogegen er steht." (Th. W. Adorno, Minima Moralia,
a. a. O., S. 328.)
89) Th. W. Adorno, Ohne Leitbild.
Parva Aesthetica, Frankfurt (Main)
1968 (1. Aufl. 1967), S. 186 f.
90) Th. W. Adorno, Eingriffe, a. a.
O., S. 67.
91) Th. W. Adorno, Minima Moralia,
a. a. O., S. 61.
92) Ebenda, S. 170.
93) Th. W. Adorno, Jargon der
Eigentlichkeit, a. a. O., S. 118.
94) Th. W. Adorno, Minima Moralia,
a. a. O., S. 23.
95) Th. W. Adorno, Eingriffe, a. a.
O., S. 13. - Solche „Kunstgriffe" häufen sich. Unter dem
Vorwand, gegen Heidegger zu polemisieren, denunziert Adorno
das Denken des Ganzen als dogmatisch und den Willen zum
System als idealistisch: „Daß Philosophie Ganzheit zu
entwerfen habe, war für ihn so dogmatisch wie einst nur
einem Idealisten die Pflicht zum System." (Th. W. Adorno,
Jargon der Eigentlichkeit, a. a. O., S. 117.)
96) Das Fischer Lexikon
Philosophie, Frankfurt (Main) 1958, S. 5.
97) Th. W. Adorno, Drei Studien zu
Hegel, a. a. O., S. 97.
98) Th. W. Adorno, Minima Moralia,
a. a. O., S. 333.
99) Th. W. Adorno, Negative
Dialektik, a. a. O., S. 41. - Adorno versucht in diesem
Zusammenhang sogar, den Beweis, daß philosophische
Verallgemeinerungen unzulässig, weil verfälschend seien,
mit
Marx und Engels zu führen, denn „Marx und Engels haben
dagegen etwa sich gesträubt, daß man
die dynamische Klassentheorie und
ihren zugespitzten ökonomischen Ausdruck durch den
einfacheren Gegensatz von Arm und
Reich verwässere. Das Wesen wird durchs
Resume des Wesentlichen verfälscht". (Negative
Dialektik, a. a. O., S. 40 f.)
Wiewohl er Marx' und Engels' Einwand gegen irreführende
Vergröberung richtig wiedergibt, unterschlägt Adorno
gerade das Wesentliche, daß nämlich die
marxistische Klassentheorie nicht nur dynamisch, sondern in
seinem Sinne auch total ist, weil sie eine vollständige,
lückenlose und allgemeine Erklärung für den Standort jedes
Menschen innerhalb eines historisch konkreten
gesellschaftlichen Systems der Produktion gibt.
100) Ebenda, S. 313.
101) Kurt Hager, Grundfragen des geistigen Lebens im
Sozialismus, a. a. O., S. 43.
102) Thomas Mann, Mario und der Zauberer, in: Thomas Mann,
Gesammelte Werke, 12 Bände, Berlin 1955, Band 9, S. 756.
Editorische
Hinweise
Peter
Reichel, Verabsolutierte Negation, Zu Adornos
Triebkräften der gesellschaftlichen Entwicklung, Berlin
1972, S. 32-41
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