Stimmen aus dem linken Spektrum zu den Pariser Attentaten

Zu den mögliche Ursachen für die Anschläge von Paris

von  Kaveh Ahangar

11/2015

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Die Anschläge von Paris sind die schlimmsten Attentate auf französischem Boden seit der Nachkriegsära und die verheerendsten Anschläge in Europa seit den Madrider Zuganschlägen von 2004. Die unglaubliche Barbarei der Terroristen des 21. Jahrhunderts wird vor allem dann deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass Terroristen früher in erster Linie repressive Machthaber, das Militär oder wichtige strategische Stützpunkte attackierten und selten gezielt Zivilisten anvisierten. Laut Augenzeugenberichten haben die Attentäter angeblich „Allahu Akbar“ und „das ist für Syrien“ gerufen, bevor sie den Terrorakt verübten.

Der „Islamische Staat“ (Daesh) hat mittlerweile die Verantwortung für die Anschläge übernommen und begründet dies mit Frankreichs Beteiligung an der Bombardierung Syriens. Dies wurde von Präsident Hollande bestätigt, der bereits einen unerbittlichen Kampf gegen Daesh ankündigte. Die Reaktionen auf die Attentate haben wieder einmal veranschaulicht, dass Menschenleben im Okzident für die Mainstream-Medien und vielen Menschen im Westen einen höheren Stellenwert haben als Menschenleben im globalen Süden. Unabhängig davon muss man sich aber wieder Mal die Frage stellen, warum selbsternannte Muslime solche Taten begehen, falls es tatsächlich „Jihadisten“ gewesen sein sollten? Die Ursachen für so komplexe Sachverhalte sind natürlich immer sehr vielschichtig und nicht einfach zu benennen. Falls es also tatsächlich militante Islamisten gewesen sind, dann haben selbstverschuldete religiöse Verblendung sowie Manipulation und Indoktrinierung von außen sicherlich eine nicht unbedeutende Rolle gespielt. Aber ich behaupte, dass die Angriffskriege der NATO, struktureller Rassismus und sozio-ökonomische Ausgrenzung noch wichtigere Faktoren darstellen. Was erklärt die mögliche Beteiligung französischer Staatsbürger an den Anschlägen? Es gibt kaum ein anderes Land im Westen, wo Muslime und Vorstadtbewohner so sehr entmenschlicht und diskriminiert werden wie in Frankreich. Ende 2005 z.B. wurden zwei Jugendliche mit nordafrikanischen Wurzeln von der Polizei verfolgt und starben an einem Stromschlag. Daraufhin lieferten sich Banlieuesards in ganz Frankreich Straßenschlachten mit der Polizei. Es brannten mehr als 10.000 Fahrzeuge und Hunderte öffentliche Gebäude wurden zerstört. Innenminister Sarkozy bezeichnete damals die Jugendlichen als „Abschaum“ und verkündete die Vororte mit einem „Hochdruckreiniger“ zu säubern. Seitdem wurden der Alltagsrassismus immer augenscheinlicher und das Verhältnis zwischen weißen und afrikanisch-stämmigen Franzosen immer angespannter. Polizeigewalt gegen muslimische Jugendliche und die mediale Hetze nahmen ebenfalls deutlich zu. Das französische Strafrecht wurde immer repressiver, während die Doppelstandards, die bei der Meinungsfreiheit angelegt werden, in den letzten Jahren immer mehr ins Auge fallen.

In Paris wurden letztes Jahr Pro-Palästina-Demos verboten und in Frankreich gibt es ein allgemeines Burkaverbot. Die Meinungsfreiheit- und Vielfalt werden dort nicht nur von den Mainstream-Medien durch einseitige anti-muslimische Hetzte oder pro-Nato und pro-israelischer Berichterstattung, sondern auch durch den Staat immer weiter eingeschränkt: Im November 2014 verabschiedete der französische Senat ein Gesetz, welches unter anderem Kommentare, die Terrorismus verteidigen, billigen oder provozieren mit Haftstrafen von bis zu fünf und höchstens sieben Jahren ahndet.

In der Woche, in der Millionen Menschen in Frankreich für die Meinungsfreiheit demonstrierten, verhaftete die französische Polizei laut Amnesty International mindestens 69 Personen wegen „Anstiftung oder Verherrlichung des Terrorismus“. Zwischen dem 7. und 29.1 gab es laut französischem Justizministerium 486 Rechtsfälle, die mit dem Charlie Hebdo Attentat zusammenhängen bzw. angeblich rechtfertigen. Mindestens 18 Menschen wurden dabei zu Haftstrafen verurteilt. Erinnern wir uns: Der Komiker Dieudonné wurde verhaftet, nachdem er am 14. Januar auf seinem Facebook-Profil die Worte veröffentlichte: „Heute Abend fühle ich mich wie Charlie Coulibaly.“ In der französischen Stadt Lille wurde ein Schüler wegen „Verharmlosung des Terrorismus“ angeklagt, nachdem er und zwei Mitschüler sich weigerten, an einer Schweigeminute für die Opfer der Anschläge teilzunehmen. In Paris wurden ein psychisch kranker 38-jähriger Mann zu drei Jahren Haft verurteilt, nachdem er Polizisten gegenüber gesagt hatte: „Die französischen Schweinefressen haben bekommen, was sie verdient haben.“ Ein 8-jähriger Junge wurde von der Polizei verhört, nachdem er sagte: „Ich stehe an der Seite der Terroristen.“ Später gab er zu, dass er nicht einmal weiß, was Terrorist bedeutet.

Ein Großteil der muslimischen Bevölkerung Frankreichs lebt seit Jahrzehnten in den Ghettos der Banlieues. Dort sind sie von geografischer Ausgrenzung, schlechter Ausstattung des Wohnumfeldes, einer desolaten Anbindung an die Innenstädte und miserablen Wohnverhältnissen betroffen. Es herrschen also Verhältnisse vor wie in der „Dritten Welt“. Die Arbeitslosigkeit in den Problemvierteln liegt bei über 20% und die Jugendarbeitslosenquote bei knapp 42%, was etwa doppelt so hoch ist wie der nationale Durchschnitt. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein praktizierender Moslem zu einem Jobinterview eingeladen wird ist vier Mal geringer als bei einem Katholiken. Ein gut ausgebildeter katholischer Mann hat sogar fünf Mal bessere Chancen bei einem Interview eingeladen zu werden als ein gut ausgebildeter Moslem. Dieser Grad der Diskriminierungen ist sogar noch gravierender als bei Afro-Amerikanern im Vergleich zu weißen US-Bürgern. Ein Drittel der Cité-Bewohner lebt unter der Armutsgrenze und das Bildungsniveau liegt deutlich unter dem nationalen Niveau. 53 Prozent der arbeitenden Jugendlichen besitzt nur den niedrigsten Schulabschluss.

Muslime werden von der französischen Mehrheitsgesellschaft diskriminiert und vom Wohnungsmarkt, Arbeits-, Bildungs- und Gesundheitswesen ausgegrenzt. Muslime bilden etwa 60% der Insassen französischer Gefängnisse. Diese bilden zudem wichtige Rekrutierungsorte für militante Islamisten. Die jahrelange Marginalisierung, Armut und mediale Hetze gegen Moslems und Banlieusards sowie die gezielte westliche Destabilisierung muslimischer Staaten durch imperiale Kriege haben unter anderem dazu geführt, dass eine kleine Minderheit von mehr als 1200 Muslimen als „Jihadisten“ nach Syrien gereist ist. Das ist mehr als in jedem anderen europäischen Land. Einige von ihnen sind nun zurückgekehrt, um den Kampf in die westlichen Metropolen zu tragen. Sie sind zugleich Opfer und Täter, also die grausamen Symptome des kranken kapitalistischen Systems, in dem wir leben.

Menschen, die sich aus dem Westen dem „IS“ anschließen, verfolgen in der Tat rückschrittliche und menschenverachtende Ziele. Aber sie wollen es dem US-Imperium und dessen NATO-Verbündeten in erster Linie heimzahlen, um sich gegebenenfalls mit Gewalt zu nehmen, was ihnen und den Menschen in ihren Ursprungsländern bzw. ihren muslimischen Brüdern und Schwestern jahrelang verwehrt worden ist: ein Leben in Würde. Dies lässt sich z.B. aus den Aussagen der Attentäter von Boston und auch Charlie Hebdo schließen. Alle drei Attentäter von Charlie Hebdo wuchsen in armen Verhältnissen und in französischen Banlieues auf. Und alle drei verbrachten einige Zeit im Gefängnis, wo sie auch mit militanten Islamisten in Verbindung kamen. Chérif Kouachi, einer der Attentäter von Paris z.B., sagte in einem Interview, dass er sich erst durch Bushs Irak-Krieg radikalisierte: „Es war das einzige, was ich im Fernsehen sah, die US-Folter im Abu-Ghraib-Gefängnis, all diese Dinge haben mich dazu motiviert.“ Sharif wollte schon 2005 in den Irak, um gegen die Besatzer zu kämpfen, aber er wurde vorher bereits von der Polizei festgenommen. Dass die französische Regierung aktiv an den Interventionskriegen in Afghanistan und Irak beteiligt war, die Bombardierungen Malis und Libyens anführte und zuletzt auch Syrien bombardierte, bildet ebenfalls eine wichtige Quelle für Terrorismus.

Wir sollten eines nicht vergessen: Muslime sind nicht nur im „Nahen- und Mittleren Osten“ die größten Opfer militanter Islamisten, sondern auch im Westen. Allein in den ersten sechs Tagen nach dem Anschlag von Charlie Hebdo gab es ca. 60 gemeldete Angriffe und Drohungen gegenüber Muslimen. Dass Hollande nun verkündet, dass dem Entsetzen eine Nation gegenüber stehe, „die weiß, wie sie sich verteidigt. Die weiß, wie sie ihre Kräfte sammelt. Und die einmal mehr wissen wird, wie sie die Terroristen besiegen wird“ lässt leider keine besonnene Reaktion erwarten. Asylsuchende gehören neben den Opfern und Angehörigen der barbarischen Anschläge zu den ersten, die unter den Attentaten leiden, da nun die Grenzen bereits von mehreren Ländern dicht gemacht wurden. Was folgen wird sind vermehrte militärische Interventionen im „Mittleren Osten“ und die zunehmende Einschränkung der Bürgerrechte.

Die immer weiter zunehmende politische und mediale Heuchelei, die westlichen Interventionskriege und ihre verheerenden Folgen für die Menschen in der Region, der im Westen vorherrschende Rassismus und sozio-ökonomische Ausgrenzung bilden den eigentlichen Nährboden für den gewaltbereiten Islamismus von heute. Solange die Übel nicht an der Wurzel gepackt werden, wird es immer wieder Menschen geben, die sich solchen Gruppen anschließen. Rassismus, Imperialismus und Kapitalismus sind neben religiös-extremistischen Ideologien wohl die Hauptursachen für den Zulauf von gewaltbereiten Islamisten.

Quelle: http://diefreiheitsliebe.de/ vom 16.11.2015