Stimmen aus dem linken Spektrum zu den Pariser Attentaten

»Frankreich ist im Krieg« – gegen sich selbst

von Bernhard Sander (sozialismus)

11/2015

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Die Terroranschläge in Paris werden Folgen haben. Sie trafen ein Land, das sich nicht mehr im Klaren ist, wie man zusammen leben soll. Bereits nach den Attentaten im Januar hatte der Ministerpräsident von einem Land der Apartheid gesprochen, ohne dass daraus Konsequenzen gezogen worden wären.

Energische Maßnahmen zur Bekämpfung dieser Apartheitsstrukturen, der Ausgrenzung, von der größere Teile der migrantischen Bevölkerung betroffen sind, und die auch jetzt wieder einen Hintergrund der terroristischen Aktionen bildet, sind erneut ausgeblieben. Symptomatisch für die Zerrissenheit des Landes und seine verkommene politische Kultur ist vielleicht, wie wenig seit Jahren aus den Reihen der Bürgerschaft und der Konservativen gegen die rassistischen Anfeindungen gegenüber der farbigen Justizministerin interveniert wird, die sich um humanen Strafvollzug bemüht.

Die Anschläge trafen ein Fußballspiel, ein Konzert und mehrere Restaurants. Es handelt sich also nicht um ein ideologisches Ziel (»Charlie hebdo«), von dem man sich innerlich distanzieren kann, oder um rassistisch definierte Ziele (koscherer Supermarkt, jüdische Schule in Toulouse). Vielmehr – und dies motiviert das eingeschüchterte Schweigen der Bevölkerung – zielten die Attentäter auf Freizeitaktivitäten von BürgerInnen, die ein gewisses Einkommen voraussetzen.

Es traf Orte, an denen sich vorwiegend jüngere Menschen aufhalten. Dieses Gefühl eines Angriffs auf die Jugend und die gesamte Lebensweise sprach auch der Staatspräsident in seiner Rede vor dem Kongress mehrmals an: »Frankreich liebt das Leben, den Sport, die Geselligkeit«.

Profitieren wird davon jene Partei, die bereits seit langem die Bedrohung des französischen »savoir vivre« in den Mittelpunkt ihrer Agitation stellt – und dabei auch und in stärkerem Maße von jüngeren Menschen gestützt wird. Der Front National hat dem Gefühl der Verunsicherung Erklärungen gegeben: die »Migrantenflut«, die von der Brüsseler und Berliner Bürokratenkaste durchgesetzten Importe von schlechten Lebensmitteln, billigen Arbeitskräften und zu Dumpingbedingungen hergestellten Konkurrenzprodukten, der Vergleich betender Menschen im öffentlichen Raum mit der Besatzungszeit, für die Le Pen gerade vor Gericht stand. Der Status der Franzosen ist ungleich prekärer als auf dem Sonnendeck der MS Deutschland und die sozialen Gräben im Land sind bei stagnierender Wirtschaft in den letzten Jahren gewachsen, obwohl der Amtsantritt der Sozialistischen Partei 2012 anderes erhoffen ließ.

Nach den Januar-Attentaten hatte die Regierung 2.500 zusätzliche Sicherheitskräfte eingestellt, im Sommer die Gesetze zur digitalen Überwachung verschärft und vor Ende Oktober die Freizügigkeit an den innereuropäischen Grenzen aufgehoben (wegen der Flüchtlinge, aber auch als Sicherungsmaßnahme zum Weltklimagipfel). Da diese Maßnahmen offenbar den Terror nicht fernhalten konnten, wiederholte Marine Le Pen bereits am Tag nach den Anschlägen in staatstragenden Kulissen die Forderungen des FN:

»Wiedererrichtung der Landesgrenzen – Ohne Grenzen keine Sicherheit! Aufrüstung der Sicherheitsorgane. Vernichtung des Islamismus. Schließung der radikalen Moscheen. Ausweisung aller Ausländer mit doppelter Staatsbürgerschaft und ohne gültige Papiere.« Wir sind nicht gegen Moslems, wir sind gegen den Islamismus. Anders als bei den Attentaten auf Charlie Hebdo und den koscheren Supermarkt wurde Madame Le Pen zu den Gesprächen der Parteispitzen mit dem Staatspräsidenten eingeladen.

Dessen Rede drei Tage nach den Anschlägen nimmt diese Grundmelodie auf und versucht die Stimmung einzufangen: »Wir werden alles, was in der Macht des Staates steht, einsetzen«. Dies sei kein Krieg der Zivilisationen sondern ein Krieg gegen IS. Neben der »militärischen Antwort« mit Ausweitung der Bombardements in Syrien bedeutet dieser Krieg, dass alle zusammengeführt werden sollen (unter den namentlich genannten Nachbarstaaten-Staaten fehlte Iran). Die von den Konservativen um Sarkozy und vom Front National geforderte Allianz mit Russland wird es nicht geben, sondern ein Treffen mit Obama und Putin. Der NATO-Bündnisfall wird schon deshalb nicht ausgerufen, um nicht als zu schwach zu erscheinen; stattdessen wird die Beistandsverpflichtung der EU angerufen.

Staatspräsident Holland bereitet den Weg in die weitere autoritäre Ausgestaltung und Änderung der Verfassung, deren Machtbefugnisse bereits General De Gaulle einzigartig ausgreifend gestaltete. Er gibt damit künftigen Präsidenten, also auch einer potenziellen Wahlsiegerin Le Pen, alle Machtmittel in die Hand. Das Gesetz über den jetzt ausgerufenen Ausnahmezustand (von 1955) soll den Entwicklungen der Technologie angepasst werden.

Die Möglichkeiten der Übertragung hoheitlicher Funktionen von der Zivilverwaltung auf das Militär soll durch Änderung des Verfassungsartikels 36 über den Belagerungszustand erweitert werden – gemäß der Vorschläge der Balladur-Kommission aus Sarkozys Amtszeit. Die Aberkennung der Staatsbürgerschaft selbst für geborene Franzosen soll möglich werden. Richter sollen auf nachrichtendienstliche Informationen zugreifen können, Strafen erhöht und der polizeiliche Waffengebrauch erleichtert werden. Diese Notstandsgesetze sollen noch in der Woche nach den Attentaten vom Parlament verabschiedet und danach dem Staatsrat zur Prüfung der Verfassungskonformität vorgelegt werden, da man »auch im Ausnahmezustand immer noch Rechtsstaat bleiben« wolle.

Bei Gendarmerie und Polizei sollen weitere 5.000 Stellen eingerichtet werden, der Justizvollzug erhält 2.500 Stellen und 1.000 der Zoll. Der Stellenabbau beim Militär wird gestoppt, stattdessen mit Reservisten eine Nationalgarde aufgebaut. Die Mehrkosten müsse man aufbringen, denn der Sicherheitspakt stehe höher als der Stabilitätspakt, verkündete Hollande. Man sang die Marseillaise, einige Abgeordnete riefen »Vive la France!«, niemand rief »Vive la République!« – auch nicht die Linken.

Wenn sich das Land aus der Schockstarre wieder herauskommt, wird es nicht mehr dasselbe sein. Der Weg in den autoritären Kapitalismus ist eingeschlagen, und es ist fast schon unerheblich, wie stark sich der »Angriff auf unsere Lebensweise« (Hollande) in zählbare Stimmengewinne des Front National bei den Regionalwahlen im Dezember umsetzen wird.
 

Quelle: http://www.sozialismus.de/kommentare_analysen/ 19.11.2015