Um 1900
Die Anfänge der proletarischen Jugendbewegung

von Exekutiv-Komitee der kommunistischen Jugendinternationale

11/2016

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Die ersten proletarischen Jugendorganisationen entstanden bedeutend später als die Organisationen der erwachsenen Arbeiterschaft, um Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, also ungefähr um dieselbe Zeit, als der europaische Kapitalismus in seine im­perialistische Phase eintrat. Dieses zeitliche Zusammentreffen ist kein Zufall, die proletarische Jugendbewegung ist ein Kind des imperialistischen Zeitalters, das einschneidende Änderungeil in der Lage der arbeitenden Jugend hervorgerufen hat:

1. Durch die stürmische Entwicklung des Kapitalismus wurden immer breitere Kreise der Jugend in den kapitalistischen Produktionsprozeß hineingezogen. Maschinenarbeit und Arbeitsteilung ermöglichten in immer weiterem Maße die Verwendung der billigen, jungen Arbeits­kräfte. Gleichzeitig änderte sich auch die Stellung der Lehrlinge in den Handwerksbetrieben, die sich durch Lehrlingszüchterei gegen die Konkurrenz der Großbetriebe zu halten versuchen. Die aus der Zeit der Zunftverfassung verbliebenen patriarchalischen Formen der Hand­werkslehre (Zugehörigkeit des Lehrlings zur Meisterfamilie, Erziehungs­recht des Meisters usw.) verloren ihren positiven Inhalt und wurden ein Mittel verschärfter kapitalistischer Ausbeutung.
Diese ganze Entwicklung bedeutete jedoch nicht nur verstärkte kapitalistische Ausbeutung, sondern auch wachsende Selbständigkeit des jugendlichen Arbeiters und Lehrlings. Er wurde von der Familie unabhängig, sein Selbstbewußtsein erwachte. Die noch im Banne zünftlerischer Traditionen stehende erwachsene Arbeiterschaft mußte die Arbeiterjugend entsprechend ihrer wachsenden Bedeutung im Pro­duktionsprozeß als eine neue Kraft in der Arbeiterbewegung aner­kennen.
2. Die Last des sich mit der imperialistischen Entwicklung immer mehr verstärkenden Militarismus empfand die zum Selbstbewußtsein er­wachende junge Arbeiterschaft um so drückender.

Einen großen Einfluß auf die Entstehung und Entwicklung der proletarischen Jugendorganisationen hatte auch die russische Revolution 1905. Auch hierin kennzeichnet sich die internationale proletarische Jugend­bewegung als ein echtes Kind der imperialistischen Epoche, die nicht nur eine Zeit verschärfter Ausbeutung und Reaktion, sondern auch der Vor­abend der proletarischen Revolution ist.

Die Hauptaufgaben der Jugendorganisationen er­gaben sich schon aus ihren Erstehungsursachen. In erster Linie stand der Kampf gegen den Militarismus, die sozialistische Erziehungsarbeit und der Kampf um Jugendschutz. Indessen wurden diese Aufgaben nicht gleich­mäßig in allen Ländern gestellt, man muß vielmehr nach ihrer Aufgaben­stellung zwei Richtungen in den Anfängen der proletarischen Jugendbe­wegung unterscheiden.

Die erste und älteste Richtung, die sich den antimilitaristischen Kampf als Hauptaufgabe stellte, umfaßte die große Mehrheit der Jugendorganisa­tionen. Das typischste Beispiel dieser Organisationen waren die „Jungen Garden" Belgiens, die, in den Jahren 1886/89 gegründet, zugleidi die erste proletarische Jugendorganisation waren. Sie wurden als Rekrutenvereine mit dem ausgesprochenen Zweck der antimilitaristischen Propaganda ge­schaffen, nachdem in den vorangegangenen Jahren mehrmals bei Streiks das Militär gegen die Arbeiterschaft eingesetzt worden war. Die Haupt­tätigkeit der „Jungen Garden" war die ideologische Vorbereitung der jungen Arbeiter auf die Militärdienstzeit und die Agitation bei der perio­dischen Ausmusterung und Einberufung der Rekruten. Diese Arbeit hatte großen Erfolg, und trotz Verfolgungen wuchs die Organisation rasch.

Nach dem Muster der „Jungen Garden" entstanden Organisationen des ähnlichen Typus in Schweden 1895, Schweiz 1900, Italien 1901, Norwegen 1902, Spanien 1903, Süddeutschland 1904 und in einigen anderen Ländern.

In allen diesen Ländern waren die Jugendorganisationen ausgesprochen politisch, nahmen an allen politischen Kämpfen der Arbeiterschaft aktiven Anteil. Neben dem antimilitaristischen Kampf leisteten sie durch­wegs auch sozialistische Erziehungsarbeit, dagegen stand der Kampf um wirtschaftliche Forderungen und Jugendschutz mehr im Hintergrund.
Die zweite Richtung, die sich als Hauptaufgabe den Kampf um Jugend­schutz stellte, war vertreten durch die Organisationen in Österreich (ge­gründet 1894) und Norddeutschland (gegründet 1904/05).

Beide Organisationen entstanden als Lehrlingsvereine mit der Haupt­aufgabe der Kontrolle und Verbesserung der Jugendschutzbestimmungen. Sie erklärten sich ausdrücklich als unpolitisch, ihre Erziehungsarbeit war keine ausgesprochen sozialistische, sondern allgemeine Bildungsarbeit. Antimilitaristische Agitation lehnte der norddeutsche Verband ab, der österreichische kannte sie nur in der Theorie.

Die Ursachen dieser Einstellung waren verschiedene.

1. Der äußere Anlaß war die reaktionäre Gesetzgebung in Preußen und Österreich, die politische Jugendorganisationen untersagte. Das durfte jedoch nur die Taktik, aber nicht die Grundsätze der Organisation bestimmen. Schließlich hatten ja auch in anderen Ländern die Arbei­terjugendorganisationen stark unter Verfolgungen zu leiden.

2. Der tiefere Grund war der, daß in Deutschland und Österreich Sozialdemokratie und Gewerkschaften nicht nur am stärksten, sondern auch schon am meisten reformistisch verseucht waren und ihren refor­mistischen Einfluß auch auf die Jugendorganisationen geltend mach­ten. Unter diesem Einfluß wurde insbesondere in Österreich der ursprünglich nur aus taktischen Gründen vorgeschützte unpolitische Charakter der Jugendorganisationen allmählich zum Grundsatz.

3. Die Alterszusammensetzung spielte in diesem Zusammenhang auch eine gewisse Rolle. Die norddeutsche und österreichische Organisation umfaßte hauptsächlich die 14- bis 18jährigen (die Lehrlinge). Da­gegen lag in den romanischen und skandinavischen Organisationen das Schwergewicht bei den älteren und politisch aktiveren Jahrcsklasscn (den Rekruten). Diese Jugendorganisationen trugen teilweise die Charakterzüge einer zweiten, jungsozialistisehen Partei, neben den dort verhältnismüßig schwachen sozialdemokratischen Parteien.

Zweifellos machten sich in der norddeutschen und österreichischen Organisation schon in ihren Anfängen gewisse reformistische Tendenzen bemerkbar. Aber es wäre grundfalsch, die damaligen norddeutschen und österreichischen Verbände in ihrer Gesamteinstellung als reformistisch zu bezeichnen oder mit der heutigen SAJ. zu vergleichen. Sie waren trotz einiger Mängel Kampf Organisationen, die tapfer gegen die Polizei und Lehrlingsschinderei kämpften.

Andererseits waren in den skandinavischen und romanischen Jugend­organisationen auch starke syndikalistische und anarchistische Strömun­gen. In Schweden war die Mehrheit der sozialistischen Jugendorganisa­tionen anarchistisch, worauf 1903 die Spaltung und Neugründung einer sozialdemokratischen Jugendorganisation erfolgte. Eine Spaltung zwischen Syndikalisten und Sozialdemokraten erfolgte auch in Italien 1907, wobei ebenfalls die Mehrheit bei den Syndikalisten blieb.

Alle Jugendorganisationen waren in jener Periode organisatorisch und politisch selbständig, mit Ausnahme Böhmens (der heutigen Tschechoslowakei). Die Stellung der sozial­demokratischen Parteien und Gewerkschaften zu den Jugendorganisa­tionen war fast überall eine ablehnende. In fast allen Ländern schuf sich die Arbeiterjugend ihre Organisationen aus eigener Initialioe und eigener Kraft, ohne die Hilfe der Parteien und Gewerkschaften. In vielen Fällen haben diese die Jugendorganisationen nicht nur nicht unterstützt, sondern sogar bekämpft. Nur einige Führer des linken Flügels in der II. Inter­nationale verstanden die Bedeutung der proletarischen Jugendbewegung und unterstützten sie.

Quelle: 20 Jahre Jugendinternationale, von den Anfängen der proletarischen Jugendbewegung, hrg. v. Exekutiv-Komitee der kommunistischen Jugendinternationale, Wien 1927, S. 5ff