In einem Jahr mit 13 Monden
oder warum, wann und wie Rainer Werner Fassbinder (1945-1982) in seinem "Aus Schmerz geborenen Film" selbst die Filmkamera führte

von Richard Albrecht

11/2018

trend
onlinezeitung

In den letzten Jahren ist es um den vor gut fünfunddreißig Jahren verstorbenen Autor, Theatermacher und Filmer Rainer Werner Fassbinder (1945-1982) stiller geworden. Seit seinem rasch verfilmten Bühnenstück Katzelmacher (1968/69) galt der auch bald international bekannt werdende deutsch(sprachig)e Künstler als creatives enfant terrible und bohèmistischer Bürgerschreck. In diesem Beitrag erinnert Richard Albrecht auch mit Blick auf den aktuell hochgelobten kommerziellen Film Babylon Berlin[1] und dessen korrupte Ästhetik an Fassbinders vielfältiges und produktives cineastisches Wirken am Beispiel von dessen vor vierzig Jahren entstandenen Film In einem Jahr mit 13 Monden (Erstaufführung am 17. November 1978). In diesem stark authentischen und zugleich an die Grenzen des filmästhetischen Realismus´ führenden Werk war Rainer Werner Fassbinder (nicht wie üblich “nur”) Autor, Regisseur und Produzent, sondern übernahm dazu auch noch Kameraführung und Schnitt.

In memoriam Gerhard Zwerenz (1925-2015)

Den ersten, grundlegenden Aspekt der Titelfrage/n kann ich nur ansprechen. Und nicht beantworten. Auch der bis heute kundigste Fassbinder-Biograph, Christian Brad Thomsen, bleibt hier beiläufig und erwähnt nur: nach dem auch kommerziell erfolgreichen Kinofilm Die Ehe der Maria Braun (1978). Thomsen wertet diesen Film als etwas „Einzigartiges im Werk Fassbinders.“ Es war zugleich der „letzte gemeinsame Film mit Kameramann Michael Ballhaus, und man spürt, daß die beiden sich allmählich verbraucht hatten.“ Und weiter: „Seine nächsten beiden Filme, In einem Jahr mit 13 Monden und Die dritte Generation, beschloß Fassbinder selbst zu filmen, um wieder ein ganz physisches, persönliches und stofflich herausforderndes Verhältnis zur Filmarbeit zu bekommen.“ (Thomsen 1993: 354/455)

Zu beiden folgenden Frageteilen kann ich - gesichertes - Material zusammenstellen und - anstatt weiterer - dem Fassbinder-Biographen folgen, der die Form Fassbinder´scher Kameraführung mehrfach ansprach. Das bedeutet: hier wird nur eine filmgeschichtliche Marginalie folgen. Nicht mehr. Freilich auch nicht weniger.

WANN

Die deutsch(sprachig)e Ausgabe von Thomsens Fassbinder-Buch enthält eine 1992 zusammengestellte Filmographie. Die dort verzeichneten 47 Fassbinder-Filme vom 8 mm Erstwerk This Night (1966) über WDR-produzierte Filme wie die fünfteilige Familienserie Acht Stunden sind kein Tag (1972, Kosten etwa 1,375 Millionen DM) oder die opulente vierzehnteilige Fernsehserie Berlin Alexanderplatz (1979/80, Kosten etwa 13 Millionen DM) bis zu Fassbinders letzter Filmarbeit, Querelle (1982, Kosten etwa 4,4 Millionen DM) enthalten die üblichen Listen zu Buch, Regie, Kamera, Schnitt, Ton, Musik, Bauten, Ausstattung, Kostüme, Maske, Assistenzen, Darstellern und Produktionsbeteiligten.

Dabei fällt erstens auf, daß der jeweils als „Franz Walsch“ ausgewiesene Fassbinder nicht nur in seinen Filmen der ersten Jahre wie in seinen erstbeiden „großen“, jeweils achtundachtzigminütigen, Kinofilmen Liebe ist kälter als der Tod (1969) und Katzelmacher (1969) selbst den Schnitt übernahm, sondern dies auch später praktizierte, zuletzt gemeinsam mit seiner letzten Lebensgefährtin Juliane Lorenz für die Kinofassung von Bollwieser (1976/77), bei Despair – Reise ins Licht (1977), Die Ehe der Maria Braun (1978), Berlin Alexanderplatz (1979/80), Lilli Marleen (1980), Theater in Trance (1981) und Querelle (1982). Auffällig ist zweitens, daß Fassbinder einen seiner Filme nach 1969, In einem Jahr mit 13 Monden (1978), wieder allein schnitt. Speziell dieser Fassbinder-Film war drittens zugleich eines der beiden Werke, für die der technisch routinierte und marktlich durchgesetzte Filmemacher auch die Kameraführung allein übernahm. Der andere war Die dritte Generation (1978/79). Hier arbeitete Juliane Lorenz wieder als Cutterin mit.

Das heißt: In einem Jahr mit dreizehn Monden (1978), der Film zwischen der Fassbinder-Episode in Deutschland im Herbst (1977/78) und Die dritte Generation (1978/79), sollte besonders interessieren, genauer: wie arbeitete der Kameramann Fassbinder, der mit national wie international so bekannten professionellen Kameraleuten wie zunächst Dietrich Lohmann, sodann Michael Ballhaus und zuletzt Xaver Schwarzenberger gedreht hatte, selbständig an diesem Film, in dem er Produktion, Buch, Regie, Ausstattung, Kamera und Schnitt übernahm?

GRIM TALES
by Douglas Messerli

I found Fassbinder's In a Year with 13 Moons such an overwhelmingly rich film that it is hard to know where to begin. Perhaps the somewhat occult explanation at the beginning of the film, despite the fact that Fassbinder seems to negate it throughout, will help to explain the contradictory realities the film presents.”

Fassbinders In einem Jahr mit 13 Monden (1978, Länge 124 ´, Kosten etwa 700.000 DM) gilt nicht nur in Deutschland als sein „persönlichstes und radikalstes Werk“ (Töteberg 2002: 112). Sondern wurde noch gut drei Jahrzehnte später auch von Douglas Messerli, dem us-amerikanischem Editor des International Cinema Review, als „überwältigend reicher Film“ mit grimmig-unerbittlicher Geschichte vorgestellt.

WIE

Der 13-Monde-Film, dieser „wundersam makabre Streifen“ (Gerhard Zwerenz), gilt als Fassbinders erschütterndstes Filmwerk, auch als Reaktion auf den Suizid seines damaligen Münchener Freundes Armin Meier und als seine eigene Rückkehr ins Leben. In einem Jahr mit 13 Monden erzählt melodramatisch die letzten fünf Lebenstage eines Transsexuellen in Frankfurt am Main in einer an die Welt von Schlachthöfen erinnernden Leidensgeschichte dieses „überflüssigen Stück“ Fleisches mit seiner Selbstkasteiung in Form einer Autokastration. Fassbinder variiert erneut sein Grundthema: entfremdete und deformierte, emphatie- und liebesunfähige Figuren mit regressiven und infantilen, selbst- und fremdzerstörerisch wirkenden Verhaltensmustern (zitiert nach Töteberg 2002: 114): „Der Film ist eine Zumutung. Fassbinder erspart dem Zuschauer nichts: Hau bloß ab, du blöde Kuh, sonst schlacht ich dich ab.“

Werkgeschichtlich steht der 13-Monde-Film zwischen Fassbinders ersten erfolgreichen, auch kommerziellem Durchbruchsfilm Die Ehe der Maria Braun (1978, Länge 120 ´, Kosten etwa 1,975 Millionen DM) und Die dritte Generation (1978/79, Länge 110 ´, Kosten etwa 800.000 DM). Zugleich waren dieser, den damaligen deutschen RAF-Terrorismus auf nihilistische Nullbotschaften zuspitzende, Film wie der der 13-Monde die letztbeiden Filme, in denen Fassbinder jeweils selbst und allein die Kamera übernahm: die produktive Zusammenarbeit mit dem langjährigen Kameramann Michael Ballhaus, der dann in den USA arbeitete, endete mit Fassbinders erstem „deutschen Hollywoodfilm“ (Töteberg 2002: 116-121) Die Ehe der Maria Braun. Dies war eine filmästhetische Zäsur, hatten beide doch nicht nur im WDR-Fernsehfilm Martha (1973, Länge 111 ´, Kosten etwa 500.000) eine spezielle Kameraführung zur Überführung oder Transformation von motion [Bewegung] in emotion [Gefühl] erprobt, sondern in der filmischen Darstellungsform einer Begegnung (die volksmundig „Liebe auf den ersten Blick“ genannt wird) ihr Markenzeichen geschaffen: „Die Kamerafahrt, kombiniert mit einem Zoom, der so genannte Vertigo-Effekt, wurde zum Markenzeichen von Ballhaus, der mit Fassbinder vierzehn Filme drehte [und] dann nach Hollywood ging.“ (Töteberg 2002: 83; Ballhaus soll mehrfach für den Oscar nominiert worden sein und erhielt zuletzt 2012 den Deutschen Filmpreis für „herausragende Verdienste um den deutschen Film.“)

Fassbinders 13-Monde-Film war eine „privat finanzierte Low-Budget-Produktion“: dem Fassbinder-Biographen Trinborn gilt er nicht nur als avantgardistisches, sondern auch als Fassbinders „persönlichstes und engagiertestes Werk“ und „wichtiger Meilenstein seiner immer radikaler werdenden filmischen Ästhetisierung.“ (Trimborn 2012: 333-336). Der Fassbinders Biograph Thomsen wertet diesen „aus Schmerz geborenen“ (so Fassbinders Freund und Kollege Werner Schroeter [1945-2010]) Film als „umstritten“. Es geht um einen Transvestiten, der „nicht mehr weiterleben kann“ und dessen Tod doch nichts Anderes ist „als der letzte, verzweifelte Schrei nach einem anderen Leben.“ (Thomsen 1993: 331/332) Zugleich wird herausgearbeitet, daß Fassbinder, auch in autotherapeutischer Absicht, zahlreiche Rezeptionserwartungen dramaturgisch zerstört, hintertreibt und, ähnlich wie vor ihm Jean-Luc Godard in Die Karabinieri (1963), „von seinen Tragödien ablenkt anstatt sie auszumalen.“ In diesem paradoxen Prinzip drückt Fassbinder „ein hohes Maß an emotionalem Engagement“ aus, indem „er gerade diesem Engagement entgegenarbeitet.“ (Thomsen 1993: 332; alle folgenden Zitate ebenda: 333-340)

Wie das filmästhetisch-cinematechnisch inszeniert wird hat Thomsen an zahlreichen Szenen veranschaulich: insbesondere die kontrapunktische Gegenläufigkeit von Bild und Ton soll bewußt Rezeptionsirritationen schaffen und diffus werden, „weil wir weder dem Bild noch dem Ton unsere volle Aufmerksamkeit schenken“ (können). Ist nach diesem „provozierenden Prinzip“ der Rezeptionsverwirrung der 13-Monde-Film aufgebaut, so fehlt diesem Fassbinder-Film über „zerstörte Menschenschicksale“ auch jeder melodram-versöhnliche Schluß – nicht aber, wie Thomsen am „Monolog über Erwins Kindheit“ herausarbeitet, die gesellschaftliche Kritik als Kritik der Gesellschaft wenn es heißt: „Das macht keiner selbst, sein Leben kaputt. Das macht die Ordnung, die die Menschen für sich geschaffen haben.“

Mit seinen 13 Monden kommt Fassbinder an die Grenzen allen (film-) künstlerischen Realismus und nähert sich einer „surrealen Dimension: hinter dem Alltagsrealismus lauert der Vorhof der Hölle.“ Die verdeutlicht Thomsen am „Monolog über Erwins Kindheit“ als dem „ergreifendsten Text, den Fassbinder je geschrieben hat“: „auch dieser wird gegen seinen Wortlaut gefilmt: die Nonne spricht nicht zu beiden, die sie gebeten haben, Erwins Kindheitsgeschichte zu erzählen, sondern nur zu sich selbst. Sie läuft rastlos im Kreuzgang herum, völlig desinteressiert an ihren ´Zuhörern´… Sie spricht mir monoton-teilnahmsloser Stimme, als läse sie irgendeinen beliebigen Buchtext vor, und ihre Stimme wird außerdem noch von einer musikalischen Begleitung zerstückelt, die ebenfalls eher zertreut als die Konzentration auf das gesagte verstärkt. Und die Schnitte und Kamerabewegungen zwischen der Nonne und ihren ´Zuhörern´ sind überdies so apart, daß auch das Bild dem Bericht der Nonne entgegenarbeitet.“

Fassbinders Kameraführung ordnet sich wie sein späterer Zusammenschnitt dieses Zweistundenfilms seinem übergreifend-allgemeinen Anliegen als Autor, Regisseur und Produzent unter. Es bleibt wenig Eigenständigkeit. Die Kamera enthüllt in einer Schlüsselszene das „gnadenlose Spiegelbild“ des vor den Spiegel gezerrten Transvestiten „und sein/ihr Aussehen, das fette, leere Gesicht, das lahme Gesicht verhöhnt, sehen wir, die Zuschauer, etwas ganz anderes im Spiegel: einen zutiefst erschrockenen Menschen, der um Liebe fleht, so hilflos und gedemütigt, daß auf dieser Grundlage keine Liebe mehr möglich ist.“ Und in einer anderen Schlüsselszene nach dem Tod verstärkt die Kameraführung die Irritationsstrategie und trägt so zu einer paradoxen Wirksamkeit bei, die mir vorkommt wie bewußt angestrebte gebrochen-erweiterte Meta-Identifikation durch Distanzierung von aller spontanen Einfach-Identifikation und damit auch als rezeptive Wirksamkeitssperre:

„Die Kamera bleibt lange vor der Tür von Elviras Wohnung, ausgesperrt von Anton Saitz´ Leitwächter, während Saitz mit der Roten Zora auf dem Fußboden bumst und Elvira leblos auf dem Bett liegt. Und als die Tür endlich geöffnet wird, distanziert sich der Film noch immer von der konkreten Szene, indem auf der Tonspur ein langer Monolog präsentiert wird, den die noch lebende Elvira über frühere Selbstmordversuche hält, die als Klageruf einer Seele in höchster Not gemeint waren. Indem so wieder der Zusammenhang zwischen Bild und Ton gesprengt wird, das Bild von dem einen Selbstmord erwählt und der Ton von einem anderen, erreicht Fassbinder nicht den Effekt, den man eigentlich erwartet: der Eindruck des Todes wird nicht verstärkt, sondern geschwächt, weil sich die Zuschauer noch immer nur schwer auf die beiden Handlungsabläufe konzentrieren können und daher beides nur halb miterleben.“

[1] Speziell diesen Film fand ich in einer Hinsicht anregend: Warum nicht (wie bei der Transaktionssteuer zunächst geplant) den Filmcent erheben als besondere Abgabeform in Höhe von einem Prozent des Gesamtproduktionskosten bei allen Filmen mit Produktionskosten von mehr als zwei Millionen Euro für kulturwissenschaftliche Forschungen zu Filmwirksamkeiten?
 

LITERATUR

Richard Albrecht
Mahler, Meinhof, Baader - waren ihre Kader. Subjektwissenschaftliches zur neo-terroristischen Ideologie; in: FORUM Wissenschaft, 29 (2012) 1: 52-55; Netzfassung http://www.bdwi.de/suchen/5670814.html?searchshow=richard albrecht

Von der Filmkamera über den Schwebezustand zum Schwindelcharakter:
http://filmundbuch.files.wordpress.com/2012/05/film-und-buch-1-20122.pdf

Mindfuck:
http://filmundbuch.files.wordpress.com/2012/07/film-und-buch-2.pdf

Fassbinder. Dokumentarfilm von Annekatrin Hendel 2015. Länge 1:32´
https://www.youtube.com/watch?v=ZtdZ9AuWeEs

Douglas Messerli
Grim Tales; in: International Cinema Review, Los Angeles, August 18, 2010

http://internationalcinemareview.blogspot.de/2010/09/rainer-werner-fassbinder-in-einen-jahr.html

Michael Töteberg
Rainer Werner Fassbinder. Reinbek: Rowohlt, 2002 [rororo-rm 50458], 160 p.

Hans Helmut Prinzler, Filme; in: Thomsen, Rainer Werner Fassbinder; deuts(sprachig)e Ausgabe 1993: 406-421

Christian Brad Thomsen
Fassbinder, hans liv og film. Kopenhagen: Gydendal, 1991, 409 p.

Rainer Werner Fassbinder. Leben und Werk eines maßlosen Genies. Aus dem Dänischen von Ursula Schmalbruch. Hamburg: Rogner & Bernhard bei Zweitausendeins, 1993, 427 p. [und 62 sw-Abbildungen]

Fassbinder: Life and Work of a Provocative Genius. Translated by Martin Chalmers. London/Boston: Faber & Faber, 1997, X/358/16 p.; Minneapolis: University of Minnesota Press, ²2004, X/358 p.

Jürgen Trimborn
Ein Tag ist ein Jahr ist ein Leben. Rainer Werner Fassbinder. Die Biographie. Berlin: Propyläen, 2012, 464 p. [und 25 sw-Abbildungen]

Gerhard Zwerenz
Der langsame Tod des Rainer Werner Fassbinder. Ein Bericht. München: Schneekluth, 2002, 183 p.

poetenladen-Beiträge über Rainer Werner Fassbinder (2008-2010):
http://www.poetenladen.de/zwerenz-gerhard-sachsen32-fassbinder-totenfeier.htm http://www.poetenladen.de/zwerenz-gerhard-sachsen33-rainer-werner-fassbinder.htm http://www.poetenladen.de/zwerenz-gerhard-sachsen97-fassbinder.htm http://www.poetenladen.de/zwerenz-gerhard-sachsen99-17-fassbinder-oper.htm


Editorische Hinweise

Wir erhielten diesen Artikel vom Autor für diese Ausgabe. Dr. Richard Albrecht ist PhD., Kulturforscher, Sozialwissenschaftler, Wissenschaftsjournalist. Sein Leitkonzept The Utopian Paradigm (1991). Stücketrilogie Bewährung AbrechnungStehcafé (1981, 1995, 1997). – 2018: Er arbeitet als Kolumnist des Linzer Fachmagazins soziologie heute. Seine aktuelle Forschung: Das Hillsborough-Drama und seine Folgen.