Zum offenen Ausbruch kam die revolutionäre
Bewegung in Kiel. Der Anlaß war die Weigerung der
Matrosen der Hochseeflotte, in diesem Stadium des
Zusammenbruchs noch einmal auszufahren und der
englischen Flotte eine Seeschlacht zu liefern, die
an der militärischen Lage nichts ändern konnte,
aber die Vernichtung der deutschen Flotte und den
sicheren Untergang der 80 000 Matrosen
herbeigeführt hätte, die als letztes Riesenopfer in
den unersättlichen Rachen des imperialistischen
Kriegswahnsinns geworfen werden sollten. Aber das
war nur der Funke ins Pulverfaß, der die Explosion
herbeiführte. Seit Jahren war in der Flotte so
viel revolutionärer Zündstoff angehäuft, hatte sich
die innere Klassenfront zwischen Mannschaften und
Offizieren so scharf herausgebildet, daß es nur
eines solchen äußeren Anstoßes bedurfte, um die
ausgehungerten, erbitterten, von ihren Offizieren
geschurigelten Mannschaften der Flotte zur offenen
Meuterei zu bewegen. In dem letzten Briefe eines
Matrosen an seinen Vater vom 2. November 1918, der
von sozialdemokratischer Seite veröffentlicht
wurde, werden die kritischen Tage auf der
Hochseeflotte mit der drastischen Frische des
direkten Erlebnisses geschildert:
"An Bord, 2. November 1918.
Mein lieber Vater!
Am Montagnachmittag ging die gesamte Hochseeflotte
aus dem Hafen, alles, was dazu gehört, wie
Torpedoboote, kleine Kreuzer und sämtliche
Linienschiffe. Obwohl SMS .Kaiser', .Pillau' und
.Königsberg' Maschinenhavarie hatten, sind die
Schiffe doch mitgefahren. Das war kein gutes
Zeichen . . . Bei uns stieg nachmittags der
gesamte Flottenstab über und
quartierte sich für mehrere Tage ein,
obwohl bei gewöhnlichem Manöver der Stab nur
einen Tag hier an Bord bleibt. Es wurde uns nun am
Montagabend bekannt, daß ein großer Vorstoß
geplant war, der, falls er zur Ausführung gelangt
wäre, uns allen das Leben gekostet hätte. Aber es
kam anders. Wir erfuhren, daß andere Schiffe bei
Helgoland die Feuer herausreißen wollten. Unsere
Besatzung hat sich dem einmütig und solidarisch
angeschlossen. Wir zum Beispiel und noch andere
Schiffe mehr wären überhaupt nicht von der Stelle
gefahren. Nachts 3 Uhr sollte die gesamte Flotte
auslaufen, aber die einzelnen Schiffskommandanten
meldeten ihrem Geschwaderchef und dieser dem
Flottenchef, Admiral Hipper, daß die Besatzungen
gemeinschaftlich den Gehorsam verweigern wollten.
Daraufhin wurde das Unternehmen um vier Stunden
verschoben. Da sich aber die Stimmung nicht
gebessert hatte, obwohl uns die Kommandanten durch
allerhand schön gehaltene Reden anfeuern und
irreführen wollten, wurde es nochmals verschoben
und dann noch einmal.
Am Donnerstag früh (31. Oktober) sollte es aber
unbedingt rausgehen. Es wurde folgendes
Geheimsignal an alle abgegeben: .Vorhaben ist
unbedingt zur Ausführung zu bringen'. 8 Uhr 15
Minuten sollte die Fahrt auf Nimmerwiedersehen
angetreten werden, aber es kamen ungefähr eine
Stunde vorher wieder Geheimsignale zurück:
.Vorhaben kann unmöglich ausgeführt werden'. Die
Offiziere hatten nämlich inzwischen einsehen
müssen, daß sie mit diesen Besatzungen ihren
verbrecherischen Streich nicht ausführen konnten.
Wir fuhren zurück nach Wilhelmshaven, und der Stab
mußte unverrichteter Sache wieder von Bord gehen.
Da konnte man süßsaure Mienen beobachten, aber wir
haben nur alle uns herzlichst die Hand geschüttelt
mit den Worten: .Sieg auf der ganzen Linie!'
Nun wurden wieder große Reden von den einzelnen
Schiffskommandanten gehalten, deren Sinn ich nicht
erst wiederzugeben brauche. Jetzt wollten sie es
so hinstellen, als sei nur ein harmloses Manöver
beabsichtigt gewesen. Daß dies aber nicht der Fall
war, will ich Dir im einzelnen beweisen: Zunächst:
auf dem Panzerkreuzer .Derfflinger' haben die
Offiziere ihre ganzen Privatsachen ans Land
gebracht, ferner hat ein Offizier einen
Abschiedsbrief an seine Eltern geschrieben, in dem
u. a. stand: .Diese Schmach wollen wir nicht
mitmachen, wir sterben lieber den Heldentod.' (Und
die 80 000 unschuldigen Menschen natürlich mit.)
Der Panzerkreuzer .Moltke' hatte in der Nacht, in
der es um 3 Uhr abgehen sollte, seinen hinteren
Schornstein rot angemalt. Das ist das sicherste
Zeichen, daß wir kein Manöver vorhatten. Als aber
die Besatzung, besonders die Heizer, es gemerkt
hatten, wurde auf den Befehl zum Auslaufen der
Gehorsam verweigert. Nachträglich hat der
Schornstein seinen grauen Anstrich wieder erhalte?
Unsere Minensuchboote hatten Befehl erhalten, die
Fahrstraße nach Skagen und weiter
hinaus von Minen zu säubern. Was hatten wir
oben bei Skägen verloren? Manövriert wird in der
Helgoländer Bucht, aber nicht da oben. Zu dem
Unternehmen waren schließlich eine große Menge
U-Boote bei Helgoland konzentriert worden.
Lieber Vater! Es bedarf gar keiner Beweise weiter;
wir haben es alle gefühlt, daß es unsere letzte
Fahrt wäre, daher die instinktive
Gehorsamverweigerung. Auf einzelnen Schiffen sind
nun daraufhin noch kleinere
und größere Ausschreitungen vorgekommen; bis jetzt
sind 1000 Mann verhaftet und nach
Bremerhaven transportiert worden. Ich will
Dir noch mitteilen, daß, wenn nicht bald der
Waffenstillstand kommt,
hier die schönste Militärrevolte ausbricht und man
gezwungen ist, den Weg nach der Heimat
mit dem Gewehr zu ebnen . . .
Dein Sohn Otto."
Der Brief schließt mit dem Satze: „Es ist schade
um jeden Blutstropfen, der noch für diese Lumpen
vergossen wird." Das war die allgemeine Stimmung
nicht nur in der Marine, sondern auch bei den
abgekämpften, ausgebluteten Divisionen der Armee.
Die Soldaten hatten alle „den Kanal voll". Als
Zeugnis dafür fügen wir hier noch die
Ausführungen des Vorsitzenden der vierten
Feldarmee, Levinsohn, an, eines Mannes, der in den
Revolutionsmonaten an der Seite der
Regierungssozialisten Ebert-Scheidemann unentwegt
für „Ruhe und Ordnung" gearbeitet und gehetzt hat
und der im Vorwort einer von ihm 1919
herausgegebenen Broschüre „Die Revolution an der
Westfront" schreibt:
„Parole: Heimat. Komme, was kommen mag. Je weiter
wir zurückgehen, desto eher ist der Friede da. —
Kriegsmüdigkeit im höchsten Maße. Jeder Tag des
Rückmarsches erhöhte die Kriegsunlust. Von Kampf
und Schlacht wollte niemand mehr etwas hören. Die
Armee zog im Gefühl einer geschlagenen Armee
zurück. Kriegspsychologen kann nicht entgangen
sein, wie sehr zu jener Zeit der Haß gegen die
Offiziere sich in heftigen Drohworten Luft machte.
Noch ruhte die geballte Faust in der Hosentasche,
aber wie lange noch? Aus der Heimat kamen keine
Nachrichten. Postsperre hatte die Armee
abgeschlossen. Und doch brannte die Revolution in
den Herzen der Soldaten. Ihr Vorbote waren
Meutereien, die unterdrückt, Plünderungen, die
übersehen wurden. Die Disziplin war aufs äußerste
gelockert. Nur ein Blinder oder ein bewußter
Fälscher kann behaupten, daß die Armee siegreichen
Widerstand, daß sie überhaupt Widerstand geleistet
hätte. Es war der Rückzug, der der Armee die
letzte Kraft nahm. Nichts anderes. So wurde die
Revolution in der Armee aus der Armee selbst
erzeugt."
Mit der Verhaftung der meuternden Matrosen der
Hochseeflotte hatte die Marineleitung versucht,
der revolutionären Bewegung Herr zu werden. Diese
Verhaftung jedoch wurde der Anstoß zum offenen
Widerstand, zur Organisierung des bewaffneten
Aufstandes gegen das herrschende Regime. Die
Verhinderung des Auslaufens der Flotte war der
erste Erfolg der revolutionären Bewegung. Jetzt
mußte weitergegangen werden. Die Matrosen des
dritten Geschwaders in Kiel verlangten die
Freilassung ihrer Kameraden. Auf den Schiffen und
an Land wurden Besprechungen und Versammlungen
organisiert, gleichzeitig wurde
die Verbindung mit den Arbeitern der Werften
aufgenommen. Eine auf den 2. November ins Kieler
Gewerkschaftshaus einberufene Versammlung wurde
von den Kommandobehörden verboten. Sie glaubten
immer noch, mit den alten Mitteln des
wilhelminischen Staates die revolutionäre Bewegung
unterdrücken zu können. An Stelle der Versammlung
riefen die Matrosen nun für Sonntag, den 3.
November, zur Demonstration auf dem großen
Exerzierplatz auf. Tausende von Arbeitern und
Matrosen fanden sich ein, um die Freilassung der
verhafteten Kameraden zu fordern. Anschließend
zog ein mächtiger Demonstrationszug zur Stadt. Die
Soldaten wurden aus den Kasernen herausgeholt und
schlössen sich an. An der Ecke der Brunswiker und
Karlstraße kam es zu einem Zusammenstoß. Ein Trupp
Chargierter, von einem Offizier geführt, stellte
sich dem Demonstrationszug entgegen. Als die
Aufforderung an die Demonstranten,
auseinanderzugehen, nicht befolgt wurde, ließ der
Offizier schießen. Tote und Verwundete, darunter
Frauen und Kinder, waren die Opfer. Die Matrosen
schössen wieder, und der Offizier, der das
Blutbad veranlaßt hatte, wurde tödlich getroffen.
Nun gab es kein Zurück mehr. Hinter sich hatten
die Matrosen die drohende Vergeltung der
militärischen Macht: Gefängnis, Zuchthaus, den
Tod. Vor sich sahen sie den Frieden, den Sturz der
herrschenden Gewalten, die Heimkehr und die
Umgestaltung der Gesellschaft. Den Weg vorwärts
hatte das revolutionäre Rußland gezeigt. Man war
entschlossen, ihn zu gehen. Ein Soldatenrat wurde
gebildet. Er konnte am Vormittag des 4. November
schon feststellen,
daß vierzigtausend bewaffnete Soldaten hinter ihm
standen. Der Gouverneur suchte noch immer die
stündlich wachsende Bewegung gewaltsam zu
unterdrücken. Aber er fand in Kiel keine Truppen
mehr, die bereit waren, auf Vater und Mutter oder
auf ihre Brüder zu schießen. Bataillone, die vom
IX. Armeekorps angefordert worden waren, ließen
sich am Bahnhof entwaffnen und verbrüderten sich
mit den Matrosen und Arbeitern. Die Wandsbeker
Husaren wurden vor der Stadt mit
Maschinengewehrfeuer empfangen und preschten
schleunigst wieder ab. Nun unternahm die
Sozialdemokratie letzte Rettungsversuche. Die
Gewerkschaften suchten zu beruhigen. Die
„Schleswig-Holsteinische Volkszeitung" brachte
einen Aufruf, in dem es hieß:
"Die
bedauerlichen Vorgänge in Kiel haben uns
veranlaßt, sofort einen Vertreter nach Berlin zu
entsenden. Genosse Kürbis hat heute früh mit der
Regierung verhandelt. Er trifft abends wieder in
Kiel ein und dann wird gehandelt und Wandel
geschaffen werden (!). Genosse Ebert hat keinen
Zweifel mehr darüber gelassen, was ja von
vornherein feststeht, daß die Partei jede nutzlose
Fortführung des Kampfes ablehnt. Sie bittet,
angesichts der innerpolitischen Lage und des
entschlossenen Willens der Regierung,
einzugreifen (!), dringend, daß die Arbeiter in
den Betrieben bleiben."
Ohnmächtige Drohungen, hinter denen die Angst
zitterte, ausgestoßen von einer bankrotten Partei!
Was konnten sie noch ausrichten? Am Abend des 4.
November beschlossen die Vertrauensleute der
großen Betriebe den Generalstreik. Am Morgen des
5. November ruhte die Arbeit, und die Matrosen
besetzten die Werften. Sie trugen rote Schleifen,
rote Kokarden, rote Mützenbänder. Überall sah man
die Farben der Revolution, und von den Masten der
Kriegsschiffe wehte die rote Flagge.
Nur
das Kriegsschiff „Schlesien" schloß sich der
Bewegung nicht an und floh aus der Kieler Föhrde.
Das Linienschiff „König", das im Dock lag, trug
noch die Kriegsflagge. Die Matrosen verlangten,
sie solle eingezogen werden. Offiziere
verteidigten das Symbol des untergehenden
Kaisertums. Sie schössen in die versammelten
Matrosen hinein. Die Schüsse der Matrosen
antworteten, der Kommandant und ein anderer
Offizier wurden niedergestreckt, einige verwundet.
Am Mast des „König" ging die Flagge der Revolution
hoch, und sie grüßte die andere, die auf dem
Schlosse des Prinzen Heinrich flatterte. Der Prinz
floh aus der Stadt. Die Gewalt ging auf den
Arbeiter- und Soldatenrat über, dem sich die
Behörden unterstellten. In Kiel war der Sieg der
Revolution errungen.
Die
Matrosen stellten dem Gouverneur eine Reihe
Forderungen, die dieser im Gefühl seiner Ohnmacht
sofort bewilligte. Sie zeigen den Charakter, den
die Bewegung bisher hatte. Die Hauptforderungen
waren: Anerkennung des Soldatenrats, bessere
Behandlung der Mannschaften, Befreiung von der
Grußpflicht, Gleichheit der Offiziere und
Mannschaften in der Verpflegung, Aufhebung der
Offizierskasinos, Befreiung der wegen Meuterei
verhafteten Matrosen und Straflösigkeit für die
nicht auf die Schiffe zurückgekehrten
Mannschaften. Am Abend des 4. November erließ der
Soldatenrat folgenden Aufruf:
Kameraden und
Genossen!
Unsere
Schicksalsstunde hat geschlagen. Die Macht ist in
unserer Hand.
Hört auf unsl
Sammelt euch um eure erwählten Führerl Keine
Unbesonnenheiten!
Ruhe und eiserne
Nerven sind das Gebot der Stunde.
Zeigt, daß ihr Männer seid, folgt unseren
Sicherheitsorganen!
Plündert und raubt nicht!
Es ist euer unwürdig
und gereicht euch nicht zur Ehre: Zum Ziel führt
das nicht!
Zur Unterdrückung
unserer Bewegung nach hier entsandte Truppen haben
sich unserer Bewegung angeschlossen. Alle Arbeiter
aller Gewerkschaften sind auf unserer Seite. Wir
sind unserem Ziele nahe!
Kiel, 4. November
1918. Der Soldatenrat.
Wie eine Bombe
schlug die Nachricht vom Kieler Matrosenaufstand
in der Wilhelmstraße in Berlin ein. Dort war man
dabei, die alte Firma zu sanieren und das
Firmenschild demokratisch aufzulackieren. Gerade
war ein wichtiger Schritt aus dem
„Obrigkeitsstaat" in den neuen „Volksstaat"
vorwärts gemacht worden. Die Blätter konnten am 4.
November melden:
„Die Staatssekretäre
werden nicht zugleich, wie das bisher üblich war,
zu Wirklichen Geheimen Räten mit dem Prädikat
Exzellenz ernannt. Das Prädikat Exzellenz ist den
Staatssekretären durch eine bereits vorher
ergangene Kaiserliche Kabinettsordre allgemein für
die Dauer ihres Amtes beigelegt worden. Es ergibt
sich daraus, daß das Exzellenz-Prädikat, da eine
Ernennung zum Wirklichen Geheimen Rat nicht
erfolgt, nur für die Dauer des Amtes gilt. Diese
Regelung entspricht dem Brauche parlamentarisch
regierter Länder."
Man muß gestehen,
daß diese tiefschürfende Reform auf das
„mißgeleitete Volk" kaum einen Eindruck gemacht
hat, und als am gleichen Tage ein Erlaß Wilhelms
II. herauskam, er stelle sechzig kaiserliche
Schlösser für Lazarette zur Verfügung, da machte
der Pöbel nur unehrerbietige Bemerkungen über die
hohenzollernsche Opferfreudigkeit. Auch der
Versuch mißlang, durch einen gutstilisierten
Frontbericht die Stimmung der Massen aufzupulvern.
Der lautete an diesem 4. November:
„Durch die
Rückverlegung der deutschen Front in Flandern und
zwischen Aisne und Maas hat die deutsche Front
eine weitere Verkürzung und Verstärkung erfahren .
. . Die durch die Verlegung allein dort erzielte
Verkürzung der Front beträgt 20 Kilometer. Der
letzte Schlag Fochs am 1. November bedeutet, im
ganzen betrachtet, somit einen neuen Erfolg der
deutschen Waffen und ihrer Führung."
Der Schwindel war zu
abgenutzt, er zog nicht mehr. Und die Regierung
hatte noch ernstere Sorgen als Exzellenzentitel
und kaiserliche Schlösser. Die Rückverlegung der
Front war nicht geglückt. Bei Verdun, an
der empfindlichsten Stelle, war die Front von
amerikanischen Truppen durchstoßen worden. Dazu
mußten aus der Westfront Truppen herausgezogen
werden, um im Süden das Loch zu stopfen, das durch
den Zusammenbruch Österreichs gerissen worden war.
Aus dem Osten wagte man die Divisionen nicht
abzuziehen, um der bolschewistischen Flut nicht
alles Gebiet zu überlassen. Dazu kam am 4.
November die Nachricht, daß Polen sich als
Volksrepublik erklärt und von der deutschen
Militärmacht losgesagt habe. Nicht nur eitle
Königsträume lösten sich damit in nichts auf,
eine Wand brach ein. Und im Innern! Im Innern
Deutschlands gefährliche Anzeichen. Am 3. November
sind in München die Arbeiter auf die
Theresienwiese gezogen und von dort nach
Stadelheim. Sie haben die Freilassung politischer
Gefangener erzwungen. Darauf am 4. November die
Demonstrationen in Stuttgart und den umliegenden
Industrieorten mit dem ersten Versuch der Bildung
ein s Arbeiter- und Soldatenrats. Hieß es nicht,
daß es an diesem Tage in allen Großstädten
losgehen solle? Zwar waren zwei „unbedingt
sichere" Elitedivisionen von der Westfront nach
Berlin im Anrollen, aber würden sie rechtzeitig
ankommen, würde sich das Gewitter nicht vorher
entladen? Einstweilen ließ man Panzerwagen und
Militärkolonnen durch die Straßen ziehen, um die
Arbeiter einzuschüchtern. Aber wie lange konnte
das noch wirken? Und nun kam die
Schreckensnachricht vom offenen Aufstand in Kiel.
Zunächst versuchte auch die „Volksregierung", was
das Kieler Gouvernement vergeblich unternommen
hatte, den aufständischen Matrosen mit Gewalt die
Anhänglichkeit an ihren lieben Obersten
Kriegsherrn wieder beizubringen, doch zeigte eine
kurze Prüfung, wie unmöglich es war, gegen 40 000
gut bewaffnete Matrosen eine genügend starke und
zuverlässige Truppe aufzustellen. Da schickte die
Regierung den Sozialdemokraten Noske und
den Demokraten Haußmann nach Kiel, um die
Matrosen zur Vernunft zu bringen. Exzellenz
Scheidemann gab Noske folgende Instruktionen.
Er solle den Matrosen, die sich gegen die
Manneszucht vergangen haben, Amnestie zusichern
unter der Voraussetzung, „daß sie bis heute abend
in ihre Stellungen und auf ihre
Stationen zurückkehren und daß sie die Waffen und
die Munition, deren sie sich gewaltsam
bemächtigt haben, zurückgeben". Die Regierung
werde versuchen, Verbindung mit dem Kaiser zu
bekommen, „der ja nach den bestehenden
Rechtsverhältnissen die hier gefaßten Beschlüsse
sanktionieren muß".
Als Noske in Kiel
ankam, sagte er zwar noch etwas von einer
möglichen Amnestie, aber er merkte bald, daß hier
die „bestehenden Rechtsverhältnisse" nicht mehr
bestanden und Wilhelm II. nichts mehr zu
sanktionieren hatte als seine eigene Kapitulation.
Aber Noske sah auch noch etwas anderes. Die
Matrosen hatten einen Aufstand begonnen, um ein
verbrecherisches Abenteuer zu verhindern, und sie
sahen sich plötzlich als Träger und Bahnbrecher
der erwarteten Revolution. Aber sie waren sich
nicht klar über ihre Aufgaben, und sie hatten
keine Führer. Wohl hatten die Matrosen Haase
und Ledebour telegraphisch
herbeigerufen, aber das Telegramm war unterwegs
aufgehalten worden und kam zwei Tage zu spät an.
Da hatte Noske den Punkt, wo er den Hebel ansetzen
mußte. Er gebrauchte den alten Kniff, den schon
Friedrich Wilhelm IV. am 19. März 1848 versucht
hatte: da er anders die revolutionäre Bewegung
nicht meistern konnte, „stellte er sich an die
Spitze der Bewegung" Er machte
sich selber zum Gouverneur von Kiel. Im Namen der
Matrosen führte er die Verhandlungen mit den alten
Kommandostellen und schloß gegen die Matrosen
einen Pakt mit den Admiralen und Offizieren.
Zugleich ging er daran, ein Freikorps zu bilden,
bestehend aus Deckoffizieren und Unteroffizieren,
Leuten, die sich formell auf den Boden der
Revolution gestellt hatten, die aber nach ihrer
sozialen Stellung, kleinbürgerlichen Herkunft und
Denkweise das beste Material für eine
konterrevolutionäre Prätorianergarde lieferten. So
bestand Noske seine erste Probe als Organisator
der Gegenrevolution.
Editorischer Hinweis
Der
Text wurde entnommen aus: Illustrierte
Geschichte der deutschen Revolution,
Internationaler Arbeiterverlag Berlin, 1929,
S.185-190. OCR-Scan TREND 2018
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