Bernard Schmid  berichtet aus Frankreich

Jihadistische Taten

16. Oktober 2020: Mord am Lehrer Samuel Paty

11/2020

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Ein abgeschnittener Kopf auf einem Bekennerphoto, der des 47jährigen Geschichts- und Geographielehrers Samuel Paty, abgetrennt mit einem geschärften Fleischermesser: Dies ist der Kern der blutigen Botschaft, die der 18jährige Jihadist Abdullakh Anzorov, als Tschetschene in Moskau geboren, in seinem Mobiltelephon hinterließ und kurz vor seinem eigenen Ableben über Twitter (mit)teilte.

Er selbst wurde am Freitag, den 16. Oktober 2020 gegen 17 Uhr, nach seiner Bluttat, im Pariser Vorort Conflans-Saint-Honorine durch zehn oder elf gezielte Schüsse einer Polizeieinheit getötet. Deren Mitglieder hatten ihn zuvor mehrfach zum Stehenbleiben aufgefordert. Alsbald meldete sich die Verschwörungstheortiker-Szene in den sozialen Netzwerken zu Wort und monierte mehrfach, es sei „typisch“, dass Attentäter erschossen statt festgenommen würden und keine Informationen liefern könnten – was schon rein faktisch falsch ist, denn der letzte djihadistische Täter zuvor wurde am 25. September d.J. in Paris lebend ergriffen und inhaftiert. (Vgl. nebenstehenden Artikel) Dasselbe gilt auch für den darauffolgenden djihadistischen Mörder, den 21jähriger Tunesier Brahim Aouissaoui, welcher am Donnerstag, den 29. Oktober d.J. drei Menschen in einer Kathedrale im südfranzösischen Nizza buchstäblich abschlachtete: Auch dieses Schwein wurde lebend gefasst.

Anzorov war durch Polizisten gestellt worden, die zuvor die verstümmelte Leiche gesichtet hatten. Auch nach wiederholter Aufforderung, stehen zu bleiben, ging er jedoch weiter auf die Polizeieinheit zu und richtete eine Luftpistole auf diese. Da die Beamten zudem fürchteten, er könne eine Sprengstoffgürtel tragen, eröffneten sie schließlich das Feuer auf ihn. Ein Video von der Szene, aufgenommen durch einen Anwohner, kursierte kurz darauf auch bei französischen TV-Sendern.

Das Opfer, Vater einer fünfjährigen Tochter, war ins Visier Anzorovs geraten, weil er am 05. und 06. Oktober d.J. einen Unterricht zum Thema Meinungsfreiheit hielt. Der junge Mann zählte nicht zu seinen Schülern, die sich selbst im Alter von 13 bis 14 Jahren befinden, sondern wohnte in knapp einhundert Kilometern Entfernung in der normannischen Bezirkshauptstadt Dreux. Über die sozialen Medien hatte er von dem Streit über die Unterrichtsstunde für Mittelstufenschüler erfahren, nachdem diese zu einer Kampagne im Internet Anlass gegeben hatte. Im Laufe der Unterrichtseinheit im Fach Staatsbürgerkunde hatte Paty den teilnehmenden Jugendlichen Karikaturen aus der Wochenzeitung Charlie Hebdo gezeigt, im Kontext des seit Anfang September d.J. begonnen und zunächst noch bis im November geplanten Prozesses um die Attentate von 2015, die auch die Öffentlichkeit beschäftigen. (ANMERKUNG: Am 31. Oktober wurde bekannt, dass der Prozess unterbrochen und vorübergehend ausgesetzt wurde, da der faktische Hauptangeklagte - der mutmaßlich ideologisch am nächsten an den djihadistischen Mördern von 2015 stehende Ali Riza Polat – mit Covid-19 infiziert worden war.)

Darunter befand sich auch eine Zeichnung, die einen nackten Mann zeigt mit einer Bildlegende, die bedeutet, dass hier der Prophet Mohammed zu sehen sein. Umstritten blieb zunächst, um welche Karikatur es sich handelt, es existieren zwei Versionen: In einem Fall handelt es sich um ein früheres Titelblatt von Charlie Hebdo ,(vom Zeichner Luz) auf der nur Umrisse eines auf dem Bauch liegenden Nackten auf einem Bett zu sehen sind – „Ist er erlaubt, den Propheten so zu zeichnen?“ -, die andere Zeichnung ist dagegen expliziter. Unter dem Titel „Ein Stern ist geboren“ (Une étoile est née) sieht man einen fünfzackigen Stern in gelber Farbe im After eines Nackten, auch die Geschlechtsteile sind hier klar erkennbar. Diese Zeichnung war 2012 durch Charlie Hebdo abgedruckt worden. (Geschmacklos ist diese Zeichnung tatsächlich; auch zur kollektiven Intelligenz, zum Verständnis von was auch immer trägt sie nicht wirklich bei. Selbstverständlich gilt auch infolge dieser Feststellung weiterhin und kompromisslos das Prinzip, dass darauf keine Todesstrafe steht! Die Zeichnerin dieser Karikatur, Corinne Rey alias „Coco“, zählt selbst zu den Überlebenden des Attentats gegen Charlie Hebdo von Januar 2015 – sie war durch die beiden Attentäter als Geisel genommen worden und hatte unter der Drohung einer vorgehaltenen Schusswaffe die Tür zu den Redaktionsräumen öffnen müssen.) Veröffentlichungen in diversen Medien deuten darauf hin, dass es sich tatsächlich um die zweitgenannte Karikatur handelte, welche Samuel Paty zu Diskussions- und Demonstrationszwecken seinen Schüler/inne/n für einen kurzen Moment zeigte.

Eine Hetzkampagne über die sozialen Medien

Es war jedoch wohl sicherlich nicht der konkrete Inhalt der Zeichnung, sondern das Prinzip selbst, dass über Mohammed-Karikaturen im Zusammenhang mit Charlie Hebdo diskutiert wurde, die einige Aktivisten im Umfeld der Schule auf die Palme trieb. Unter ihnen befand sich der Vater einer 13jährigen, Brahim Chnina (Anfang fünfzig, algerischer Herkunft), der dazu ein Video erstellte und es ins Netz stellte, um zu behaupten, seine Tochter sei von dem Unterricht nachhaltig schockiert wurde. Inzwischen ergaben die Ermittlungen jedoch, dass die betreffende Schülerin gar nicht im Unterricht anwesend war, als die Karikaturen besprochen wurden. Diese waren zunächst Thema in einer Schulstunde am 05. Oktober d.J. für eine Klasse, welche diese Schülerin nicht angehört, und am folgenden Tag (06. Oktober) dann in ihrer Klasse – an jenem Tag war die 13-Jährige jedoch aufgrund vorheriger Störungen oder Verhaltensauffälligkeiten vom Unterricht ausgeschlossen. Sie konnte also selbst nur vom Hörensagen von ihm berichten. Samuel Paty hatte den dort Anwesenden angekündigt, sie können eventuell unangenehm berührt werden, und ihnen eine weitere Teilnahme oder ein Fernbleiben vom Unterricht freigestellt; fünf Jugendliche scheinen von der Möglichkeit, frewillig vor die Tür zu gehen, Gebrauch gemacht zu haben.

Vater Chnina machte daraus jedoch eine Version, der zufolge er die muslimischen Schüler als solche von der Stunde ausgeschlossen habe; es sei denn, seine Tochter hat ihm selbst eine falsche Version aufgetischt (an welche er selbst geglaubt haben mag), um den Grund ihres erzwungenen Fernbleibens vom Unterricht wegen vorausgegangenen Störverhaltens zu vertuschen. Auch hier werden die Ermittlungen Näheres klären müssen.

Sei es, wie es sei: Brahim Chnina brach jedenfalls eine Kampagne vom Zaun, eine veritable Hatz, die ihn auch zusammen mit dem bekannten französisch-marokkanischen Aktivisten Abdelhakim Sefrioui – er wurde 2004 als Gründer des „Kollektivs Yassine“ (benannt nach einem früheren Anführer der palästinensischen politisch-militärischen, islamistischen Bewegung Hamas - Akronym für „Bewegung des islamischen Widerstands“), bekannt und zählte auch zum Umfeld des antisemitischen Prominenten Dieudonné M’bala M’bala; er zählte zum Wahlkampfstab von dessen Liste, die zu den Europaparlamentswahlen 2009 kandidierte – zur Schulleitung führte. Um Druck auf Letztere auszuüben. Er stellte dazu auch ein Video ins Netz bzw. in die sozialen Netzwerke; daraufhin erhielt China lt. eigenen Angaben „5.000“ telefonische Anrufe, da er seine Nummer angegeben hatte, darunter auch jenen des späteren Mörders (an welchen er sich lt. Ermittlern nicht erinnern will). In jenem Video behandelten beide Männer den Geschichtslehrer als „Ganoven“ und forderten seine Entlassung aus dem Schuldienst. Die zuständige Schulbehörde in Versailles hörte Paty daraufhin an und versuchte sich in einer Mediation.

Es trifft jedoch nicht zu, dass die Behörde, von der ansonsten bekannt ist, dass sie Konflikte möglichst abwürgen und Debatten vermeiden möchte, Paty mit einer Disziplinarstrafe belegte. Dies wird seit dem Wochenende es 13./14. Oktober d.J. (unmittelbar nach dem Mord) wiederholt auf Webseiten behauptet, und zwar einerseits von islamistischer Seite, bemüht um den Nachweis, Paty habe tatsächlicher anerkanntermaßen Verfehlungen begangen, als auch aus den seit jenem fatalen Freitag (, den 16.10.2020) höchst aktiven rechtsextremen Milieus. Letztere stellen die Dinge so dar, das Schulministerium habe sich bewusst auf Seiten von Islamisten gegen den Lehrer positioniert, im Rahmen einer allgemeinen „Kollaboration der Dhimmis mit den Invasoren“, was selbstredend nicht zutrifft.

Verbindung zum IS? Hier bitte keine vorschnellen Schlüsse…

Zeitweilig schien über Brahim Chnina – in diesem Sinne wurde es jedenfalls in den französischen Medien respektive sozialen Netzwerken zeitweilig diskutiert – auch eine Verbindung zum so genannten Islamischen Staat (IS) herzustellen sein. Sei doch, war zu hören und zu lesen, seine (Halb-)Schwester im Jahr 2014 nach Syrien gegangen und dort wohl auch mit einem Führungskader des IS verheiratet gewesen; Brahim C. habe deswegen, hieß es, Schwierigkeiten mit der Justiz bekommen. In Wirklichkeit liegen die Dinge jedoch in dieser Hinsicht weniger einfach, sondern stellen sich komplexer und nuancenreicher dar.

Denn es war lt. Informationen von Le Monde, publiziert am 23. Oktober 20, Brahim Chnina selbst, welcher 2014 den Behörden (einer durch die Regierung eingerichteten Plattform zur Überwachung oder Meldung von „Radikalisierungs“fällen) die Ausreise seiner behinderten Halbschwester Khadija C. mitteilte. Möglicherweise stellte sich die Sache also nicht gar so einfach dar. Welches Ausmaß an strafrechtlich zu bewertender Schuld der Mann – er war ansonsten stark bei einer NGO, die behinderten Menschen die Pilgerreise nach Mekka erlaubte oder diese dabei unterstützte, engagiert - also wirklich auf sich geladen haben könnte, werden die Ermittlungen und eventuell ein Prozess zu ergeben haben. Dem ist jedenfalls nicht vorzugreifen. Gewalttätigen oder mit Gewalt verbundenen islamistischen Aktivitäten (aber nur solchen, zuzüglich etwa der Verletzung des Kindeswohls durch Eltern) ist zweifellos mit harter Repression und strafrechtlicher Ahndung zu begegnen; es ist jedoch ebenfalls streng auf die Einhaltung rechtsstaatlicher Grundsätze zu achten. Zu ihnen zählt bestimmt kein Gesinnungsstrafrecht; in Zeiten, in denen auch, aber nicht nur Marine Le Pen genau ein solches für „Islamisten“ (oder wen sie, in einem mehr als nur weitgefassten Sinne, dafür ausgibt) ganz explizit fordert, mit auf Gesinnung abstellenden Sondergerichten und Ausnahmegesetzen, muss darauf energisch gepocht werden.

Der spätere Mörder Anzorov wiederum erhielt über das Internet Wind von der Polemik in Conflans-Saint-Honorine. Er selbst hatte sich, Aussagen von Freunden und Familienangehörigen – die erkennbar die jihadistische Ideologie nicht teilen und sich in den Medien zu ihm äußerten – zufolge, seit sechs bis zwölf Minuten ideologisch zu radikalisieren und von früheren Sozialkontakten abzukapseln begonnen. Seine Eltern lebten, seitdem er sechs Jahre alt war, als anerkannte politische Flüchtlinge in Frankreich. Zusammen mit einem Freund und dessen Vater fuhr er am Tag vor dem Mord nach Rouen, wo er in einem Fachgeschäft ein Messer einkaufte, angeblich als Geschenk für seinen Großvater; sein Freund wunderte er sich deswegen, dass er die Schachtel öffnete. Am darauffolgenden Wochentag, eben jenem Freitag, den 16. Oktober d.J., ließ er sich von einem Bekannten im Auto von Evreux in den Pariser Raum mitnehmen.

Die bisherige Ermittlung hat auch ergeben, dass Anzorov zuvor die örtlichen oder regionalen Aktivisten Chnina und Sefrioui kontaktierte. Dass er ihnen seine Mordpläne unverkennbar mitteilte, ist hingegen unwahrscheinlich. Jedenfalls bis zum Nachweis des Gegenteils.

An dem fraglichen Freitag, den 16. Oktober 20 hielt er sich größere Teile des Nachmittags über in räumlicher Nähe der Schule auf und bot einem 14jährigen Schüler einen Geldbeitrag von rund 300 Euro an, den jener sich mit drei Schulkollegen teilte, um in Erfahrung zu bringen, wer Samuel Paty sei. Diese halfen ihm, den Lehrer bei seinem Dienstschluss zu identifizieren, wohl im Glauben, Anzorov wolle ihn zur Rede stellen und ihn dabei filmen. // LETZTE MELDUNG vom 1. November 20: Im Laufe der justiziellen Ermittlung stellte sich heraus, dass der Mörder – Anzorov -, einer der beiden jugendlichen Denunzianten-Schüler und die Tochter von Brahim China vor Anzorovs Attacke auf den Lehrer einen gemeinsamen Kontakt hatte. (Vgl.: https://www.lavoixdunord.fr/ ) An dem Punkt wird den Erkenntnissen, im Rahmen der strafrechtlichen Untersuchung, sehr genau nachzugehen sein!

Fünfzehn Personen, darunter mehrere Familienmitglieder und Freunde Anzorovs, aber auch China und Sefrioui, wurden noch am Freitag Abend und Samstag (16. und 17. Oktober d.J.) in Gewahrsam beim Inlandsgeheimdienst DGSI genommen und einvernommen. Da ein Zusammenhang zu einer Terrorstraftat besteht, konnte der Gewahrsam ausnahmsweise bis zu 96 Stunden am Stück dauern – sonst maximal 24 Stunden, einmalig verlängerbar -; diese Möglichkeit wurde von behördlicher Seite auch ausgeschöpft. Im Anschluss wurde ein Strafverfahren gegen sieben Personen, die dem Attentäter in der einen oder anderen Weise Beihilfe verschafft haben konnten, eingeleitet. Die beiden Jugendlichen, die ihm gegen Geld Hinweise, welche zur Identifizierung von Samuel Paty gegeben hatten, wurden auf freien Fuß gesetzt, sehen jedoch einem späteren Gerichtsverfahren entgegen. Die betreffenden Erwachsenen (Chnina, Séfrioui und tschetschenische Freunde des Attentäters) wurden in Untersuchungshaft gesteckt.

Die Regierung ließ ferner Hausdurchsuchungen bei mehreren Dutzend Personen am Montag, den 19. Oktober d.J. vornehmen, die Moschee in Pantin bei Paris – ihr Imam hatte das Video von Sefrioui geteilt – für sechs Monate schließen und kündigte ferner Vereinsverbote bei 51 insgesamt Strukturen an. Einige von ihnen sind ziemlich umstritten, darunter das des „Kollektivs gegen Islamophobie in Frankreich“ (CCIF), das Rechtsberatung zu tatsächlicher oder vermeintlicher Diskriminierung betreibt, jedoch keinen Bezug zum Jihadismus aufweist. Am Sonntag, den 18. Oktober d.J. demonstrierten ferner Zehntausende in Paris und anderen Städten, auf Aufruf zunächst von Lehrergewerkschaften hin, aber auch unter Teilnahme von Regierungsmitgliedern.

Editorische Hinweise

Wir erhielten den Beitrag vom Autor für diese Ausgabe.