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aus: WoZ-Online vom 21.10.99

Chinas langer Marsch in die WTO 

von Tobias Brandner, Hongkong

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Der Bahnhof in Guangzhou. Hunderte von Menschen sitzen scheinbar untätig davor. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass dieser Bahnhofsplatz seine eigene Mikroökonomie hat: Auf der einen Seite Schuhputzer, Zeitungsverkäufer, Getränke- und EsswarenhändlerInnen, Kundenfänger für Hotels, Zuhälter, Schwarzmarkthändler für Zugtickets, gedacht für all jene, die sich die Prozedur des Anstehens in der endlosen Schlange vor dem Ticketschalter ersparen möchten. Sie kommen aus den armen Provinzen Chinas, aus Hunan, Guizhou, Anhui, Szechuan und anderen Orten Zentral- und Westchinas, und suchen hier im reichen Südchina ihre Chance. Während sie auf eine Arbeitsstelle hoffen, steigen die neu Angekommenen schon mal in den Kleinkapitalismus des Bahnhofplatzes ein. Auf der anderen Seite sind die potenziellen KundInnen, ArbeiterInnen, die in den neu erbauten Industrie- und Dienstleistungsstädten eine saisonale oder befristete Arbeit gefunden haben. Sie warten auf einen Zug, der sie in dieselben armen Provinzen zurückbringt, aus denen die HändlerInnen vor dem Bahnhofsplatz kommen.
Guangzhou ist das Eingangstor zu einer Gegend, von der im neukapitalistischen China viele träumen. Hinter ihnen liegt eine Existenz im chinesischen Sozialismus, als Angestellte in einem Unternehmen in Staatsbesitz oder als Bauern. Vor ihnen liegt eine Existenz im «Sozialismus unter chinesischen Vorzeichen». Die Staatsbetriebe zahlen einen durchschnittlichen Lohn zwischen 300 und 800 Renminbi, ungefähr 50 bis 130 Franken, dafür werden die Kosten für die Wohnung, Heizung, Wasser und Altersrente weitgehend vom Staat übernommen. Die Existenz ist gesichert, aber der Lohn scheint vielen perspektivenlos und ohne Entwicklungsmöglichkeiten, sie bevorzugen ein Leben im rauen Wind des liberalisierten Marktes. Das beginnt für Zhan Ji auf dem Bahnhofsplatz. Er verkauft Zeitungen und verdient pro Exemplar sechs Rappen, damit kommt er auf etwa 150 Franken pro Monat. Dafür muss er für sein Zimmer 40 Franken bezahlen, und er hat auch keine Betriebskantine mehr, wo er billig oder gratis essen kann. Als erster Schritt in eine andere wirtschaftliche Zukunft erscheint es ihm dennoch lohnenswert.

Finanziell «lohnt» es sich auch für die Textilarbeiterinnen, die etwa gleich viel verdienen, dazu freie Kost und Logis haben. Dafür kann es vorkommen, dass sie 360 Tage pro Jahr arbeiten. Nur am chinesischen Neujahr, dem höchsten chinesischen Feiertag, können sie für drei Tage in ihre Heimat fahren und noch zwei Tage für Hin- und Rückreise anhängen. Sie sitzen neun oder mehr Stunden pro Tag an ihren Maschinen. Reden ist verboten. Kein Radio, keine Musik läuft. Sie nähen Kleider, die in den Läden Japans, Europas oder Nordamerikas über den Verkaufstisch gehen. Den Feierabend verbringen sie in der Kantine und in den Schlafsälen. Abwechslung gibt es keine, die Fabriken sind in ein ödes Niemandsland gebaut, das nächste Gebäude ist eine andere Fabrik. Eine Vergnügungsstätte würde auch nicht rentieren, denn das Geld soll ja gespart werden, um die Familie zu Hause zu unterstützen. Einige entrinnen der feierabendlichen Ödnis, indem sie eine Zusatzschicht einlegen und noch etwas dazu verdienen.

Schotten dicht
Während die Einzelnen noch zwischen alter und neuer Existenzform wählen können, ist diese Frage für die Makroökonomie Chinas entschieden. Seit der letzten Jahrestagung des Nationalen Volkskongresses im März steht die Anerkennung der Privatwirtschaft und die Verewigung der Theorie von Deng Xiaoping, das heisst die privatwirtschaftliche Öffnung, auch in der Verfassung. Nur der letzte Schritt steht noch aus, der Beitritt Chinas zur World Trade Organisation WTO. An diesem Schritt wird seit dreizehn Jahren gebastelt, mal sind die Verhandlungen in einer heissen Phase, dann stagnieren sie wieder. Der Besuch des Premiers Zhu Rongji im April in den USA hätte den krönenden Abschluss bilden sollen. Es hat nicht gereicht. Obwohl Rongji grosszügige Konzessionen an die US-amerikanischen Partner machte, Zollsenkungen und eine Öffnung des Telekommunikations- und Bankensektors akzeptierte, verletzten die US-Diplomaten alle diplomatischen Gepflogenheiten, als sie seine Verhandlungsangebote veröffentlichten, ohne ihm den Erfolg eines Beitritts zu gönnen. Nach dem Beschuss der chinesischen Botschaft in Belgrad während des Kriegs gegen Jugoslawien war das Thema für einige Monate vom Tisch. Jetzt wird am Rande von Treffen zwischen der USA oder der EU und China wieder darüber gesprochen.

Weshalb will sich China der weltweiten Diktatur des Marktes unterwerfen? Auch ohne WTO liberalisiert China den Aussenhandel. Die wichtigere und einschneidende Reform der Staatsbetriebe ist zudem bei weitem noch nicht erledigt. Aber Zhu Rongji möchte die von ihm vorangetriebenen wirtschaftlichen Reformen gleichsam versiegeln. Er möchte sicherstellen, dass sie bei anderem politischem Wind nicht so leicht wieder gekippt werden können. Zudem hat die chinesische Regierung begründete Angst, dass der seit 1993 anhaltende wirtschaftliche Boom Chinas, der vor allem auf Export und ausländische Investitionen in China gestützt war, ausläuft. Bis zum vergangenen Jahr stammten achtzig Prozent der ausländischen Investitionen in China von anderen asiatischen Staaten. Mehr europäische und nordamerikanische Investoren, welche den Ausfall durch die Asienkrise kompensieren sollen, lassen sich dagegen nur anlocken, wenn das «Investitionsklima verbessert» wird, das heisst unter anderem Gebühren abgebaut und transparentere administrative Entscheidungsprozesse eingeführt werden. Die billigen Arbeitskräfte reichen auf die Dauer nicht aus, um ausländische Investoren anzulocken. Ein WTO-Beitritt würde dem internationalen Kapital garantieren, dass sich China den internationalen Regeln unterwirft.
Der Beitritt zur WTO würde zudem einen fünfzigjährigen Zyklus von Abschottung und Öffnung symbolisch effektvoll beenden. Er käme der weltweiten Anerkennung gleich, dass China seine Wirtschaft in eine Marktwirtschaft umgebaut hat und im Kreis der wirtschaftlich Erfolgreichen als gleichberechtigt anerkannt wird. China möchte neben den USA zur zweiten Supermacht werden, und dazu gehört selbstverständlich die Mitgliedschaft in allen wichtigen internationalen Organisationen.
Auch innerhalb Chinas bleiben Zhu Rongjis Pläne – er hat den WTO-Beitritt zu einem seiner wichtigsten Regierungsziele gemacht – nicht ohne Widerspruch. Gewisse Konzessionen gegenüber den amerikanischen Verhandlungspartnern musste er unter dem Druck seiner Regierungskollegen wieder zurücknehmen und die Verantwortung für das WTO-Dossier wurde Zhu Rongji weggenommen. Der grundsätzliche Widerstand gegen einen WTO-Beitritt kommt von Regierungsbürokraten, Managern von Banken und von grossen Staatsfirmen – sie alle fürchten um Beschneidung ihrer bisher staatlich gesicherten Pfründen und Positionen, wenn die Wirtschaft nicht mehr vom Staat kontrolliert wird. Zunehmend äussert sich auch der Unmut unter Bauern und ArbeiterInnen. Bauern fürchten, dass ihnen billige Importe (etwa von Weizen, Früchten, Fleisch und Geflügel aus den USA) die Existenzgrundlagen zerstören. ArbeiterInnen drohen Massenentlassungen, und weitere Schliessungen der grossen staatlichen Wirtschaftskonglomerate stünden bevor, wenn der chinesische Markt von Waren aus der ganzen Welt überschwemmt würde. Wirtschaftsanalysten und Gewerkschaftsaktivisten sind sich einig, dass sich die Arbeitslosenrate durch einen WTO-Beitritt verdoppeln könnte.

Kaum Alternativen
Han Dongfang, nach Hongkong exilierter Dissident der Tiananmen-Proteste und Aktivist für unabhängige Gewerkschaften, sieht die grundlegende Fragwürdigkeit der WTO sehr wohl: «Die WTO ist eine pure Organisation der Wirtschaft und übernimmt als solche keinerlei soziale Verantwortung. Zudem sollte die chinesische Regierung vor einem allfälligen Beitritt dringend ein System sozialer Sicherheit schaffen. Überhaupt, China täte besser daran, statt über WTO über soziale Sicherheit zu reden.» Aber auch er sieht keine Alternative zu einer ökonomischen Liberalisierung, wie sie ein WTO-Beitritt erfordert, und steht somit einem solchen Beitritt nicht nur negativ gegenüber: «Die WTO ist wie Wasser von einem Fluss. Es kann Felder bewässern und Menschen ernähren aber es kann auch zu einem tödlichen Strom werden. China braucht eine Kraft von aussen, um die verkrusteten Strukturen aufzubrechen. Die Frage bleibt nur, ob China wirklich bereit dazu ist.»
Gegen die verkrusteten Strukturen, die keine unabhängigen Gewerkschaften erlauben, die die Basis für (auch ökologisch) ineffizientes Wirtschaften und Korruption bilden, kämpft Han Dongfang an. Es geht längst nicht mehr um die Frage, ob Kapitalismus und Marktwirtschaft eingeführt werden sollen oder nicht, sondern nur noch, ob dies eingebettet sein soll in ein Regelsystem nach internationalen Normen oder in ein abgeschottetes Regelsystem einer Staatspartei. Han Dongfang sieht wie viele andere KritikerInnen des gegenwärtigen Regimes keine politische Kraft, welche die Strukturen von innen her verändern könnte.
Ein WTO-Beitritt könnte innenpolitisch tief greifende Folgen haben, die zwar zwiespältig sind, aber möglicherweise doch befreiend wirken könnten: Noch immer ist jedeR ArbeiterIn eines Staatsbetriebs in China auch Mitglied einer Work Unit, einer so genannten Dan Wei. Diese Dan Wei, genau genommen ihr Vorsteher, meist ein Parteisekretär, entscheidet darüber, wer wo wohnt, wer wie reist, welche Erziehung wessen Kinder erhalten oder sogar ob und wann jemand heiratet. Dieses System ermöglicht eine weit reichende Kontrolle der Bevölkerung in allen Lebenslagen. Angestellte nichtstaatlicher Unternehmen entgehen diesem Kontrollsystem, sie gehören keiner Dan Wei mehr an. Diese Entmachtung der alten Dan Wei würde durch einen WTO-Beitritt noch beschleunigt. Mehr ChinesInnen als bisher würden im Rahmen von nichtstaatlichen Einheiten arbeiten und könnten entsprechend frei über weite Teile ihres Privatlebens entscheiden. Umgekehrt allerdings entbindet eine Auflösung der Dan Wei den Staat auch von seiner sozialen Verantwortung – eine zwiespältige Befreiung deshalb. Die Regierung bemüht sich derzeit nur um einen Ersatz für die Überwachung durch die Arbeitseinheiten. Die Vermutung liegt nahe, dass die in den letzten Monaten verstärkte Repression gegen Dissidenten die im Arbeits- und Zivilleben abnehmende Kontrolle ausgleicht. Denn die Angst ist gross, dass sich der bisher isolierte Dissens mit dem Unmut der randständig gemachten Bauern und ArbeiterInnen verbindet.

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