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ak - analyse & kritik, Nr. 432 / 18.11.1999

Karneval des Protests
US-Linke und Gewerkschaften 
mobilisieren gegen die WTO

von Max Böhnel, New York

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Ob sich die EU-Länder und die USA nun auf eine Tagesordnung für die WTO-Runde in Seattle einigen oder nicht, ob die kleine Runde tagt oder die große - für den "Protest des Jahrhunderts", wie einige US-Zeitungen schreiben, mobilisieren nationale und regionale Gruppen in den USA schon seit Monaten. Die ersten Aktionen an der US-Westküste sind bereits angelaufen, und ein loses Bündnis von reformorientierten bis die WTO rundum ablehnenden Gruppierungen hat geplant, Seattle vom 29. November bis zum 3. Dezember zum Höhepunkt vielfältigster Aktionen zu machen.

Seattle liegt im US-Staat Washington (nicht zu verwechseln mit der Hauptstadt Washington D.C., die sich sechs Flugstunden entfernt an der Ostküste befindet) im pazifischen Nordwesten der USA. Die Stadt ist wie kaum eine andere auf Grund ihrer politischen Infrastruktur für medienwirksame Proteste prädestiniert. Denn Seattle gilt vielen US-Unternehmen als Sprungbrett zu den Märkten Asiens, und ein Viertel aller regionalen Arbeitsplätze hängt von der Exportindustrie ab.

Auf Grund der gewerkschaftlichen Verankerung in den entsprechenden Branchen sehen sich deshalb auch die örtlichen Verbände verpflichtet, zum Thema Globalisierung und Freihandel eine arbeitnehmerfreundliche Position zu beziehen. Erstmals seit Jahrzehnten ist in den USA daher von einem vorsichtigen Protest-Bündnis zwischen sozialen Bewegungen und Gewerkschaften zu sprechen, zumindest auf regionaler Ebene.

Ein weiterer Grund spricht für Seattle. Es gilt als geographische Herz einer Kultur, in der Umweltschutz, das Misstrauen gegenüber der Zentralregierung, indianische Widerstandserfahrung und Aktionsformen des zivilen Ungehorsams selbst in Teilen der "Normal"-Bevölkerung populär sind. Ende Oktober beispielsweise legten mehrere Aktivisten in Portland im Bundesstaat Oregon das Büro der Bundespolizei FBI mit einer Besetzungsaktion fünf Stunden lang lahm, bevor sie festgenommen wurden. Ihre Forderung, die Freigabe der FBI-Akten über Mumia Abu Jamal, war daraufhin in sämtlichen Lokal-Medien zu vernehmen.

Protest auf der Straße

Mit Aufsehen erregenden Aktionen bis hin zur Kaufhausbesetzung hoffen die Organisatoren des Direct Action Network (DAN), einem Zusammenschluss aus tatsächlichen und ehemaligen Westküsten-Linken sowie Straßentheater-Gruppen, Ende November weltweit Aufmerksamkeit auf die Welthandelsorganisation zu lenken. "DAN stellt die Infrastruktur für eine aggressive, aufeinander abgestimmte und farbenfrohe Woche zivilen Ungehorsams, die das WTO-Treffen stilllegt und die Weltöffentlichkeit zum Nachdenken anregt", heißt es nicht unbescheiden, und: "Wir fordern einen Sitz am Verhandlungstisch, wenn sich die WTO das nächste Mal zu treffen versucht."

Die Lahmlegung des Ministertreffens soll in dezentralisierten Kleingruppen-Aktionen von 5 bis 20 Menschen erfolgen. Finanziell und juristisch unterstützt wird das Vorhaben von NGOs wie Global Exchange, Earth First und der Ruckus Society sowie von der nationalen Anwaltsvereinigung. Ebenfalls mit dabei sind die Wobblies der Industrial Workers of the World (IWW) und Aktivisten der Peoples Global Action.

Im Vorfeld hatten sich die genannten Gruppierungen auf folgende Aktionsgrundlagen geeinigt: gewaltfrei, keine Waffen, keine Drogen, kein Sachschaden. Wer in der Aktionswoche etwa beim Blockade-Straßentheater, beim Transparente-Aufhängen an einem Hochhaus, beim stillen Gebet auf der Kreuzung oder bei "einer aggressiveren Konfrontationstaktik" festgenommen wird, dem/der steht die Unterstützung eines Anwaltskollektivs zu.

Das wird auch bitter nötig sein. Denn die Polizei hat angekündigt, Pfeffergas anzuwenden und ein militärisch geschultes und ausgerüstetes Sonderkommando einzusetzen. Laut Presse ist der gesamte Repressionsapparat zum Schutz des Ministertreffens und zur Überwachung potenzieller Unruhestifter im Einsatz. Zugegen sein werden Vertreter des US Secret Service, des FBI, des Bureau of Alcohol, Tobacco and Fire Arms, des Außenministeriums, der County-Sheriff mit seinen Untergebenen sowie die Polizei von Seattle.

... und im Kongresssaal

Weniger spektakulär als das militante Straßentheater, aber medienträchtig wird sich Seattle abseits der offiziellen WTO-Tagung zeigen, wenn jeweils unter einem spezifischen Themenschwerpunkt Kleinkonferenzen und Arbeitsgruppen tagen (Umwelt/Gesundheit, ArbeiterInnen/Menschenrechte, Frauen/Demokratie/Entwicklung und Nahrung/Landwirtschaft).

Einen ersten Höhepunkt dürfte eine hochrangige Podiumsdiskussion darstellen, bei der sich der Verbraucheranwalt und Ex-Präsidentschaftskandidat Ralph Nader und Vandada Shiva als Vertreter der Globalisierungsgegner mit Vertretern der Kapitalseite messen wollen. Diese Seite wird vertreten von Scott Miller von Procter and Gamble. Der stellvertretende US-Handelsminister Davis Aaron ist eingeladen. Die Diskussion wurde organisiert vom International Forum on Globalization, einer Gruppe von rund 60 reformorientierten Intellektuellen, die in der Globalisierung den "extremsten Restrukturierungsprozess des Globus seit der industriellen Revolution" sehen.

Am 30. November darf die versammelte Weltpresse Ausschau halten nach der "größten Protestdemonstration auf US-amerikanischem Boden gegen den Freihandel", wie nationale Medien voraussagen. Gerechnet wird mit mindestens 50.000 TeilnehmerInnen aus rund 20 Ländern. Die Mehrzahl der DemonstrantInnen dürfte aus dem grünen, gewerkschaftlichen und restlinken Westküsten-Spektrum kommen.

Eine Arbeitsgruppe aus der Regionalvertretung des Gewerkschaftsdachverbandes AFL-CIO und der linken IWW hat sich zur Aufgabe gemacht, LohnarbeiterInnen, StudentInnen und SchülerInnen in Seattle zum "walk-out" auf die Straße zu bewegen. Der AFL-CIO verteilt Flugblätter, in denen Lohnabhängige in abgeschwächter Form aufgerufen werden, "den Tag frei zu nehmen". Denn wegen der Großdemonstration sei so oder so mit Transportproblemen zum Arbeitsplatz zu rechnen, lautet die Begründung. Inzwischen ist die Zahl der Organisationen, die zur Demo aufrufen, auf über 300 angewachsen.

Die Globalisierungsgegner könnten die Stadt "in einen Karneval des Protests und vielleicht sogar in einen Sumpf verwandeln, in dem gar nichts mehr geht", hieß es kürzlich mit sympathisierenden Untertönen in der New York Times.

Die politische Einordnung der Anti-WTO-Kampagne in das Verbands- und Parteispektrum der USA fällt vergleichsweise einfach aus. Liberalisierungsentwürfe der Clinton-Regierung stoßen seit Jahren zunehmend auf Skepsis in der politischen Elite. Noch 1992 machte Clinton mit dem NAFTA-Freihandelsabkommen Wahlkampf - und gewann die Präsidentschaft. Fünf Jahre später scheiterte er beim Versuch, präsidentielle Sonderbefugnisse für Außenhandelsabkommen gesetzlich zu verankern, an einem massiven "No" des US-Kongresses.

Die Haltung zur Globalisierung ist im Kongress und in beiden US-Großparteien, Republikanern wie Demokraten, umstritten. Vorbei sind die Zeiten, da riesige Mehrheiten in den USA dem Freihandel grünes Licht erteilten. Zwar unterstützen Umfragen zufolge mehr als zwei Drittel der US-Bevölkerung ihr Land als "Führer der globalen Wirtschaft". Doch fast eine Hälfte, rund 45 Prozent, plädiert dafür, den "Trend zur Globalisierung zu verlangsamen, weil sie auch amerikanischen Arbeitern schadet." Der seit acht Jahren anhaltende Wirtschaftsboom hat die wirtschaftliche Unsicherheit - die Angst vor Jobverlust, geringeren Renten und mieser oder gar keiner Krankenversicherung - nicht verdecken können.

Beobachtern des Abstimmungsverhaltens von Kongress-Mitgliedern zufolge ist rund ein Drittel der Republikaner gegen Freihandel - meist, weil sie internationale Organisationen wie die WTO hassen, in "Rot-China" einen Hauptfeind sehen und/oder Umweltschützer verachten. Skeptisch bis ablehnend verhalten sich auch die "alten", gewerkschaftsnahen Demokraten. Eindeutig stark für den Freihandel machen sich nur Clintons "neue" und zentristische "Dritte-Weg"-Demokraten sowie etwas mehr als die Hälfte der Republikaner.

Von politischer Bedeutung sind die Proteste in Seattle für die US-Linke und das Kräfteverhältnis bei den Demokraten und im Gewerkschaftsdachverband AFL-CIO allemal. Denn Freihandel und Globalisierung werden mit Sicherheit zu Themen bei den Präsidentschaftswahlen, und Al Gore, aussichtsreicher Kandidat der Demokraten, wird offen von der Gewerkschaftsspitze unterstützt. Doch da gibt es einen Haken, der Linken, regionalen Industrie-Gewerkschaften und Basisaktivisten große Bauchschmerzen bereitet. Gore ist ein neoliberaler US-Nationalist sondergleichen und hatte schon 1994 angekündigt, die USA würden "kein einziges Gesetz ändern, nur weil die WTO es will". Gore bietet sich Freihandels-Gegnern also ausgezeichnet als Ziel an. So manche Gewerkschaften in Seattle dagegen denken jetzt daran, die Proteste wieder abzusagen.

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