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Neoliberalismus und neue Formen der Herrschaft

von Pierre Bourdieu

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Im Gegensatz zu jenen, die in ihrem Eifer, nichts an der »Moderne« zu verpassen und auf billige Art und Weise ihr Anderssein zur Geltung zu bringen, überall nur Neues sehen und beständig den »Wandel«, wenn nicht sogar die »Revolution« im Munde führen, wenn sie von der »neuen Ökonomie« oder vom »neuen Geist des Kapitalismus« reden, möchte ich im Folgenden auf Veränderungen eingehen, die sich auf zwei miteinander verbundenen Gebieten zugetragen haben: in den Betrieben und im Staat. Ich tue dies, um einen Überblick über diese nur selten systematisch betrachteten Veränderungen zu erlangen und darzustellen. In einem weiteren Schritt möchte ich sodann versuchen, einige Aktionsprinzipien für eine soziale Bewegung in Europa herauszuarbeiten.

Wenn ich von der europäischen sozialen Bewegung spreche und dazu einlade, sich ihr anzuschließen, so deshalb, weil ich seit langem darunter leide, dass in der europäischen Konstruktion eine solche soziale Bewegung fehlt, die die kritischen Forscher und die Gewerkschaften oder die Verbände miteinander verknüpft. Wir haben ein Europa der Banken und der Bankiers, ein Europa der Unternehmen und der Unternehmer, ein Europa der Polizei und der Polizisten, wir werden bald ein Europa der Armeen und des Militärs haben, doch obwohl es einen europäischen Gewerkschaftsbund gibt, kann man nicht sagen, dass das Europa der Gewerkschaften und der Verbände wirklich existiert; desgleichen kann man zwar die Kolloquien nicht mehr zählen, auf denen Europa und die akademischen Institutionen erörtert werden, wo auf akademische Weise über europäische Probleme gesprochen wird, das Europa der Künstler, der Schriftsteller und der Wissenschaftler aber existiert noch kaum.

Das Paradox besteht darin, dass dieses Europa, das sich um die Macht und die Machthabenden herausbildet und das so wenig europäisch ist, in Wahrheit nur kritisierbar ist, indem man Gefahr läuft, mit den Widerständen eines reaktionären Nationalismus (der leider unbestreitbar auch existiert) verwechselt zu werden und dazu beizutragen, es als modern, wenn nicht fortschrittlich erscheinen zu lassen. Es muss etwas Gestalt annehmen, was in der europäischen Tradition am stärksten europäisch ist, d.h. eine kritische soziale Bewegung, eine Bewegung der Sozialkritik, die fähig ist, die Arbeit der europäischen Konstruktion einer wirksamen Anfechtung auszusetzen, d.h. einer, die intellektuell und politisch stark genug ist, um sich bemerkbar zu machen und um echte Wirkung zu erzielen. Diese kritische Anfechtung zielt nicht darauf ab, das europäische Projekt rückgängig zu machen, es zu neutralisieren, sondern im Gegenteil, es zu radikalisieren und dadurch den Bürgern näher zu bringen, insbesondere den jüngsten unter ihnen, die man oft als entpolitisiert bezeichnet, während sie einfach einer Politik überdrüssig sind, die ihnen von den Politikern geboten wird. Man muss der Politik wieder eine neue Bedeutung geben und dafür Zukunftsprojekte vorschlagen, die in der Lage sind, der ökonomischen und sozialen Welt einen Sinn zu verleihen, die im Laufe der vergangenen Jahre einem beträchtlichen Wandel unterlegen ist.

1. Veränderungen in der Ökonomie und das Unternehmen der Zukunft

Gewiss noch geläufig ist der von Bearle und Means in den 30er Jahren beschriebene Übergang von der Hegemonie der owners, der Aktionäre, zur Herrschaft der Manager. Heute indessen kann man den erneuten Triumph der owners beobachten, einen scheinbaren Triumph allerdings, denn auch jetzt verfügen sie nicht über mehr Macht als zur Zeit von Galbraith’ »Technostruktur«. So sind denn auch die wahren Herren der Ökonomie keineswegs die dem Diktat der Profitraten unterworfenen Manager, also jene Vorstandsvorsitzenden, die gewärtigen müssen, vor die Tür gesetzt zu werden (wenn auch meist mit beträchtlichen Abfindungssummen), je nachdem, wie die Quartalsprüfung des von ihnen erwirtschafteten »Shareholder Value« ausfällt. Es sind auch nicht jene leitenden Angestellten, deren stets nur kurzfristig ausgezahltes Gehalt sich nach den Aufträgen bemisst, die sie akquiriert haben, und die die Börsenkurse verfolgen, von denen der Wert ihrer Stock Options abhängt, und ebensowenig die owners, die kleinen Aktieninhaber, wie es uns der Mythos von der »Aktionärsdemokratie« weismachen möchte. Tatsächlich sind es die Verwalter der großen Institutionen (Pensionsfonds, große Versicherungsgesellschaften und, insbesondere in den USA, Sammelfonds, Währungs- oder Mutual Funds) die heute über das Feld des Finanzkapitals herrschen, auf dem dieses zugleich ein Objekt der Begierde und eine Waffe ist (wie auch gewisse Formen des kulturellen Kapitals, das die spezialisierten Beratungsgremien, die Analysten und Währungshüter mit hoher symbolischer Effizienz mobilisieren können). Sie leiten daraus einen beträchtlichen Druck, sowohl auf die Unternehmen als auch auf die Staaten, ab. Ein Gutteil dessen, was auf diesem Feld passiert, ist gesellschaftlich determiniert, auch wenn man uns glauben machen möchte, dass es sich um eine bloße, das heißt naturhafte ökonomische Notwendigkeit handele, gegen die man nichts ausrichten könne. (Die Tatsache zum Beispiel, dass die Inflationsrate auf zwei Prozent begrenzt wird, ist rein willkürlich; aber diese inzwischen zu einem kollektiven Glaubenssatz mutierte Obergrenze hat die Menschen in außergewöhnlichem Maße für die Inflation sensibilisiert, was wiederum ganz reale Auswirkungen hat.) Dieser kollektive Glaubenssatz setzt sich gegenüber allen durch, die bei diesem Spiel mitspielen. So hat man etwa feststellen können, dass Gewerkschafter, die, weil sie glaubwürdig sein wollen, bei der Verwaltung der Rentenfonds mitmischen, sich auf dieses Spiel einlassen und zu seinen überzeugtesten Parteigängern werden. Damit ihre Botschaft ankommt, müssen sie sich Gehör verschaffen; um sich Gehör zu verschaffen, vergessen sie und sorgen dafür, dass auch ihre Botschaft vergessen wird. Ein typisches Beispiel symbolischer Herrschaft.

Die Kapitaleigner sind in der Lage, etwas durchzusetzen, was Frédéric Lordon1 – in ironischer Anspielung auf den in Frankreich staatlich garantierten Mindestlohn – das garantierte Mindestkapitaleinkommen des Shareholders nennt. Als Mitglieder in den Aufsichtsräten der Unternehmen (corporate governance) sind sie entsprechend der Logik des Systems, das sie beherrschen, dazu gezwungen, nach immer höheren Profitraten (12, 15, ja bis zu 18%) zu streben, die die Firmen nur um den Preis von Entlassungen erzielen können. Sie übertragen somit ihren Managern die Umsetzung des Imperativs kurzfristig zu erzielender Gewinne, der damit zum faktischen Endzweck des ganzen Systems wird – unter Missachtung der ökologischen Folgen und vor allem der Folgen für die arbeitenden Menschen. Die Manager werden ihrerseits dazu gebracht, die Risiken auf die Beschäftigten abzuwälzen, insbesondere über Entlassungen. Kurz, aufgrund der Tatsache, dass die Herrschenden in diesem Spiel selbst durch die Regeln des Spiels, das sie beherrschen, nämlich jene des Profits, beherrscht werden, funktioniert dieses Feld wie eine Art Höllenmaschine ohne Subjekt, das sein Gesetz den Staaten und den Unternehmen aufzwingt.

Das Streben nach kurzfristigem Profit bestimmt sämtliche Entscheidungen in den Unternehmen: die Einstellungspraxis, bei der Flexibilität und Mobilität der Beschäftigten zum obersten Gebot werden (eingestellt wird auf der Basis von Kurzzeit- oder Stundenverträgen); die Vereinzelung des Lohnverhältnisses; das Fehlen jeglicher langfristigen Planung, zumal bei den Arbeitskräften. Angesichts der ständigen Drohung mit einer Verschlankung des Betriebs führen die Beschäftigten ein Leben, in dem Unsicherheit und Ungewissheit die alles beherrschenden Momente sind. Während im vorherigen, Fordismus genannten System der Profit mit Hilfe der Arbeitsproduktivität erzielt wurde, deren Gegenpart die Beschäftigungssicherheit und ein relativ hohes Lohnniveau bildeten, das, indem es die Nachfrage nährte, das Wachstum und den Profit stützte, so maximiert die neue Produktionsweise den Profit, indem sie die Lohnsumme durch den Druck auf die Gehälter und durch Entlassungen reduziert, wobei die Aktionäre sich allein um die Börsenkurse und um die Preisstabilität sorgen.

So hat sich mittlerweile ein Wirtschaftssystem etabliert, welches untrennbar verbunden ist mit einem bestimmten politischen System, eine Produktionsweise, die eine Herrschaftsform impliziert, welche auf der Institutionalisierung der Unsicherheit beruht, der Herrschaft durch Prekarität: Ein deregulierter Finanzmarkt leistet der Deregulierung des Arbeitsmarkts und damit der Ausbreitung prekärer Arbeitsverhältnisse Vorschub; das wiederum erzwingt die Gefügigkeit der Arbeiter. Die Betriebe werden von einem nach betriebswirtschaftlicher Rationalität verfahrenden Management geführt, das (neben anderen Herrschaftsinstrumenten) die Waffe der Verunsicherung benutzt, um die Beschäftigten in einen Zustand anhaltender existentieller Gefährdung, des körperlichen Stresses und der psychischen Anspannung zu versetzen, und das der Selbstausbeutung den Boden bereitet.

Im Unterschied zu den »traditionell« unsicheren Arbeitsverhältnissen im Dienstleistungsbereich und im Bauhandwerk institutionalisieren die Zukunftsbetriebe diese Unsicherheit als Prinzip der betrieblichen Arbeitsorganisation und als Lebensform für den einzelnen. In einem Artikel in Le Monde diplomatique vom Mai dieses Jahres über Teleshopping- oder Telemarketingunternehmen, deren Beschäftigte, die sogenannten »Teleberater«, von zu Hause aus telefonieren müssen, um ihre Artikel zu verkaufen, beschreibt Gilles Balbastre die Durchsetzung eines Systems, das im Hinblick auf die Produktivität, auf Kontrolle und Überwachung, auf die Arbeitszeit und das völlige Fehlen einer beruflichen Karriere nachgerade als eine Taylorisierung des Dienstleistungssektors gelten kann (wobei die Beschäftigten, im Gegensatz zu den Ungelernten im tayloristischen System, hochqualifiziert sind). Doch der Prototyp des Ungelernten der »neuen Ökonomie« ist zweifellos die Kassiererin im Supermarkt, die durch die Datenverarbeitung der Warenpreise in eine wahre Fließbandarbeiterin verwandelt wird, deren Arbeitsschritte bis ins Kleinste vermessen und kontrolliert werden, und deren Arbeitszeit mit den Kundenströmen fluktuiert; sie hat weder das Leben noch den Lebensstil einer Fabrikarbeiterin, doch sie nimmt in der neuen Struktur eine äquivalente Stellung ein.

Mit diesen Unternehmen, die Produkte von geringer Lebensdauer verkaufen, die eine Wegwerfmentalität befördern helfen und die ihren Beschäftigten keine Sicherheit bieten können, zeichnen sich ökonomische Verhältnisse ab, die jener Sozialphilosophie nahe kommen, die der neoklassischen Theorie immanent ist: als ob jene mit der neoklassischen Ökonomie verbundene, individualistische und ultra-subjektivistische Augenblicksphilosophie, die in der neoliberalen Politik das Mittel gefunden hatte, um zu ihrer Wahrheit zu kommen, die Bedingungen ihrer eigenen Verifizierung geschaffen hätte. Dieses in chronischer Instabilität befindliche System ist strukturell dem Risiko ausgeliefert, und das nicht allein, weil, gleich einem Damoklesschwert, die (mit den Spekulationsblasen in Zusammenhang stehende) Krise beständig über ihm schwebt. Im übrigen erheben Ulrich Beck und Anthony Giddens, wenn sie sich den Mythos der Umwandlung aller Beschäftigten in dynamische Kleinunternehmer zu eigen machen, die Regeln, die den Beherrschten von den Erfordernissen der Ökonomie aufgezwungen werden, zu Normen ihres praktischen Handelns.

Aber die wesentliche Folge dieser neuen Produktionsweise ist eine dualistische Ökonomie, die große Ähnlichkeit aufweist mit der Ökonomie, die ich in den 60er Jahren in Algerien kennengelernt habe, und die ja auch viele Dritte-Welt-Länder kennzeichnet: auf der einen Seite eine riesige, vom Subproletariat gestellte industrielle Reservearmee, gefangen im Augenblick, ohne Berufsaussichten, ohne Zukunft, ohne einen persönlichen oder kollektiven Lebensplan und daher chiliastischen Phantastereien anheimgegeben (statt auf Revolution zu sinnen); auf der anderen Seite eine kleine privilegierte Minderheit von Arbeitern in festem Arbeitsverhältnis und mit sicherem Einkommen. Dazu prägt sich der Dualismus im sozialen Status und bei der Bezahlung der Beschäftigten immer stärker aus: Die unselbständigen, unterbezahlten, nichtqualifizierten oder unterqualifizierten Dienstleistungsjobs mit geringer Produktivität und ohne Aussicht auf ein berufliches Fortkommen nehmen immer mehr zu.

Jean Gadrey, der sich auf eine amerikanische Untersuchung beruft, hat festgestellt, dass von den 30 Jobkategorien, die die größte Zunahme verzeichnen werden, 17 keinerlei Qualifikation erfordern, während in acht Fällen eine Hochschulausbildung verlangt wird.2 Für sieben von zehn Jobs wird keine Qualifikation benötigt. Am anderen Ende des sozialen Raumes erleben die zugleich Herrschenden und Beherrschten, d.h. die mittleren und höheren Angestellten, eine neue Form der Entfremdung. Diese ambivalente Position, vergleichbar mit der der Kleinbürger an anderer Stelle der Sozialstruktur, führt zu Formen organisierter Selbstausbeutung: In den USA nimmt die durchschnittliche Jahresarbeitszeit zu, während gleichzeitig die Freizeit entsprechend schrumpft; die Betroffenen verdienen also viel Geld, haben aber keine Zeit, es auszugeben. Überanstrengt, gestresst, von Entlassung bedroht, sind sie gleichwohl noch an das Unternehmen gefesselt.

Was auch immer die Propheten der »neuen Ökonomie« behaupten – dieser Dualismus ist nirgendwo so klar zu erkennen wie in den gesellschaftlichen Anwendungen der Informatik. Die Verkünder der »neuen Ökonomie« und von Silicon Valley als gesellschaftlichem Modell neigen dazu, die derzeit zu beobachtenden ökonomischen und sozialen Veränderungen zu einer unausweichlichen Folge der technologischen Entwicklung zu erklären, wo sie doch nichts anderes sind als der ökonomisch und sozial bedingte gesellschaftliche Gebrauch, der von der Technologie gemacht wird. Entgegen der Illusion, es handele sich hier um ein noch nie dagewesenes, absolut neuartiges Phänomen, sind es denn auch die dem Gesellschaftssystem inhärenten strukturellen Zwänge – wie etwa die Logik der Vermittlung des kulturellen und schulischen Kapitals, die ja die wirkliche Beherrschung der neuen (technischen wie finanztechnischen) Instrumente zuallererst ermöglicht –, die nach wie vor schwer auf der Gegenwart lasten und das Unveröffentlichte und aus dem Rahmen Fallende formen.

Eine statistische Untersuchung über die Nutzanwendungen der Informatik zeigt, dass zwischen den »Interagierenden« und den »Interagierten« eine deutliche Kluft besteht, die sich aus der ungleichen Verteilung des kulturellen Kapitals und damit letztlich aus dem Schulsystem und der Vermittlung dieses Kapitals innerhalb der Familie herleitet. (Im übrigen hat der von Ökonomen eingeführte Begriff des kulturellen Kapitals gegenüber der Rede vom »menschlichen Kapital« den Vorzug, jegliche Erklärung der aus dem ungleichen kulturellen Kapital erwachsenden wirtschaftlichen und sozialen Unterschiede zu natürlichen zu vermeiden; statt dessen macht er sie an den Unterschieden von Bildung und sozialer Herkunft und nicht an »Begabungsunterschieden« fest). Der durchschnittliche Anwender der Informatik ist männlich, unter 35 Jahren, mit Hochschulabschluss und hohem Einkommen, er wohnt in einer Stadt und beherrscht die englische Sprache. Und es gibt fast keine Gemeinsamkeit zwischen den Virtuosen, die ihre eigenen Programme schreiben können, und den neuen Fließbandarbeitern der Informatik, wie etwa den Call-Center-Beschäftigten, die atomisiert, isoliert, von jeder betrieblichen Vertretung abgeschnitten, den Umwälzungen ausgeliefert sind.

Desgleichen stehen jene, die mit dem Internet verbunden sind und die über Terminals oder Rechner verfügen, die es ihnen erlauben, Handelsgeschäfte zu tätigen und Bankgeschäfte von zu Hause aus zu erledigen, jenen gegenüber, die von diesem Netz abgeschnitten sind. Und der Mythos, demzufolge das Internet die Nord-Süd-Beziehungen verändert, wird durch die Fakten brutal widerlegt: 1997 repräsentierten die reichsten 20% der Weltbevölkerung 93,3% der Internet-Nutzer, und die ärmsten 20% 0,2%. Das Immaterielle, auf der Ebene der Nationen wie der Individuen, beruht auf sehr realen Strukturen, wie den Bildungssystemen und den Forschungseinrichtungen, um nicht von den Banken und Unternehmen zu sprechen.

In den reichsten Gesellschaften beruht dieser Dualismus großenteils auf der ungleichen Verteilung des kulturellen Kapitals, das nicht nur weitgehend die Arbeitsteilung bestimmt, sondern auch ein äußerst machtvolles Instrument der Soziodizee ist. Zweifellos bezieht die herrschende Klasse ihre beispiellose Arroganz aus dem Umstand, dass sie, im Besitz eines umfangreichen kulturellen oder schulischen Kapitals (von dem für das 19. Jahrhundert typischen Gegensatz von Künstler und Bourgeois kann keine Rede mehr sein), es für vollkommen richtig hält, so zu leben, wie sie lebt (das Paradigma des neuen Erfolgsbürgers könnte Bill Gates sein). Der Hochschulabschluss ist nicht nur ein bildungsmäßiger Adelstitel, vielmehr gilt er gesellschaftlich als Ausweis einer natürlichen Intelligenz und Begabung. In dieser Hinsicht hat die »neue Ökonomie« alle Merkmale, um (im Sinne Huxleys) als beste aller Welten zu erscheinen: Sie ist global, wie diejenigen, die sie beherrschen, international, polyglott und multikulturell sind; sie ist »immateriell«, sie produziert immaterielle Gegenstände, Informationen, Kulturprodukte und bringt sie in Umlauf. Von daher kann sie als eine Ökonomie der Intelligenz erscheinen, die intelligenten Menschen vorbehalten ist (das sichert ihr die Sympathie von Journalisten und Managern, die »in« sind).

An diesem Punkt nimmt die Soziodizee die Form eines Rassismus der Intelligenz an. Die Armen sind nicht mehr wie noch im 19. Jahrhundert arm, weil sie sorglos und verschwenderisch usw. sind (im Gegensatz zu den »deserving poor«), sondern weil sie dumm, intellektuell unfähig sind. Mit einem Wort, von ihrer Ausbildung her »haben sie das, was sie verdienen«. Manche Ökonomen, darunter auch Gary Becker, sehen im Neodarwinismus, der die von der Theorie postulierte Rationalität zum Resultat einer natürlichen Auslese der Besten erklärt, eine unwiderlegbare Rechtfertigung dafür, dass tatsächlich »the best and brightest« am Ruder sind. Und dieser Kreis schließt sich am Ende, wenn die Ökonomie von der Mathematik eine ganz und gar unanfechtbare, epistemokratische Rechtfertigung der herrschenden Gesellschaftsordnung verlangt. Die Opfer einer so übermächtigen Herrschaftsform, die sich auf ein universell gültiges Herrschafts- und Legitimitätsprinzip berufen kann, wie es die Rationalität ist (die über das Schulsystem vermittelt wird), sind zutiefst in ihrem Selbstwertgefühl getroffen. Und vermutlich stellt sich auf diese Weise eine oftmals unmerkliche oder unverstandene Beziehung zwischen neoliberaler Politik und bestimmten faschistoiden Revolteerscheinungen auf der Seite jener her, die sich von der Moderne abgehängt sehen und Zuflucht beim Nationalen und beim Nationalismus suchen.

Die Tatsache nämlich, dass das neoliberale Gesellschaftsprojekt nur schwer wirksam zu bekämpfen ist, beruht darauf, dass es sich, obwohl es ein konservatives Projekt ist, als fortschrittlich präsentieren kann und alle Kritik an ihm in die Ecke des Konservatismus, ja der Rückständigkeit zu stellen vermag, zumal wenn sich die Kritik gegen die Zerstörung der sozialen Errungenschaften der Vergangenheit wendet. So können Regierungen, die sich als sozialdemokratisch verstehen, jene Kritiker, die ihnen die Aufkündigung ihres sozialistischen Programms zum Vorwurf machen, zusammen mit den Opfern ihres Einschwenkens auf die Linie des Neoliberalismus in einen Sack stecken (und mit dem Mischmaschwort »rot-braun« über einen Leisten schlagen).

2. Der Wandel des Staates und die Verwaltung des Elends

Der Neoliberalismus zielt auf die Zerstörung des Sozialstaats, der linken Hand des Staates. Am augenfälligsten ist dies im Gesundheitswesen, das von der neoliberalen Politik gleich von zwei Seiten angegriffen wird: Zum einen erhöht sich die Zahl der Kranken und der Krankheiten (vgl. etwa den Zusammenhang zwischen Armut – die zu den strukturellen Ursachen zählt – und Krankheit: Aids, Tuberkulose, Alkoholismus, Drogenabhängigkeit, Delinquenz, Arbeitsunfälle), und zum anderen werden die medizinischen Ressourcen, die Möglichkeiten ihrer Behandlung, eingeschränkt (so ist z.B. in Russland binnen zehn Jahren die Lebenserwartung um zehn Jahre gesunken). Allgemein verursacht eine Politik, die sich an der Kosteneffektivität orientiert, reale gesellschaftliche (kollektive) Kosten in beträchtlicher Höhe, die, wenn man sie in die Rechnung hineinnimmt, das Absurde dieser Politik deutlich machen.

In verschiedenen europäischen Ländern, darunter in Frankreich, haben wir es mit dem Aufkommen einer neuen Form der Sozialarbeit mit vielfältigen Funktionen zu tun, die die Umschulung des Kollektivs zum Neoliberalismus begleitet: Einerseits werden die vom Schulsystem produzierten, inzwischen aber sozial deklassierten Inhaber von entwerteten (entqualifizierten) Abschlüssen beschäftigt – in Frankreich etwa in der Tradition der sogenannten nationalen Werkstätten –, indem man sie von Leuten in vergleichbarer Situation (Sozialarbeitern, »Projektleitern« usw., die manchmal, etwa gegenüber jugendlichen Nordafrikanern, durchaus verständnisvoll und engagiert sind) betreuen lässt; andererseits werden Schulabbrecher von der Straße geholt, indem man ihnen eine Scheinarbeit anbietet und sie zu Arbeitnehmern ohne Arbeitslohn, Unternehmern ohne Unternehmen, Langzeitstudenten ohne Aussicht auf einen Abschluss oder eine Qualifizierung macht. Alle diese Einrichtungen der sozialen Betreuung fördern eine Art von kollektiver Selbst-Mystifikation (insbesondere durch die Verwischung der Grenze zwischen Arbeit und Nicht-Arbeit, zwischen Studium und Arbeit etc.) und stimulieren den Glauben an eine Talmiwirklichkeit, die im Zauberwort des »Projekts« symbolischen Ausdruck gefunden hat. Hinter all diesen Einrichtungen der Sozialarbeit verbirgt sich eine »karitative« Sozialphilosophie und eine »softe« Soziologie, die voller Verständnis für die ist, mit denen sie es zu tun hat, und die, weil sie den Standpunkt der »Subjekte« einzunehmen behauptet, die sie aktivieren möchte (»Aktionssoziologie«), am Ende nicht umhin kann, sich die mystifizierte und mystifizierende Vorstellung von der Sozialarbeit zu eigen zu machen. Damit ist sie Gegenpart einer streng wissenschaftlichen Soziologie, die unter diesem Gesichtspunkt letztlich als deterministisch und pessimistisch erscheinen muss, da sie danach strebt, die strukturellen Zwänge zu protokollieren.

Der Verfall des Sozialstaats geht einher mit einer Fortentwicklung des staatlichen Strafpotentials. Diese in den Vereinigten Staaten, wie Loïc Wacquant gezeigt hat, überaus markante Tendenz ist in Europa noch relativ unausgebildet. Insbesondere auch deswegen, weil sich der Sozialstaat, wenn auch in der mehr oder weniger fiktiven Gestalt, wie ich sie beschrieben habe, erhalten konnte.

Freilich ist staatliches oder parastaatliches Handeln (also zum Beispiel auf der Ebene der Gemeinden und karitativen Verbände) nur ein, wenn auch entscheidender Aspekt der sich herausbildenden symbolischen Formen von Herrschaft. Wie man schon an dem Kult sehen kann, der mit dem Begriff »Projekt« getrieben wird, haben die Intellektuellen bei der Verwaltung des Elends und der Erfindung von Instrumenten zu seiner Beschwichtigung eine enorm wichtige Rolle übernommen. Und das liegt ohne Zweifel daran, dass die neue Herrschaftsform großenteils auf Glaubenshaltungen beruht. Neben der »großen Seinskette«, in der sich die Nobelpreisökonomen mit ihren kristallklaren mathematischen Modellen mit den in der Analyse einer rüden und morastigen Realität befangenen Alltagsökonomen verbunden wissen, gibt es eine zweite Kette, die nicht eigentlich mit jener verknüpft ist (wenngleich die großen Ökonomen, die eine Art Deus absconditus3 sind, der sich ansonsten dem laisser-dire verschrieben hat, keineswegs darauf verzichten, gelegentlich höchstpersönlich in Erscheinung zu treten, und zwar stets, um die Tugenden des laisser-faire zu rühmen). Zu dieser gehören die großen angelsächsischen Handelsblätter wie Business Week oder Financial Times sowie Wirtschaftswochenzeitungen wie Le Nouvel Économiste, aber auch große Tageszeitungen wie Le Monde oder Libération. Wirtschaftsjournalisten und berühmte Leitartikler, mochte der Firnis ihrer ökonomischen Bildung auch noch so dünn sein, und ebenso im Journalismus tätige Intellektuelle haben, vermutlich mehr aus Unwissenheit und Inkompetenz denn aus Zynismus, diese kollektive Bekehrung zum Neoliberalismus, die sie selbst gerade vollzogen, wortreich untermalt. Und die symbolische Vorherrschaft des amerikanischen Modells hat in nicht geringem Maße zu diesem Prozess beigetragen, zumal durch Übernahme der vielen Wörter, die allesamt von dieser neuen Sozialphilosophie durchtränkt waren.

3. Die Politik neu erfinden

Angesichts einer dermaßen komplexen und ausgefeilten Herrschaftsform, bei der der Macht des Symbolischen eine so zentrale Rolle zukommt, gilt es, neue Kampfformen zu erfinden. Da Ideologen und »Ideen« in diesem Kontext ihren besonderen Platz haben, müssen auch die Wissenschaftler eine herausragende Rolle übernehmen. Sie müssen mit dafür sorgen, dass dem politischen Handeln neue Ziele gesetzt – die Auflösung der herrschenden Glaubenshaltungen – und neue Instrumente gefunden werden – als da wären technische Waffen, die sich aus der Forschung und aus qualifizierter wissenschaftlicher Arbeit herleiten, sowie symbolische Waffen, die geeignet sind, gängige Glaubensvorstellungen über den Haufen zu werfen, weil sie den Ergebnissen der Forschung eine anschauliche Form geben.

Die europäische soziale Bewegung, die wir gründen wollen, hat eine Utopie zu ihrem Zweck erklärt, nämlich ein Europa, in dem alle kritischen sozialen Kräfte, die heute noch sehr vielgestaltig und zersplittert daherkommen, hinreichend vereint und organisiert wären, um eine einheitliche Kraft kritischer Bewegung zu bilden. Diese Bewegung ist an sich selbst schon eine Utopie, wenn man bedenkt, wie zahlreich die sprachlichen, wirtschaftlichen und technischen Hindernisse auf dem Wege zu einer solchen Sammlungsbewegung sind.

Die Vielfalt und Verschiedenheit der Bewegungen, die sich ganz oder teilweise die von uns benannten Ziele gesetzt haben, ist in der Tat die höchste und wichtigste Rechtfertigung, ein solches kollektives Unternehmen anzugehen, das eben nicht die vielen Aktivitäten annektieren oder monopolisieren, sondern vereinen und integrieren soll, indem es Initiativen verknüpft und zusammenfügt und allen Einzelpersonen und Organisationen hilft, die sich auf diesem Terrain engagiert haben, um die Auswirkungen des vorhandenen Neben- und Gegeneinanders zu überwinden. Es geht also vor allem darum, ein kohärentes Ganzes von Alternativvorschlägen vorzustellen, die von Wissenschaftlern und Akteuren gemeinsam erarbeitet werden (dabei ist jede Instrumentalisierung der ersteren durch letztere und umgekehrt zu vermeiden) und die eine Vereinheitlichung der sozialen Bewegung dadurch in Gang bringen können, dass die Divergenzen zwischen den nationalen Traditionen und innerhalb der jeweiligen Nationen, die Divergenzen zwischen den Berufsgruppen (zumal zwischen Beschäftigten und Arbeitslosen), zwischen den Geschlechtern, den Generationen, den ethnischen Gruppen (Migranten und Einheimischen) aufgehoben werden. Dies geht nur um den Preis einer umfangreichen kollektiven Arbeit organisatorischer Erfindungskraft, die notwendig ist, um die kritischen, theoretischen wie praktischen, Aktivitäten aller sozialen Bewegungen zu koordinieren, die darauf hinwirken, die Mängel des entpolitisierenden Denkens und Handelns der mit dem Regieren betrauten Sozialdemokratie zu beseitigen. Nur so können andere Strukturen der wissenschaftlichen Betätigung, der Diskussion und Mobilisierung auf unterschiedlichen Ebenen (international, national und lokal) erdacht werden, die allmählich in die Angelegenheiten und in die Denkweisen eine neue Art, Politik zu machen, hineinbringen.

1 Frédéric Lordon, Fonds de pension, piège à cons? Mirage de la démocratie actionnariale. Editions Raisons d’agir, Paris 2000.
2 Jean Gadrey, Nouvelle économie, nouvelle mythe? Paris, Flammarion, 2000, S. 90
3 Der trotz Offenbarung letztlich unerkennbare Gott; Anm. d. Red.