Im Gegensatz zu jenen, die in ihrem Eifer, nichts an der »Moderne« zu
verpassen und auf billige Art und Weise ihr Anderssein zur Geltung zu bringen,
überall nur Neues sehen und beständig den »Wandel«, wenn nicht sogar die »Revolution«
im Munde führen, wenn sie von der »neuen Ökonomie« oder vom »neuen Geist
des Kapitalismus« reden, möchte ich im Folgenden auf Veränderungen eingehen,
die sich auf zwei miteinander verbundenen Gebieten zugetragen haben: in den
Betrieben und im Staat. Ich tue dies, um einen Überblick über diese nur selten
systematisch betrachteten Veränderungen zu erlangen und darzustellen. In einem
weiteren Schritt möchte ich sodann versuchen, einige Aktionsprinzipien für
eine soziale Bewegung in Europa herauszuarbeiten.
Wenn ich von der europäischen sozialen Bewegung spreche und dazu einlade, sich
ihr anzuschließen, so deshalb, weil ich seit langem darunter leide, dass in der
europäischen Konstruktion eine solche soziale Bewegung fehlt, die die
kritischen Forscher und die Gewerkschaften oder die Verbände miteinander verknüpft.
Wir haben ein Europa der Banken und der Bankiers, ein Europa der Unternehmen und
der Unternehmer, ein Europa der Polizei und der Polizisten, wir werden bald ein
Europa der Armeen und des Militärs haben, doch obwohl es einen europäischen
Gewerkschaftsbund gibt, kann man nicht sagen, dass das Europa der Gewerkschaften
und der Verbände wirklich existiert; desgleichen kann man zwar die Kolloquien
nicht mehr zählen, auf denen Europa und die akademischen Institutionen erörtert
werden, wo auf akademische Weise über europäische Probleme gesprochen wird,
das Europa der Künstler, der Schriftsteller und der Wissenschaftler aber
existiert noch kaum.
Das Paradox besteht darin, dass dieses Europa, das sich um die Macht und die
Machthabenden herausbildet und das so wenig europäisch ist, in Wahrheit nur
kritisierbar ist, indem man Gefahr läuft, mit den Widerständen eines reaktionären
Nationalismus (der leider unbestreitbar auch existiert) verwechselt zu werden
und dazu beizutragen, es als modern, wenn nicht fortschrittlich erscheinen zu
lassen. Es muss etwas Gestalt annehmen, was in der europäischen Tradition am stärksten
europäisch ist, d.h. eine kritische soziale Bewegung, eine Bewegung der
Sozialkritik, die fähig ist, die Arbeit der europäischen Konstruktion einer
wirksamen Anfechtung auszusetzen, d.h. einer, die intellektuell und politisch
stark genug ist, um sich bemerkbar zu machen und um echte Wirkung zu erzielen.
Diese kritische Anfechtung zielt nicht darauf ab, das europäische Projekt rückgängig
zu machen, es zu neutralisieren, sondern im Gegenteil, es zu radikalisieren und
dadurch den Bürgern näher zu bringen, insbesondere den jüngsten unter ihnen,
die man oft als entpolitisiert bezeichnet, während sie einfach einer Politik überdrüssig
sind, die ihnen von den Politikern geboten wird. Man muss der Politik wieder
eine neue Bedeutung geben und dafür Zukunftsprojekte vorschlagen, die in der
Lage sind, der ökonomischen und sozialen Welt einen Sinn zu verleihen, die im
Laufe der vergangenen Jahre einem beträchtlichen Wandel unterlegen ist.
1. Veränderungen in der Ökonomie und das Unternehmen der Zukunft
Gewiss noch geläufig ist der von Bearle und Means in den 30er Jahren
beschriebene Übergang von der Hegemonie der owners, der Aktionäre, zur
Herrschaft der Manager. Heute indessen kann man den erneuten Triumph der owners
beobachten, einen scheinbaren Triumph allerdings, denn auch jetzt verfügen sie
nicht über mehr Macht als zur Zeit von Galbraith’ »Technostruktur«. So sind
denn auch die wahren Herren der Ökonomie keineswegs die dem Diktat der
Profitraten unterworfenen Manager, also jene Vorstandsvorsitzenden, die gewärtigen
müssen, vor die Tür gesetzt zu werden (wenn auch meist mit beträchtlichen
Abfindungssummen), je nachdem, wie die Quartalsprüfung des von ihnen
erwirtschafteten »Shareholder Value« ausfällt. Es sind auch nicht jene
leitenden Angestellten, deren stets nur kurzfristig ausgezahltes Gehalt sich
nach den Aufträgen bemisst, die sie akquiriert haben, und die die Börsenkurse
verfolgen, von denen der Wert ihrer Stock Options abhängt, und ebensowenig die
owners, die kleinen Aktieninhaber, wie es uns der Mythos von der »Aktionärsdemokratie«
weismachen möchte. Tatsächlich sind es die Verwalter der großen Institutionen
(Pensionsfonds, große Versicherungsgesellschaften und, insbesondere in den USA,
Sammelfonds, Währungs- oder Mutual Funds) die heute über das Feld des
Finanzkapitals herrschen, auf dem dieses zugleich ein Objekt der Begierde und
eine Waffe ist (wie auch gewisse Formen des kulturellen Kapitals, das die
spezialisierten Beratungsgremien, die Analysten und Währungshüter mit hoher
symbolischer Effizienz mobilisieren können). Sie leiten daraus einen beträchtlichen
Druck, sowohl auf die Unternehmen als auch auf die Staaten, ab. Ein Gutteil
dessen, was auf diesem Feld passiert, ist gesellschaftlich determiniert, auch
wenn man uns glauben machen möchte, dass es sich um eine bloße, das heißt
naturhafte ökonomische Notwendigkeit handele, gegen die man nichts ausrichten könne.
(Die Tatsache zum Beispiel, dass die Inflationsrate auf zwei Prozent begrenzt
wird, ist rein willkürlich; aber diese inzwischen zu einem kollektiven
Glaubenssatz mutierte Obergrenze hat die Menschen in außergewöhnlichem Maße für
die Inflation sensibilisiert, was wiederum ganz reale Auswirkungen hat.) Dieser
kollektive Glaubenssatz setzt sich gegenüber allen durch, die bei diesem Spiel
mitspielen. So hat man etwa feststellen können, dass Gewerkschafter, die, weil
sie glaubwürdig sein wollen, bei der Verwaltung der Rentenfonds mitmischen,
sich auf dieses Spiel einlassen und zu seinen überzeugtesten Parteigängern
werden. Damit ihre Botschaft ankommt, müssen sie sich Gehör verschaffen; um
sich Gehör zu verschaffen, vergessen sie und sorgen dafür, dass auch ihre
Botschaft vergessen wird. Ein typisches Beispiel symbolischer Herrschaft.
Die Kapitaleigner sind in der Lage, etwas durchzusetzen, was Frédéric Lordon1
– in ironischer Anspielung auf den in Frankreich staatlich garantierten
Mindestlohn – das garantierte Mindestkapitaleinkommen des Shareholders nennt.
Als Mitglieder in den Aufsichtsräten der Unternehmen (corporate governance)
sind sie entsprechend der Logik des Systems, das sie beherrschen, dazu
gezwungen, nach immer höheren Profitraten (12, 15, ja bis zu 18%) zu streben,
die die Firmen nur um den Preis von Entlassungen erzielen können. Sie übertragen
somit ihren Managern die Umsetzung des Imperativs kurzfristig zu erzielender
Gewinne, der damit zum faktischen Endzweck des ganzen Systems wird – unter
Missachtung der ökologischen Folgen und vor allem der Folgen für die
arbeitenden Menschen. Die Manager werden ihrerseits dazu gebracht, die Risiken
auf die Beschäftigten abzuwälzen, insbesondere über Entlassungen. Kurz,
aufgrund der Tatsache, dass die Herrschenden in diesem Spiel selbst durch die
Regeln des Spiels, das sie beherrschen, nämlich jene des Profits, beherrscht
werden, funktioniert dieses Feld wie eine Art Höllenmaschine ohne Subjekt, das
sein Gesetz den Staaten und den Unternehmen aufzwingt.
Das Streben nach kurzfristigem Profit bestimmt sämtliche Entscheidungen in den
Unternehmen: die Einstellungspraxis, bei der Flexibilität und Mobilität der
Beschäftigten zum obersten Gebot werden (eingestellt wird auf der Basis von
Kurzzeit- oder Stundenverträgen); die Vereinzelung des Lohnverhältnisses; das
Fehlen jeglicher langfristigen Planung, zumal bei den Arbeitskräften.
Angesichts der ständigen Drohung mit einer Verschlankung des Betriebs führen
die Beschäftigten ein Leben, in dem Unsicherheit und Ungewissheit die alles
beherrschenden Momente sind. Während im vorherigen, Fordismus genannten System
der Profit mit Hilfe der Arbeitsproduktivität erzielt wurde, deren Gegenpart
die Beschäftigungssicherheit und ein relativ hohes Lohnniveau bildeten, das,
indem es die Nachfrage nährte, das Wachstum und den Profit stützte, so
maximiert die neue Produktionsweise den Profit, indem sie die Lohnsumme durch
den Druck auf die Gehälter und durch Entlassungen reduziert, wobei die Aktionäre
sich allein um die Börsenkurse und um die Preisstabilität sorgen.
So hat sich mittlerweile ein Wirtschaftssystem etabliert, welches untrennbar
verbunden ist mit einem bestimmten politischen System, eine Produktionsweise,
die eine Herrschaftsform impliziert, welche auf der Institutionalisierung der
Unsicherheit beruht, der Herrschaft durch Prekarität: Ein deregulierter
Finanzmarkt leistet der Deregulierung des Arbeitsmarkts und damit der
Ausbreitung prekärer Arbeitsverhältnisse Vorschub; das wiederum erzwingt die
Gefügigkeit der Arbeiter. Die Betriebe werden von einem nach
betriebswirtschaftlicher Rationalität verfahrenden Management geführt, das
(neben anderen Herrschaftsinstrumenten) die Waffe der Verunsicherung benutzt, um
die Beschäftigten in einen Zustand anhaltender existentieller Gefährdung, des
körperlichen Stresses und der psychischen Anspannung zu versetzen, und das der
Selbstausbeutung den Boden bereitet.
Im Unterschied zu den »traditionell« unsicheren Arbeitsverhältnissen im
Dienstleistungsbereich und im Bauhandwerk institutionalisieren die
Zukunftsbetriebe diese Unsicherheit als Prinzip der betrieblichen
Arbeitsorganisation und als Lebensform für den einzelnen. In einem Artikel in
Le Monde diplomatique vom Mai dieses Jahres über Teleshopping- oder
Telemarketingunternehmen, deren Beschäftigte, die sogenannten »Teleberater«,
von zu Hause aus telefonieren müssen, um ihre Artikel zu verkaufen, beschreibt
Gilles Balbastre die Durchsetzung eines Systems, das im Hinblick auf die
Produktivität, auf Kontrolle und Überwachung, auf die Arbeitszeit und das völlige
Fehlen einer beruflichen Karriere nachgerade als eine Taylorisierung des
Dienstleistungssektors gelten kann (wobei die Beschäftigten, im Gegensatz zu
den Ungelernten im tayloristischen System, hochqualifiziert sind). Doch der
Prototyp des Ungelernten der »neuen Ökonomie« ist zweifellos die Kassiererin
im Supermarkt, die durch die Datenverarbeitung der Warenpreise in eine wahre
Fließbandarbeiterin verwandelt wird, deren Arbeitsschritte bis ins Kleinste
vermessen und kontrolliert werden, und deren Arbeitszeit mit den Kundenströmen
fluktuiert; sie hat weder das Leben noch den Lebensstil einer Fabrikarbeiterin,
doch sie nimmt in der neuen Struktur eine äquivalente Stellung ein.
Mit diesen Unternehmen, die Produkte von geringer Lebensdauer verkaufen, die
eine Wegwerfmentalität befördern helfen und die ihren Beschäftigten keine
Sicherheit bieten können, zeichnen sich ökonomische Verhältnisse ab, die
jener Sozialphilosophie nahe kommen, die der neoklassischen Theorie immanent
ist: als ob jene mit der neoklassischen Ökonomie verbundene, individualistische
und ultra-subjektivistische Augenblicksphilosophie, die in der neoliberalen
Politik das Mittel gefunden hatte, um zu ihrer Wahrheit zu kommen, die
Bedingungen ihrer eigenen Verifizierung geschaffen hätte. Dieses in chronischer
Instabilität befindliche System ist strukturell dem Risiko ausgeliefert, und
das nicht allein, weil, gleich einem Damoklesschwert, die (mit den
Spekulationsblasen in Zusammenhang stehende) Krise beständig über ihm schwebt.
Im übrigen erheben Ulrich Beck und Anthony Giddens, wenn sie sich den Mythos
der Umwandlung aller Beschäftigten in dynamische Kleinunternehmer zu eigen
machen, die Regeln, die den Beherrschten von den Erfordernissen der Ökonomie
aufgezwungen werden, zu Normen ihres praktischen Handelns.
Aber die wesentliche Folge dieser neuen Produktionsweise ist eine dualistische
Ökonomie, die große Ähnlichkeit aufweist mit der Ökonomie, die ich in den
60er Jahren in Algerien kennengelernt habe, und die ja auch viele Dritte-Welt-Länder
kennzeichnet: auf der einen Seite eine riesige, vom Subproletariat gestellte
industrielle Reservearmee, gefangen im Augenblick, ohne Berufsaussichten, ohne
Zukunft, ohne einen persönlichen oder kollektiven Lebensplan und daher
chiliastischen Phantastereien anheimgegeben (statt auf Revolution zu sinnen);
auf der anderen Seite eine kleine privilegierte Minderheit von Arbeitern in
festem Arbeitsverhältnis und mit sicherem Einkommen. Dazu prägt sich der
Dualismus im sozialen Status und bei der Bezahlung der Beschäftigten immer stärker
aus: Die unselbständigen, unterbezahlten, nichtqualifizierten oder
unterqualifizierten Dienstleistungsjobs mit geringer Produktivität und ohne
Aussicht auf ein berufliches Fortkommen nehmen immer mehr zu.
Jean Gadrey, der sich auf eine amerikanische Untersuchung beruft, hat
festgestellt, dass von den 30 Jobkategorien, die die größte Zunahme
verzeichnen werden, 17 keinerlei Qualifikation erfordern, während in acht Fällen
eine Hochschulausbildung verlangt wird.2 Für sieben von zehn Jobs
wird keine Qualifikation benötigt. Am anderen Ende des sozialen Raumes erleben
die zugleich Herrschenden und Beherrschten, d.h. die mittleren und höheren
Angestellten, eine neue Form der Entfremdung. Diese ambivalente Position,
vergleichbar mit der der Kleinbürger an anderer Stelle der Sozialstruktur, führt
zu Formen organisierter Selbstausbeutung: In den USA nimmt die durchschnittliche
Jahresarbeitszeit zu, während gleichzeitig die Freizeit entsprechend schrumpft;
die Betroffenen verdienen also viel Geld, haben aber keine Zeit, es auszugeben.
Überanstrengt, gestresst, von Entlassung bedroht, sind sie gleichwohl noch an
das Unternehmen gefesselt.
Was auch immer die Propheten der »neuen Ökonomie« behaupten – dieser
Dualismus ist nirgendwo so klar zu erkennen wie in den gesellschaftlichen
Anwendungen der Informatik. Die Verkünder der »neuen Ökonomie« und von
Silicon Valley als gesellschaftlichem Modell neigen dazu, die derzeit zu
beobachtenden ökonomischen und sozialen Veränderungen zu einer
unausweichlichen Folge der technologischen Entwicklung zu erklären, wo sie doch
nichts anderes sind als der ökonomisch und sozial bedingte gesellschaftliche
Gebrauch, der von der Technologie gemacht wird. Entgegen der Illusion, es
handele sich hier um ein noch nie dagewesenes, absolut neuartiges Phänomen,
sind es denn auch die dem Gesellschaftssystem inhärenten strukturellen Zwänge
– wie etwa die Logik der Vermittlung des kulturellen und schulischen Kapitals,
die ja die wirkliche Beherrschung der neuen (technischen wie finanztechnischen)
Instrumente zuallererst ermöglicht –, die nach wie vor schwer auf der
Gegenwart lasten und das Unveröffentlichte und aus dem Rahmen Fallende formen.
Eine statistische Untersuchung über die Nutzanwendungen der Informatik zeigt,
dass zwischen den »Interagierenden« und den »Interagierten« eine deutliche
Kluft besteht, die sich aus der ungleichen Verteilung des kulturellen Kapitals
und damit letztlich aus dem Schulsystem und der Vermittlung dieses Kapitals
innerhalb der Familie herleitet. (Im übrigen hat der von Ökonomen eingeführte
Begriff des kulturellen Kapitals gegenüber der Rede vom »menschlichen Kapital«
den Vorzug, jegliche Erklärung der aus dem ungleichen kulturellen Kapital
erwachsenden wirtschaftlichen und sozialen Unterschiede zu natürlichen zu
vermeiden; statt dessen macht er sie an den Unterschieden von Bildung und
sozialer Herkunft und nicht an »Begabungsunterschieden« fest). Der
durchschnittliche Anwender der Informatik ist männlich, unter 35 Jahren, mit
Hochschulabschluss und hohem Einkommen, er wohnt in einer Stadt und beherrscht
die englische Sprache. Und es gibt fast keine Gemeinsamkeit zwischen den
Virtuosen, die ihre eigenen Programme schreiben können, und den neuen Fließbandarbeitern
der Informatik, wie etwa den Call-Center-Beschäftigten, die atomisiert,
isoliert, von jeder betrieblichen Vertretung abgeschnitten, den Umwälzungen
ausgeliefert sind.
Desgleichen stehen jene, die mit dem Internet verbunden sind und die über
Terminals oder Rechner verfügen, die es ihnen erlauben, Handelsgeschäfte zu tätigen
und Bankgeschäfte von zu Hause aus zu erledigen, jenen gegenüber, die von
diesem Netz abgeschnitten sind. Und der Mythos, demzufolge das Internet die
Nord-Süd-Beziehungen verändert, wird durch die Fakten brutal widerlegt: 1997
repräsentierten die reichsten 20% der Weltbevölkerung 93,3% der
Internet-Nutzer, und die ärmsten 20% 0,2%. Das Immaterielle, auf der Ebene der
Nationen wie der Individuen, beruht auf sehr realen Strukturen, wie den
Bildungssystemen und den Forschungseinrichtungen, um nicht von den Banken und
Unternehmen zu sprechen.
In den reichsten Gesellschaften beruht dieser Dualismus großenteils auf der
ungleichen Verteilung des kulturellen Kapitals, das nicht nur weitgehend die
Arbeitsteilung bestimmt, sondern auch ein äußerst machtvolles Instrument der
Soziodizee ist. Zweifellos bezieht die herrschende Klasse ihre beispiellose
Arroganz aus dem Umstand, dass sie, im Besitz eines umfangreichen kulturellen
oder schulischen Kapitals (von dem für das 19. Jahrhundert typischen Gegensatz
von Künstler und Bourgeois kann keine Rede mehr sein), es für vollkommen
richtig hält, so zu leben, wie sie lebt (das Paradigma des neuen Erfolgsbürgers
könnte Bill Gates sein). Der Hochschulabschluss ist nicht nur ein bildungsmäßiger
Adelstitel, vielmehr gilt er gesellschaftlich als Ausweis einer natürlichen
Intelligenz und Begabung. In dieser Hinsicht hat die »neue Ökonomie« alle
Merkmale, um (im Sinne Huxleys) als beste aller Welten zu erscheinen: Sie ist
global, wie diejenigen, die sie beherrschen, international, polyglott und
multikulturell sind; sie ist »immateriell«, sie produziert immaterielle
Gegenstände, Informationen, Kulturprodukte und bringt sie in Umlauf. Von daher
kann sie als eine Ökonomie der Intelligenz erscheinen, die intelligenten
Menschen vorbehalten ist (das sichert ihr die Sympathie von Journalisten und
Managern, die »in« sind).
An diesem Punkt nimmt die Soziodizee die Form eines Rassismus der Intelligenz
an. Die Armen sind nicht mehr wie noch im 19. Jahrhundert arm, weil sie sorglos
und verschwenderisch usw. sind (im Gegensatz zu den »deserving poor«), sondern
weil sie dumm, intellektuell unfähig sind. Mit einem Wort, von ihrer Ausbildung
her »haben sie das, was sie verdienen«. Manche Ökonomen, darunter auch Gary
Becker, sehen im Neodarwinismus, der die von der Theorie postulierte Rationalität
zum Resultat einer natürlichen Auslese der Besten erklärt, eine unwiderlegbare
Rechtfertigung dafür, dass tatsächlich »the best and brightest« am Ruder
sind. Und dieser Kreis schließt sich am Ende, wenn die Ökonomie von der
Mathematik eine ganz und gar unanfechtbare, epistemokratische Rechtfertigung der
herrschenden Gesellschaftsordnung verlangt. Die Opfer einer so übermächtigen
Herrschaftsform, die sich auf ein universell gültiges Herrschafts- und
Legitimitätsprinzip berufen kann, wie es die Rationalität ist (die über das
Schulsystem vermittelt wird), sind zutiefst in ihrem Selbstwertgefühl
getroffen. Und vermutlich stellt sich auf diese Weise eine oftmals unmerkliche
oder unverstandene Beziehung zwischen neoliberaler Politik und bestimmten
faschistoiden Revolteerscheinungen auf der Seite jener her, die sich von der
Moderne abgehängt sehen und Zuflucht beim Nationalen und beim Nationalismus
suchen.
Die Tatsache nämlich, dass das neoliberale Gesellschaftsprojekt nur schwer
wirksam zu bekämpfen ist, beruht darauf, dass es sich, obwohl es ein
konservatives Projekt ist, als fortschrittlich präsentieren kann und alle
Kritik an ihm in die Ecke des Konservatismus, ja der Rückständigkeit zu
stellen vermag, zumal wenn sich die Kritik gegen die Zerstörung der sozialen
Errungenschaften der Vergangenheit wendet. So können Regierungen, die sich als
sozialdemokratisch verstehen, jene Kritiker, die ihnen die Aufkündigung ihres
sozialistischen Programms zum Vorwurf machen, zusammen mit den Opfern ihres
Einschwenkens auf die Linie des Neoliberalismus in einen Sack stecken (und mit
dem Mischmaschwort »rot-braun« über einen Leisten schlagen).
2. Der Wandel des Staates und die Verwaltung des Elends
Der Neoliberalismus zielt auf die Zerstörung des Sozialstaats, der linken Hand
des Staates. Am augenfälligsten ist dies im Gesundheitswesen, das von der
neoliberalen Politik gleich von zwei Seiten angegriffen wird: Zum einen erhöht
sich die Zahl der Kranken und der Krankheiten (vgl. etwa den Zusammenhang
zwischen Armut – die zu den strukturellen Ursachen zählt – und Krankheit:
Aids, Tuberkulose, Alkoholismus, Drogenabhängigkeit, Delinquenz, Arbeitsunfälle),
und zum anderen werden die medizinischen Ressourcen, die Möglichkeiten ihrer
Behandlung, eingeschränkt (so ist z.B. in Russland binnen zehn Jahren die
Lebenserwartung um zehn Jahre gesunken). Allgemein verursacht eine Politik, die
sich an der Kosteneffektivität orientiert, reale gesellschaftliche (kollektive)
Kosten in beträchtlicher Höhe, die, wenn man sie in die Rechnung hineinnimmt,
das Absurde dieser Politik deutlich machen.
In verschiedenen europäischen Ländern, darunter in Frankreich, haben wir es
mit dem Aufkommen einer neuen Form der Sozialarbeit mit vielfältigen Funktionen
zu tun, die die Umschulung des Kollektivs zum Neoliberalismus begleitet:
Einerseits werden die vom Schulsystem produzierten, inzwischen aber sozial
deklassierten Inhaber von entwerteten (entqualifizierten) Abschlüssen beschäftigt
– in Frankreich etwa in der Tradition der sogenannten nationalen Werkstätten
–, indem man sie von Leuten in vergleichbarer Situation (Sozialarbeitern, »Projektleitern«
usw., die manchmal, etwa gegenüber jugendlichen Nordafrikanern, durchaus verständnisvoll
und engagiert sind) betreuen lässt; andererseits werden Schulabbrecher von der
Straße geholt, indem man ihnen eine Scheinarbeit anbietet und sie zu
Arbeitnehmern ohne Arbeitslohn, Unternehmern ohne Unternehmen, Langzeitstudenten
ohne Aussicht auf einen Abschluss oder eine Qualifizierung macht. Alle diese
Einrichtungen der sozialen Betreuung fördern eine Art von kollektiver
Selbst-Mystifikation (insbesondere durch die Verwischung der Grenze zwischen
Arbeit und Nicht-Arbeit, zwischen Studium und Arbeit etc.) und stimulieren den
Glauben an eine Talmiwirklichkeit, die im Zauberwort des »Projekts«
symbolischen Ausdruck gefunden hat. Hinter all diesen Einrichtungen der
Sozialarbeit verbirgt sich eine »karitative« Sozialphilosophie und eine »softe«
Soziologie, die voller Verständnis für die ist, mit denen sie es zu tun hat,
und die, weil sie den Standpunkt der »Subjekte« einzunehmen behauptet, die sie
aktivieren möchte (»Aktionssoziologie«), am Ende nicht umhin kann, sich die
mystifizierte und mystifizierende Vorstellung von der Sozialarbeit zu eigen zu
machen. Damit ist sie Gegenpart einer streng wissenschaftlichen Soziologie, die
unter diesem Gesichtspunkt letztlich als deterministisch und pessimistisch
erscheinen muss, da sie danach strebt, die strukturellen Zwänge zu
protokollieren.
Der Verfall des Sozialstaats geht einher mit einer Fortentwicklung des
staatlichen Strafpotentials. Diese in den Vereinigten Staaten, wie Loïc
Wacquant gezeigt hat, überaus markante Tendenz ist in Europa noch relativ
unausgebildet. Insbesondere auch deswegen, weil sich der Sozialstaat, wenn auch
in der mehr oder weniger fiktiven Gestalt, wie ich sie beschrieben habe,
erhalten konnte.
Freilich ist staatliches oder parastaatliches Handeln (also zum Beispiel auf der
Ebene der Gemeinden und karitativen Verbände) nur ein, wenn auch entscheidender
Aspekt der sich herausbildenden symbolischen Formen von Herrschaft. Wie man
schon an dem Kult sehen kann, der mit dem Begriff »Projekt« getrieben wird,
haben die Intellektuellen bei der Verwaltung des Elends und der Erfindung von
Instrumenten zu seiner Beschwichtigung eine enorm wichtige Rolle übernommen.
Und das liegt ohne Zweifel daran, dass die neue Herrschaftsform großenteils auf
Glaubenshaltungen beruht. Neben der »großen Seinskette«, in der sich die
Nobelpreisökonomen mit ihren kristallklaren mathematischen Modellen mit den in
der Analyse einer rüden und morastigen Realität befangenen Alltagsökonomen
verbunden wissen, gibt es eine zweite Kette, die nicht eigentlich mit jener
verknüpft ist (wenngleich die großen Ökonomen, die eine Art Deus absconditus3
sind, der sich ansonsten dem laisser-dire verschrieben hat, keineswegs darauf
verzichten, gelegentlich höchstpersönlich in Erscheinung zu treten, und zwar
stets, um die Tugenden des laisser-faire zu rühmen). Zu dieser gehören die großen
angelsächsischen Handelsblätter wie Business Week oder Financial Times sowie
Wirtschaftswochenzeitungen wie Le Nouvel Économiste, aber auch große
Tageszeitungen wie Le Monde oder Libération. Wirtschaftsjournalisten und berühmte
Leitartikler, mochte der Firnis ihrer ökonomischen Bildung auch noch so dünn
sein, und ebenso im Journalismus tätige Intellektuelle haben, vermutlich mehr
aus Unwissenheit und Inkompetenz denn aus Zynismus, diese kollektive Bekehrung
zum Neoliberalismus, die sie selbst gerade vollzogen, wortreich untermalt. Und
die symbolische Vorherrschaft des amerikanischen Modells hat in nicht geringem
Maße zu diesem Prozess beigetragen, zumal durch Übernahme der vielen Wörter,
die allesamt von dieser neuen Sozialphilosophie durchtränkt waren.
3. Die Politik neu erfinden
Angesichts einer dermaßen komplexen und ausgefeilten Herrschaftsform, bei der
der Macht des Symbolischen eine so zentrale Rolle zukommt, gilt es, neue
Kampfformen zu erfinden. Da Ideologen und »Ideen« in diesem Kontext ihren
besonderen Platz haben, müssen auch die Wissenschaftler eine herausragende
Rolle übernehmen. Sie müssen mit dafür sorgen, dass dem politischen Handeln
neue Ziele gesetzt – die Auflösung der herrschenden Glaubenshaltungen – und
neue Instrumente gefunden werden – als da wären technische Waffen, die sich
aus der Forschung und aus qualifizierter wissenschaftlicher Arbeit herleiten,
sowie symbolische Waffen, die geeignet sind, gängige Glaubensvorstellungen über
den Haufen zu werfen, weil sie den Ergebnissen der Forschung eine anschauliche
Form geben.
Die europäische soziale Bewegung, die wir gründen wollen, hat eine Utopie zu
ihrem Zweck erklärt, nämlich ein Europa, in dem alle kritischen sozialen Kräfte,
die heute noch sehr vielgestaltig und zersplittert daherkommen, hinreichend
vereint und organisiert wären, um eine einheitliche Kraft kritischer Bewegung
zu bilden. Diese Bewegung ist an sich selbst schon eine Utopie, wenn man
bedenkt, wie zahlreich die sprachlichen, wirtschaftlichen und technischen
Hindernisse auf dem Wege zu einer solchen Sammlungsbewegung sind.
Die Vielfalt und Verschiedenheit der Bewegungen, die sich ganz oder teilweise
die von uns benannten Ziele gesetzt haben, ist in der Tat die höchste und
wichtigste Rechtfertigung, ein solches kollektives Unternehmen anzugehen, das
eben nicht die vielen Aktivitäten annektieren oder monopolisieren, sondern
vereinen und integrieren soll, indem es Initiativen verknüpft und zusammenfügt
und allen Einzelpersonen und Organisationen hilft, die sich auf diesem Terrain
engagiert haben, um die Auswirkungen des vorhandenen Neben- und Gegeneinanders
zu überwinden. Es geht also vor allem darum, ein kohärentes Ganzes von
Alternativvorschlägen vorzustellen, die von Wissenschaftlern und Akteuren
gemeinsam erarbeitet werden (dabei ist jede Instrumentalisierung der ersteren
durch letztere und umgekehrt zu vermeiden) und die eine Vereinheitlichung der
sozialen Bewegung dadurch in Gang bringen können, dass die Divergenzen zwischen
den nationalen Traditionen und innerhalb der jeweiligen Nationen, die
Divergenzen zwischen den Berufsgruppen (zumal zwischen Beschäftigten und
Arbeitslosen), zwischen den Geschlechtern, den Generationen, den ethnischen
Gruppen (Migranten und Einheimischen) aufgehoben werden. Dies geht nur um den
Preis einer umfangreichen kollektiven Arbeit organisatorischer Erfindungskraft,
die notwendig ist, um die kritischen, theoretischen wie praktischen, Aktivitäten
aller sozialen Bewegungen zu koordinieren, die darauf hinwirken, die Mängel des
entpolitisierenden Denkens und Handelns der mit dem Regieren betrauten
Sozialdemokratie zu beseitigen. Nur so können andere Strukturen der
wissenschaftlichen Betätigung, der Diskussion und Mobilisierung auf
unterschiedlichen Ebenen (international, national und lokal) erdacht werden, die
allmählich in die Angelegenheiten und in die Denkweisen eine neue Art, Politik
zu machen, hineinbringen.
1 Frédéric Lordon, Fonds de pension, piège à cons? Mirage de
la démocratie actionnariale. Editions Raisons d’agir, Paris 2000.
2 Jean Gadrey, Nouvelle économie, nouvelle mythe? Paris, Flammarion, 2000, S.
90
3 Der trotz Offenbarung letztlich unerkennbare Gott; Anm. d. Red.
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