Die Analyse des GegenStandpunkt-Verlags in Radio Lora vom 10. Dezember 2001

Besatzungsmacht als "Terrorismusbekämpfung"
Wie Israel die Palästinenserfrage abwickelt

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Die Regierung Scharon hat unmittelbar nach dem Anschlag auf die amerikanischen Türme und das Kriegsministerium in Washington gemerkt, dass sie daraus einen Kollateralnutzen ziehen kann: Wenn die USA, ihr großer Verbündeter und die Schutzmacht des jüdischen Staates, einen heiligen "Krieg gegen den Terrorismus" proklamieren, dann erklärt sich Israel zum Frontstaat der ersten Stunde und seine Gegner innerhalb des von ihm kontrollierten Gebiets flugs und allesamt zu "Terroristen". Der Erfolg dieser Politik ist den Berichten und Kommentaren der freiheitlich-demokratischen Presse zu entnehmen: Ganz selbstverständlich wird da unter vorsätzlicher Nicht-Beachtung gültiger UNO-Beschlüsse ignoriert, dass die israelische Souveränität über das Westjordanland und den Gaza-Streifen ein Besatzungsregime ist, wogegen Widerstand seitens der Besetzten gar nicht ausbleiben kann. Zumal wenn die Besatzungsmacht so offensiv verkündet, dass sie nicht im Traum daran denkt, am Status quo prinzipiell etwas zu verändern, also den Besetzten keinerlei Aussicht auf einen Interessenausgleich per Verhandlungen lässt. Außerhalb der arabischen Welt hat sich dagegen bei der zivilisierten westlichen Menschheit ganz offensichtlich die israelische Lagebeurteilung durchgesetzt, dass die Palästinenser jegliche Unbotmäßigkeit zu unterlassen haben und dass Widerstand gegen die Unterdrückung eine Friedensstörung sei. Die durch die totale Überlegenheit der israelischen Streitkräfte entstandene Form des Widerstands als selbstmörderische Einzelaktion soll gleich jeden im besetzten Territorium noch vorhandenen Widerspruch gegen die (Vor-)Herrschaft Israels als Terrorismus denunzieren. Mit der Kennzeichnung als Terrorismus wird den Selbstmordattentaten der Palästinenser jegliche Berechtigung abgesprochen; denn für "Terror" gilt seit dem 11. September endgültig kein verständliches Motiv mehr; er ist bloße Gewalt, daher mit allen Mitteln niederzumachen. So wurde in der regierungsamtlichen Diktion aus dem Präsidenten der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) Yassir Arafat Usama Bin Arafat, mit dem man nicht mehr verhandelt, weil er für alle antiisraelischen Umtriebe verantwortlich sein soll.

Israel hat im US-"Krieg gegen den Terror" die Chance entdeckt, seinen immer noch nicht fertigen Eroberungskrieg in Palästina unter dem Titel des "Kampfes der Zivilisation gegen den internationalen Terror" zu Ende zu bringen. Da die USA jeden Widerstand gegen ihre Weltherrschaft als "Internationalen Terror" ausrotten wollen, erklärt Israel den arabischen Widerstand gegen seine zionistische Staatsgründung zum Bestandteil dieses "Internationalen Terrors" und seinen Krieg gegen die Palästinenser zu einem Beitrag zum Antiterror-Krieg Amerikas. Daher hat es – mit dem offiziellen Segen der USA und der übrigen Weltordnungsmächte – seit dem 11. September sein Besatzungsregime zu einem regelrechten Antiterror-Krieg gegen die Palästinenser eskaliert. Jedes Aufbegehren gegen die israelische Präsenz wird als Terrorakt definiert und geahndet. Die Liste dessen, was als "terroristische Gewalttat" definiert wird, reicht von antiisraelischer Hetze im palästinensischen Rundfunk über die Steinwürfe protestierender Halbwüchsiger, die Angriffe auf israelische Militärposten in autonomen Gebieten, den Beschuss von Siedlungen mit selbstgebastelten Granaten bis zu den Selbstmordattentaten auf israelischem Territorium. Auf Terror reagiert die Gewalt Israels ganz legitim mit der Demonstration totaler Überlegenheit. Laut Beschluss des "Sicherheitskabinetts" hat die Armee darauf zu achten, dass "kein Vergehen ungesühnt" bleibt und bei der Bestrafung das Prinzip "doppelter Härte" angewandt wird.

Bei ihrer "Terroristenjagd" beschränken sich die israelischen Sicherheitskräfte selbstverständlich nicht auf die ihnen nach den Autonomieverträgen offiziell zugänglichen Gebiete. Sie entführen mutmaßliche Täter aus den vollautonomen Zonen, der Geheimdienst erledigt die Führer militanter Gruppierungen per Autobombe diesseits und jenseits der "grünen Linie". Die Luftwaffe liquidiert "präventiv" mutmaßliche Attentäter vom Kampfhubschrauber aus. Mit dem "Schutz des jüdischen Volkes vor terroristischer Gewalt" rechtfertigt die Armee auch die planmäßige Zerstörung des Eigentums und der Reproduktionsbedingungen vieler Palästinenser.

Mit diesem Vorgehen schafft Israel zugleich lauter Gründe für den Zulauf zu den radikalen Gruppierungen, tut also alles dafür, dass seine Gleichung "Palästinenser sind Terroristen" wahr wird. Nach keinem Attentat darf zudem eine Regierungserklärung fehlen, in der die Palästinensische Autonomiebehörde und Arafat persönlich für den Terror verantwortlich gemacht werden. Dabei wird die PA (lies im Radio hier und weiter unten: Autonomiebehörde) gerade durch die Schläge Israels unterminiert und zunehmend entmachtet. Ihren eigenen Sicherheitskräften ist die Bewegungsfreiheit zwischen den verschiedenen Gebieten, für die sie zuständig sind, genommen. Durch die Bombardements fehlen die primitivsten Voraussetzungen wie Büros, Polizeistationen oder Haftzellen. Aber auch da, wo Gefängnisse noch existieren, kann die PA sie nicht nutzen; es sei denn, sie will die Gefangenen zur Zielscheibe des nächsten israelischen Angriffs machen. Zudem torpediert Israel mit seiner Intransigenz auch die Autorität der PA bei der eigenen Bevölkerung. Nachdem die US-Regierung offiziell die "Ablehnungsfront" auf ihre Liste der globalen Terroristen gesetzt hat, forderte Jerusalem von Arafat, dass er nach seinem Verbot der PFLP nun endlich auch Hamas und Dschihad verbieten und diese Gruppierungen entwaffnen müsse. Damit verlangt Israel von Arafat nichts weniger als einen Bürgerkrieg anzuzetteln.

Indem die israelische Repression ganz prinzipiell jeden Palästinenser und ganz gezielt die Führung und die Exekutivorgane der Autonomiebehörde als Terrorunterstützer oder gar als potentielle Attentäter behandelt, stellt sie demonstrativ klar, dass Araber weder in Israel noch in Palästina irgendeine Perspektive haben. Durch die Sperrung der Übergänge vom palästinensischen Territorium nach Jordanien und Ägypten werden die besetzten Gebiete für deren Einwohner endgültig zum Gefängnis. Durchaus erfreut registriert denn auch die freie Presse in Israel, dass die Zahl der Emigration aus dem Besatzungsgebiet sprunghaft zugenommen hat. Was die israelische Regierung im Idealfall erreichen will, sprechen inzwischen nicht bloß die Minister der religiösen Parteien offen aus: Die Palästinenser sollen aus dem Westjordanland und dem Gaza-Streifen vertrieben werden.

Die USA haben Israel dieses Vorgehen prinzipiell genehmigt. Erlaubt ist, den Aufruhr im Westjordanland und dem Gazastreifen militärisch zu bekämpfen und israelische Sicherheitsbedürfnisse umfassend zu befriedigen. Die Bush-Administration will jedoch nicht, dass Scharon eine rein militärische Lösung der Palästinenserfrage durchsetzt. Deshalb wollen die USA Arafats Palästinensische Autonomiebehörde weiterhin als legitime Repräsentanz des palästinensischen Volkes und als Partner bei zukünftigen Verträgen gelten lassen. Washington besteht noch darauf, dass die Lösung des Palästinenser-Problems doch nicht ganz identisch ist mit der Ausschaltung Bin Ladins "tot oder lebendig". Israel soll seine Kampagne als Vorstufe zu einem Verhandlungsprozess über den "Endstatus" begreifen.

Die USA haben wieder "Vermittler" ins Kampfgebiet geschickt, die den im "Mitchell-Report" und im "Tenet-Abkommen" vereinbarten Stufenplan zur Beendigung der Gewalt und der Wiederaufnahme von Verhandlungen durchsetzen sollen. Darin hatten sich Israel und die palästinensische Autonomiebehörde auf eine Waffenruhe von sieben Tagen festgelegt, der sechs Wochen "Abkühlungsphase" folgen. Erst dann muss Israel zu "vertrauensbildenden Maßnahmen" (wie z.B. dem totalen Stopp des Siedlungsbaus) schreiten, um anschließend die Verhandlungen über eine endgültige Regelung wieder aufzunehmen.

Jetzt zeigt sich die politische Konsequenz der amerikanischen "Vermittlung" in ihrer vollen Härte – für die palästinensische Seite: Erstens wird das Scharonsche Prinzip "Keine Verhandlungen unter Feuer" anerkannt. Solange die Palästinenser nicht von ihrer "Intifada" ablassen, also von dem einzigen Druckmittel, das sie haben, braucht sich Israel mit den damit vorgebrachten Rechtsansprüchen und Forderungen nicht zu befassen. Eine de facto bedingungslose Kapitulation der einen Seite steht vor jeder "politischen Verhandlung" mit ihr! Zweitens wird damit der palästinensische Widerstand durch die Trennung der aufständischen Gewalt von ihrem politischen Grund als eine einzige Verletzung der Sicherheit Israels und seiner Bürger definiert, ist also Terror. Drittens ist damit die Anwendung militärischer Gewalt durch die israelische Besatzungsmacht prinzipiell legitim. Armee und Polizei Israels beanspruchen folglich freie Hand, alles ihrer Meinung nach Nötige für den "Schutz der jüdischen Bürger", d.h. zur Bekämpfung des palästinensischen Terrors zu tun.

Darüber hinaus hat Bush Scharon ermächtigt, selber zu entscheiden, wann er die Stufe 1, die siebentägige Waffenruhe, als erfüllt ansieht. Für Israels Premier ist das ein Freibrief. Er unternimmt alles, die erste Phase gar nicht erst eintreten zu lassen. Während er Arafat beschuldigt, den Terror zu begünstigen, ja letztlich selbst dafür verantwortlich zu sein, kann Israel Fakten schaffen und sich – unter Verweis auf ständig wachsende "Sicherheits"-Bedürfnisse – die Gebiete und Rechte, die sich die palästinensische Seite im Laufe des Oslo-Prozesses erstritten hat, zurückholen.

Wie die lange angekündigte Rede Powells zur Politik im Nahen Osten belegt, sind die USA mit ihrem Hauptverbündeten nicht unzufrieden und dulden sein Vorgehen im Westjordanland und im Gazastreifen. Zwar fehlen nicht die üblichen mahnenden Worte bezüglich des Siedlungs-Stopps und die Klage über das schlimme Los der palästinensischen Bevölkerung, im Vordergrund steht aber die "dauerhafte und unverbrüchliche Verpflichtung" gegenüber der Sicherheit Israels.

So zählt Israel jetzt schon zu den Siegern im "Krieg gegen den Terrorismus".

Lesetipp:

GegenStandpunkt 4-01 ist ab 14.12. im Buchhandel und ab sofort beim GegenStandpunkt-Verlag erhältlich.

Hauptthema: "Terror gegen Amerika und der amerikanische Krieg gegen Terror". Inhalt: Ein Anschlag verändert die Welt – oder doch nicht? / Amerikas Feinde: Usama Bin Ladin und die Taliban / Die Nahost-Front (Die "Problemstaaten" des Nahen Ostens bemühen sich um Schadenbegrenzung / Israel nützt den Antiterror-Feldzug als Chance für seinen Krieg gegen die ‚Intifada‘) / Terrorabwehr nach innen: Bürgerfreiheit = Staatssicherheit / USA: "Fighting the War on Terrorism on the Domestic Front" / Die Grünen machen ihren Spagat / Der Feldzug der zivilisierten Welt gegen das Böse: Die Konstruktion der Kriegsmoral

 

Editoriale Anmerkungen:
Der Text wurde uns von  norbert@braumann.net am Datum: 11 Dec 2001 01:37:15 -0000 zur Veröffentlichung übersandt.