Jargon der Differenziertheit
Anmerkungen zu den Neuen Aufklärern Klaus Holz, Elfriede Müller und Enzo Traverso.
Vom Bündnis gegen Antisemitismus
und Antizionismus (B)
12/02
 
 
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Für das ideologische Verfahren, „eine bescheidene Anzahl signalhaft einschnappender Wörter“ aufzuladen „auf Kosten von Satz, Urteil und Gedachtem“, hat Theodor W. Adorno den Begriff des Jargons geprägt: „Was der Form nach zu überfliegen scheint, worauf es sich bezieht, setzt sich dadurch als Höheres. [...] Freilich kippt es, als nichtige Veranstaltung, immer wieder aus den Pantinen und stolpert in Quatsch.“

Quatsch ist anzutreffen, wenn „sprachliche[s] Brimborium“ die Gedankenentwicklung ad absurdum führt. Gefährlich wird Quatsch, wenn Ressentiment in die Sprache einsickert. Zur theoretischen Leichenschändung gerät Quatsch, wenn – unter Rekurs nicht zuletzt auf die Kritische Theorie – ‘Aufklärung’ und ‘Differenzierung’ zu Zentralworten eines Jargons mutieren, der vor Antizionismus nur so strotzt und Antisemitismus entweder verleugnet, rationalisiert oder – zumindest mit einer Figur – auch noch artikuliert.

So geschehen im JungleWorld-Dossier Schuld und Erinnerung (JW 48/02) von Klaus Holz, Elfriede Müller und Enzo Traverso (im folgenden: HMT). Ihr „Denken nach Auschwitz“ ist exemplarisch für den Zustand der deutschen Linken: Empörung darüber, dass es z.B. dem Bündnis gegen Antisemitismus und Antizionismus – angesichts einer der größten antisemitischen Demonstrationen in Deutschland nach 1945 – mit „dem Slogan ‘Solidarität mit Israel’ [...] nicht um die Unterdrückungsmaßnahmen des israelischen Staates ging und eine Solidarität mit den PalästinenserInnen ausgeschlossen wurde“. Im Jargon formuliert: „Solche undifferenzierten binären Positionierungen werfen all das über Bord, was aufgeklärtes Denken ausmacht.“

‘Aufklärung’, ‘Differenzierung’, ‘Komplexität’, ‘einfach’, ‘binär’, ‘Projektion’, ‘Identität’, ‘Instrumentalisierung’ und ihre jeweiligen Derivate sind die Signalworte der Neuen Aufklärer. Familienähnlichkeit besteht zum Antinationalismus der Äquidistanzierten. Nicht nur dass solche Worte, die einmal Begriffe waren, inflationär verwendet werden. Auch der Popanz wird aufgebaut, die israelsolidarischen Antideutschen „benutzen“ genauso wie die deutsche Mehrheitsgesellschaft „den Nahostkonflikt nur als Projektionsfläche. Sie setzen der antisemitischen Täter-Opfer-Umkehr eine Verabsolutierung des Täter-Opfer-Modells entgegen.“ Wo jedoch – ihrer Bezeichnung gemäß – die Äquidistanzierten noch Distanz wahren, gehen HMT einen Schritt weiter, d.h. zum offenen Angriff auf den jüdischen Staat über.

‘Projektion’ und ‘Identifikation’

Wenn es in einer langen Liste bizarrer Beschuldigungen heißt, die Antideutschen instrumentalisierten Auschwitz als „simplifizierende Welterklärungsformel“, verharmlosten in Reduktion darauf alle anderen Verbrechen und befriedigten ihr „Bedürfnis nach umfassender Orientierung, Einfachheit und Identität“, um mittels einer Positivbewertung alles Jüdischen Klarheit darüber zu suggerieren, „wer die Guten und wer die Bösen sind und folglich, mit wem man sich als Linke zu identifizieren hat“, dann besitzt das fast schon Unterhaltungswert.

Bedenkenswert ist an diesen Sottisen, was mit den Worten passiert. Nach einigen Anläufen findet der Jargon seine Einsatzstelle, an der er sich austoben kann: ‘Identifikation’ = ‘Projektion’. Was für eine Sprache: „‘die Juden’ als eine homogene Gruppe, auf die man die eigenen Sehnsüchte nach Identität und Orientierung projiziert“; die PalästinenserInnen als „Sündenbock einer linksdeutschen Trauerarbeit, die nicht auf Reflexion, sondern auf Identifikation abzielt“; die Jüdinnen und Juden „als Objekte von Liebe und Mitgefühl“: „eine Projektion, ein selbst geschaffener Fetisch“. Es handelt sich um Jargon-Operation in Reinkultur: Bedeutungsschichten aus verschiedensten Kontexten werden in einer spezifischen Wortverwendung aufgesaugt, mit dem Ergebnis eines diffus-pseudoevidenten Sinns. Davon zehrt dann die absurde Ausgangskonstruktion, Möllemann und die antideutsche Israelsolidarität würden sich in ein und derselben Logik bewegen, nämlich derjenigen der ‘PROJEKTION’.

Unkritische TheoretikerInnen wie HMT gerieren sich in einer Weise als antiidentitär, dass jede Identitätskritik unmöglich wird. Im Anschluss an Adorno wäre kritisches Denken jedoch als Prozess aufzufassen, der sich unabgeschlossen-ungedeckt aus Identifikationen herauswindet. Gerade diese Einsicht sollte vor der Beurteilung politischer Kontexte nicht halt machen: setzt man die dort notwendig und permanent stattfindenden Identifikationen in eins mit Projektion, dann werden alle Katzen grau wie der Jargon.

Das heißt nicht, dass Identifikationen irgendetwas progressives abzugewinnen ist: Sie besitzen einen zutiefst narzisstischen Charakter, insofern man im Anderen nur das sieht, was man in ihn hineingelegt hat und ihm damit keinesfalls gerecht wird. Ob jedoch positive Selbstbilder abgespult werden (Identifikation) oder ob sich verleugnete Selbstanteile (im Akt der Projektion) zu sozialer Paranoia verdichten, das markiert den Umschlagspunkt zu Antisemitismus und tangiert deshalb eine jede Antisemitismus-Theorie, die sich nicht von ihrem Gegenstand verabschiedet.

Zu erwarten war, dass das Jargon-Geraune von ‘Projektion’ = ‘Identifikation’ auch noch den Vorwurf des „Philozionismus“ absondert. Das klingt brisant in Anbetracht der philosemitischen Israel-Bewunderung, die in Deutschland in den 1960er Jahren eingesetzt hat. Angenommen jedoch, die antideutsche Israel-Solidarität beruhte tatsächlich primär auf Identifikationen, ist es immer noch Quatsch, daraus wie HMT zu schließen, dass gängige JüdInnen-Bilder einfach umcodiert würden. Vom Philosemitismus haben die Neuen Aufklärer herzlich wenig verstanden. Er ist ein Grenzgänger zwischen Projektion und Identifikation und speist sich aus beiden. Wer Philosemitismus einfach mit Identifikation gleichsetzt, wird auf immer vor das Rätsel gestellt bleiben, warum sich das abwehraggressive Potential des sekundären Antisemitismus gerade im Philosemitismus reproduziert.

‘Scharon-Linke’

Fast so kreativ wie ein Attac-Statement ist die Wortbildung „Scharon-Linke“ und die ihr zugrundeliegende Konstruktion, „bereits der Slogan ‘Solidarität mit Israel’“ „implizierte“ „eine Identifikation mit der Politik Scharons“.

Diese Beobachtung mag zutreffend sein auf der Grundlage sprachmystischen „Denkens nach Auschwitz“, nicht jedoch auf der von kritischer Gesellschaftstheorie. Das Bündnis gegen Antisemitismus und Antizionismus unterscheidet die Notwendigkeit eines jüdischen Staates als Refugium vor Antisemitismus, die institutionelle Verfasstheit der israelischen Gesellschaft und konkrete israelische Regierungspolitiken. Dass Israel im Unterschied zu den von HMT verklärten arabischen Gesellschaften über bürgerliche Rechtsstandards und eine sehr kontroverse politische Öffentlichkeit verfügt, macht diese Gesellschaft sympathisch, berührt das Solidaritätsverständnis aber nicht im Kern. Hierbei geht es um negative Solidarität gegen alle antisemitischen Angriffe auf den jüdischen Staat und seine BürgerInnen. Insofern Ariel Scharon quasi als Charaktermaske dessen Verteidigungsnotwendigkeit exekutiert, gilt die Solidarität auch seiner Regierung. Etwas anderes ist das Problem der Angemessenheit der Mittel bzw. die Frage, ob eine jede konkrete israelische Regierungsmaßnahme die Verteidigungsnotwendigkeit oder z.B. siedlungsmilitante Tendenzen innerhalb der israelischen Gesellschaft zum Ausdruck bringt. Wäre ‘Kritik an Israel’ nicht der Topos, der den momentanen Antisemitismus in Deutschland organisiert, könnte anhand jener Fragen im besten Sinn Kritik geübt werden. – Kritik an bestimmten israelischen Regierungspolitiken wäre dann politisches Medium einer grundsätzlichen, d.h. auf begründeten Prinzipien beruhenden Solidarität mit Israel. Für diejenigen, die es immer noch nicht kapiert haben: niemand aus dem antideutschen Spektrum verspürt Affinität zu religiös-fundamentalistischen Vereinigungen, sei es in Israel, Deutschland oder den USA.

Wer für den jüdischen Staat Partei ergreift, dem – behauptet der Jargon – muss Auschwitz zur „Sichtblende“ werden. Dagegen sprechen HMT zu Beginn ihres Textes von der „Schwierigkeit“, den „Nahostkonflikt weder unabhängig von der Shoah noch allein aufgrund der Shoah“ zu beurteilen. Wenn auch banal, ist das eine sachhaltige und deshalb richtige Aussage. Verglichen damit ist der restliche Text ein performativer Widerspruch sans phrase: HMT kennen als Ursache für das reale Leiden der PalästinenserInnen nur die israelische „Besatzungspolitik“, „Militärdiktatur“ bzw. den israelischen „Staatsterrorismus“. Eine solche Betrachtungsweise heißt aber nicht „einfach“ oder „binär“, sondern monistisch.

HMT können daher nicht begreifen, dass der sog. „Nahostkonflikt“ mit einem gewalttätigen Kampf um Land seinen Anfang nahm, der in nuce den Konstitutionsprozess kapitalistischer Nationalstaaten wiederholte. Hinzu kamen die spezifisch koloniale Konstellation der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sowie der Widerspruch zwischen aufgeklärt-westlichem zionistischen Projekt und arabischer Latifundiengesellschaft. Zugleich war der Konflikt von Beginn an (z.B. Muslimbruderschaft) überdeterminiert von Antisemitismus, der in den letzten 50 Jahren durch einen schubhaften und widersprüchlichen Formierungsprozess zur dominanten Konfliktlogik geworden ist. Dass der Jargon anfängt, bei diesem Gedanken um sich zu schlagen, liegt an einer stupiden und verharmlosenden Auffassung von Antisemitismus.

Arabischer Antisemitismus

Die Neuen Aufklärer setzen einmal den palästinensischen Antisemitismus in Anführungsstriche, ein andermal brabbeln sie von antisemitischen „Töne[n] diverser palästinensischer Strömungen“. Begrifflich äußerst stringent heißt es außerdem, der „Antisemitismus, den die nach Europa emigrierten Muslime formulieren“, verleihe „einem neuen Typus der Judenfeindschaft Ausdruck“.

‘Außerordentlich spannend und interessant’ sagt sich der Jargon, da muss ‘eine differenzierte Debatte geführt werden’. Mit dem Resultat, dass – indem Antisemiten zu „antisemitischen KritikerInnen Israels“ aufsteigen – Antisemitismus Kritikfähigkeit zugesprochen und Synagogenschändung als ‘entfremdeter Protest gegen die Entfremdung’ rationalisiert wird: „Ein Brandanschlag auf eine Synagoge ist ein antisemitischer Akt, der zu verurteilen und zu sanktionieren ist. Aber es ist nützlich zu wissen, ob es Skins waren, Nostalgiker eines Vichy-Frankreich, islamische FundamentalistInnen oder Jugendliche maghrebinischer Herkunft, die dadurch ihre Unterstützung der palästinensischen Intifada ausdrücken wollen.“ Das an ‘Komplexität’ wirklich unüberbietbare Schema lautet: Ein Araber kann kein richtiger Antisemit sein, weil er kein Europäer ist.

Hilflos wird losgetreten: der Hinweis auf den eliminatorischen Charakter jedes und damit auch des arabischen Antisemitismus sei eine „Vernichtungsphantasie der deutschen FreundInnen Israels“, in der „eine Schuldabwehr und eine Relativierung der Shoah“ liege. Und in plumpester Manier versuchen HMT, Antirassismus und Anti-Antisemitismus gegeneinander auszuspielen, indem dem Bündnis gegen Antisemitismus und Antizionismus nachgesagt wird, es konstruierte „die Palästinenser, die Araber und die Muslime [...] samt und sonders zu Antisemiten“.

Die ‘Antisemitismusforscher’ Klaus Holz, Elfriede Müller und Enzo Traverso haben nichts, aber auch gar nichts vom modernen Antisemitismus verstanden. Nicht Auschwitz ist bei ihnen die singuläre deutsche Tat, sondern der „eliminatorische Antisemitismus“. Schon ein wenig Reflexion hätte jedoch zur Erkenntnis geführt, dass sich – im Unterschied zum christlichen Antijudaismus – der moderne Antisemitismus gerade durch das politische Ziel auszeichnet, die von ihm konstruierte ‘allmächtige jüdische Gegenrasse’ zu vernichten. Jean-Paul Sartre hat das in die prägnante Bemerkung gegossen: Was der Antisemit „wünscht, was er vorbereitet, ist der Tod des Juden.“ Deshalb sehen Antideutsche und der qualifizierte Teil der Antisemitismusforschung die deutsche Singularität nicht im „eliminatorische[n] Antisemitismus“, sondern darin, dass dieser in Deutschland die gesamte Gesellschaft erfasst hat und im NS als determinierende Handlungslogik in der Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden kulminiert ist.

Es ist also im Grunde tautologisch, vom eliminatorischen Charakter des Antisemitismus in arabischen Gesellschaften zu sprechen. Die These, arabischer Antisemitismus sei ein europäisches Exportgut, stellt sich dabei als genauso unsinnig heraus wie diejenige vom antisemitischen ‘Wesen’ des Islam. Der Antisemitismus ist als Wahnwelt, in der die Menschen ihr Verhältnis zu ihren Existenzbedingungen leben, aus der Krisenhaftigkeit arabischer Gesellschaften zu erklären. Dann wird verständlich, warum z.B. die Protokolle der Weisen von Zion oder Hitlers Mein Kampf zu Bestsellern werden konnten und warum bestimmte judenfeindliche Koran-Suren in der heutigen islamistischen Exegesepraxis antisemitische Übersetzung erfahren. Spezifisch formiert ist die Krisenhaftigkeit arabischer Gesellschaften durch Panarabismus und Islamismus. Aufeinander unreduzierbar verschränken sich beide in der Anordnung, die den Zionismus als Projekt zur Zerstörung des Islam bzw. des ‘Arabertums’ halluziniert.

Antizionismus ist in dieser Hinsicht nichts als die geopolitische Verlängerung des Antisemitismus. Statt der jüdischen Weltverschwörung ist es eine weltweite zionistische Lobby, die hinter den Kulissen die Fäden zieht. Zu den Topoi, in denen der jüdische Staat zum ‘Juden’ unter den Staaten wird, in denen Gewaltförmigkeit und Rassismus kapitalistischer Nationalstaaten als besondere Eigenschaft des jüdischen Staates projiziert werden, gehört bevorzugt der Apartheidsvorwurf. Wenn die Neuen Aufklärer diesen wiederholen, zeigen sie, woher sie kommen, und wo sie stehen. Ihn – wie HMT – auf Westjordanland und Gaza zu beziehen, ist schon allein deshalb schwachsinnig, weil in einer jeden Kriegssituation die Bevölkerung unter formalen und de-facto Diskriminierungen zu leiden hat. Etwas intelligentere AntizionistInnen wenden den Apartheidsvorwurf deshalb gegen den jüdischen Charakter des israelischen Staates – als ob israelische AraberInnen keine vollen StaatsbürgerInnenrechte besäßen, als ob ihre politische Repräsentanz im Untergrund und nicht in der Knesset angesiedelt wäre, als ob sexuelle Beziehungen mit Juden und Jüdinnen verfolgt würden, als ob sie in Slums wie Soweto leben müssten. HMT verhöhnen auf diese Weise auch die Menschen, die im schwarzen Widerstand in Südafrika gestorben sind. Und zum Apartheids-Wahn gesellt sich noch das Vernichtungsphantasma: Mit vielen Lippenbekenntnissen grenzen sich die Neuen Aufklärer davon ab, um am Ende ihres Textes umso inbrünstiger zu insinuieren, eine über Jahrzehnte fortgesetzte israelische Besatzung bedrohe die „Existenz der palästinensischen Bevölkerung“.

Opfer-Differenzierung

Das Ressentiment kennt keine Grenzen, nur ist seine Sprache der Jargon: HMT werfen den Antideutschen vor, sie würden die Juden als eine „homogene Gruppe“ betrachten, als „idealtypische Verkörperung der Opfer“, als „Wesenheit“.

Solchermaßen übertölpelt sich der Jargon der Differenziertheit. Er ist undifferenziert, weil er nicht den Ort der Differenzierung zu differenzieren weiß: Der Antisemitismus differenziert nicht. Ob jüdische Menschen sympathisch sind oder nicht, ob sie RassistInnen und SexistInnen sind oder für die richtige Alternative, den Kommunismus, eintreten: im Antisemitismus geht es um ihre differenzlose Tötung als ‚Juden’ und sei es ‘nur’ in Form der vielen kleinen symbolischen Morde, die Jean-Paul Sartre beschrieben hat, und die man täglich im deutschen Feuilleton nachlesen kann, bzw. als großangelegte Mordphantasie im Tod eines Kritikers von Martin Walser. Nicht als Beleg für die Argumentation, sondern weil HMT auch ihn für ihr Pamphlet missbrauchen, sei hier Jean Améry angeführt: „Israels Bestand ist unerläßlich für alle Juden [...], wo immer sie wohnen mögen. Denn jeder Jude ist der ‘Katastrophen-Jude’, einem katastrophalen Schicksal ausgeliefert, ob er es erfaßt oder nicht.“

In diesem Zusammenhang erweist sich auch der Vorwurf, die Antideutschen würden das „Täter-Opfer-Modell“ verabsolutieren, als Pleonasmus, d.h. HMT-Quatsch. Das Täter-Opfer-Schema impliziert immer Absolutheit, im Sinn von absoluter Differenz zwischen Täter und Opfer. Deshalb ist es auch so ungeeignet für gesellschaftstheoretische Reflexion auf Herrschaft: Man kann damit weder systemische Zwänge wie Kapital als sich verwertender Wert resp. staatliches Gewaltmonopol denken noch Subjektivierung bzw. Ideologie als freiwillige Unterwerfung. Die Termini von ‘Täter’ und ‘Opfer’ sind nur dann als politische Beschreibung angemessen, wenn in Konstellationen nackter Gewalt auf Täterseite systemische Zwänge und auf Opferseite Zustimmung zur Herrschaft völlig irrelevant werden. Weil es im Antisemitismus nicht um Herrschaft, sondern um herrschaftsförmige Vernichtung geht, wird man dort immer Täter und Opfer ‘absolut’ setzen müssen. Nicht zuletzt deshalb gilt es, bei Verwendung dieses Schemas Verhältnisse zwischen einzelnen Personen konsequent von denen zwischen ganzen Personengruppen zu unterscheiden. Bei Kriegsverbrechen, die auch im sog. ‘Nahostkonflikt’ stattfinden, können zwar einzelne Personen als ‘Täter’ und ‘Opfer’ beschrieben werden. Dass der jüdische Staat Herrschaft ausübt, macht seine RepräsentantInnen aber noch lange nicht zu ‘Tätern’ und die PalästinenserInnen beileibe nicht zu ‘Opfern’. Denn der jüdische Staat folgt einem systemischen Zwang zur Selbsterhaltung, der auf eine in Ablehnung von Fremd-Herrschaft gewendete Zustimmung zur Herrschaft trifft.

Das Bündnis gegen Antisemitismus und Antizionismus spricht allein in Bezug auf Antisemitismus von den Jüdinnen und Juden. Auffällig ist dagegen die Redeweise des Jargons: Es passe nicht ins Bild der Antideutschen, dass „es gegenwärtig Opfer des Antisemitismus gibt und von Juden zu verantwortendes Leid“. Hier wird völlig unspezifisch von „Juden“ geredet und gerade nicht von der israelischen Regierung. Als fragwürdig erscheint zudem, dass HMT die antideutschen „Fremdbilder“ „den Selbstbildern von Juden“ gegenüberstellen. Sicherlich gibt es jüdische Selbstbilder, die zufälligerweise mit den Bildern übereinstimmen, die HMT von jüdischen Menschen haben. Das sind dann aber keineswegs die jüdischen Selbstbilder, sondern spezifische in spezifischen Kontexten. Kommt da ein Vorschwein zum Vorschein?

‘Instrumentalisierung’

Martin Walser und Norman G. Finkelstein heißen die Ghost-Writer, die im Jargon bei seiner dreimaligen Rede von ‘Instrumentalisierung’ der Shoah-Erinnerung wiederkehren. So wird zunächst den Antideutschen „eine gut gemeinte, aber fatale Instrumentalisierung der Shoah“ vorgehalten. Der Provinzschriftsteller fabulierte in seiner Paulskirchenrede von „immer guten Zwecken, ehrenwerten. Aber doch Instrumentalisierung“. Dann wird Segev paraphrasiert, dass der Zionismus die Erinnerung „instrumentalisierte [...], um seine nationalistische Politik zu legitimieren.“ Und schließlich führen HMT Shimon Peres an, der die antisemitische Anschlagswelle in Frankreich mit der Pogromnacht verglichen hat, als „Beispiel“ für „viele Instrumentalisierungen“ im Namen der Erinnerungsarbeit: „Die Erinnerung wird in diesem Fall demagogisch in den Dienst gegenwärtiger Interessen gestellt.“ Bodensee: „Instrumentalisierung unserer Schande zu gegenwärtigen Zwecken.“

Ausgerechnet sobald der Jargon von ‘Instrumentalisierung’ schwadroniert, werden den Antideutschen positive Absichten unterstellt, während die zionistischen PolitikerInnen den fiesen Plan schon umgesetzt haben. Dem unschuldigen José Samarago jedoch unterläuft, indem er im Westjordanland Vernichtungslager phantasiert, nur „ein absurder Vergleich“. Da Enzo Traverso zum französischen VerlegerInnen-Kollektiv von Finkelstein gehört, ist es selbstverständlich frei assoziiert, dass ‘Instrumentalisierung’ die Wortbedeutung von kalkülhaftem Werkzeuggebrauch hat, und dass die gruppenspezifische Wortverwendung in einem Zusammenhang mit der ‘Holocaust-Industry’ steht.

Seinen vollen Aussagegehalt erfährt dieses Arrangement durch seine Kontrastierung: „Wenn Samaragos Worte Kritik verdienen, so verdient die Banalisierung der Geschehnisse in den besetzten Gebieten im Namen der Erinnerung an Auschwitz unsere Entrüstung.“ Und im Unterschied zu Benjamin Netanjahu, der mit Arafat = Hitler „seine Politik legitimiert, verleiht Samarago nur seinem Entsetzen über die israelische Besatzungspolitik mit einem falschen historischen Bild Ausdruck.“

Wenn ZionistInnen als kalt-berechnende Charaktere erscheinen, während FreundInnen Palästinas mit ihren wahren Gefühlen nur ein wenig übers Ziel hinausschießen, dann ist das akzeptierend-antisemitische Sozialarbeit. HMT sind sich nicht zu schade, die Gegensätze von abstrakt vs. konkret, Rationalität vs. Emotion aufzurufen, um sie spezifischen Persongruppen in antisemitischer Manier anzuheften. Alle anderen, gegen HMT zu richtenden Argumente sind im Prinzip nebensächlich. Nur der Aufklärung halber seien sie fortgeführt.

Der Neuen Aufklärer alte Kleider

Für die Neuen Aufklärer sind palästinensische Suizidanschläge „Akte der Verzweiflung“, „barbarisch“ zwar, aber – man ist ja ‘differenziert’ – auch „Teil der militärischen Strategie unter anderem der Hamas, die die Verzweiflung instrumentalisiert.“ Was für eine Aufklärungsleistung, ausgerechnet durch Verweis auf die durch und durch antisemitische Hamas den antisemitischen Gehalt der Attentate leugnen zu wollen.

Niemand wird bestreiten können, dass die Suizidanschläge das politische Ziel verfolgen, eine möglichst große Anzahl von Jüdinnen und Juden zu töten – ohne jeden Unterschied: Caféhaus-BesucherInnen in Jerusalem, Pessach-Feiernde in Netanja oder friedensbewegte Kibbuz-BewohnerInnen. HMT sind jedoch schon einen Schritt weiter und behaupten, „dass die palästinensische Gewalt ein Resultat des israelischen Staatsterrorismus darstellt.“ An anderer Stelle heißt es: „Das Bild, das man in Gaza von Juden hat“ – erinnert sei an palästinensische Schulbücher und deren Bilder – „gründet [...] auf der Realität einer Besatzungsarmee.“ Auf diese Weise wird von Verleugnung zu Rationalisierung übergegangen: für den Antisemitismus werden auch noch spezifisch lokalisierte Ursachen und Gründe (Jargon: Ursache = Grund) bereitgestellt. Sicherlich resultiert „das Bild, das man in Gaza“ von Israel – wohlgemerkt: nicht „von Juden“ – hat, auch aus „der Realität einer Besatzungsarmee“. Den antisemitischen Überschuss dieses Israel-Bildes denkunmöglich zu machen, darauf jedoch zielt der Jargon der Differenziertheit. Würden HMT nicht in ihrer sehr speziellen Logik den palästinensischen Antisemitismus verleugnen, wäre ihre Pseudoargumentation ununterscheidbar von der eines Jürgen W. Möllemann, insofern in expliziter Rede bestimmte jüdische Menschen wie z.B. Ariel Scharon in einen Kausalzusammenhang mit Antisemitismus gesetzt werden.

Darüber hinaus offenbart der Jargon mal wieder, dass die Analogie der dumme Kerl der ‘Theorie’ ist: „Es ist auch falsch, alle PalästinenserInnen mit diesen Anschlägen zu identifizieren, genauso wie es falsch ist, alle Israelis mit ihrer Regierung gleichzusetzen.“ Abgesehen von der unterstellten Äquivalenz zwischen Antisemitismus und israelischer Staatsgewalt: Wer hat jemals „alle“ PalästinenserInnen mit antisemitischen Suizidattentaten ‘identifiziert’? – Aus den Kräfteverhältnissen innerhalb der palästinensischen Gesellschaft muss jedoch auf eine antisemitische Hegemonie geschlossen werden. Es ist daher auch nicht an Rettung der sog. ‘Intifada’ durch „kritische Solidarität“ zu denken, es gibt keinen guten Kern, dessen Hülle die falsche ihm äußerliche wäre. Vielmehr ist die ‘Hülle’ die Form der Sache selbst.

Es ist völliger Quatsch, wenn die Neuen Aufklärer in ihrem Schlussstatement behaupten, „es liege heute primär am israelischen Staat, die Gewalt im nahen Osten zu beenden.“ Israels Krieg ist ein doppelter, zugleich Besatzungskrieg und Verteidigungskrieg gegen Antisemitismus. Weil dieser die dominante Konfliktlogik ausmacht, muss auch die Besatzungsfrage am Maßstab der Verteidigungsnotwendigkeit des jüdischen Staates beurteilt werden. Israels Situation stellt sich dann aporetisch dar: zieht es sich einseitig aus Gaza und Westjordanland zurück, könnte das die internationale Akzeptanz seines Kampfes gegen Antisemitismus erhöhen, aber zugleich – und das ist wahrscheinlicher – würde ein entschiedenes Vorgehen gegen Antisemitismus noch weiter erschwert, da Israel in einen souveränen Staat eindringen müsste. Zudem würde ein einseitiger Rückzug die Kräfte stärken, die den jüdischen Staat am liebsten von der Landkarte streichen wollen. Erinnert sei nur an den israelischen Abzug aus Südlibanon, der zeigt, dass das Aufgeben des Prinzips ‘Land gegen Frieden’ in der palästinensischen Nationalbewegung als Sieg über Israel gefeiert wird.

Wenn Gestalten wie HMT feststellen, dass „eine existenzielle Bedrohung des Staates Israel [...] im Moment gar nicht zur Debatte“ stehe, dann ist das ein Scheinargument. Muss Israels Existenz immer erst in einem Ausmaß wie 1967 und 1973 bedroht sein, damit sich Solidarität regen darf? Fest steht, die Situation für Israel ist derzeit prekär: Mit vielen Nachbarstaaten gibt es immer noch keinen Friedensschluss, eine weltweite eiserne Front der Israel-HasserInnen, von der UNO über die no globals bis zu den IslamistInnen, steht Resolution und Gewehr bei Fuß, und schließlich droht ein möglicher Krieg gegen den Irak, Israel zur Raketen-Zielscheibe des Panarabismus werden zu lassen.

Es gehört in Deutschland zum Standardrepertoire antizionistischer Angriffe, sich irgendwelche KronzeugInnen aus Israel zu beschaffen. Diese werden als authentische, weil linke jüdische Stimmen vorgeführt, um das eigene Ressentiment abzusegnen. Bei HMT ist es ein Michael Warschawski, Vertreter der „israelischen radikalen Linken“, der ihre grobe Verharmlosung der Suizidattentate diskutabel machen soll. Und natürlich darf auch der Vorwurf nicht fehlen, die Antideutschen setzten sich „völlig über Kritiken und Einschätzungen israelischer Linker und Gruppen wie Bat Shalom oder Gush Shalom hinweg.“ Das stimmt zum Teil – und es ist auch gut so: dem Uri Avnery hinterherzuhecheln, Gründer von Gush Shalom und Interview-Partner der Jungen Freiheit, der Arafat für den Anführer der palästinensischen Friedensbewegung hält und Lynchjustiz an vermeintlichen ‘palästinensischen KollaborateurInnen’ begrüßt, ist Aufgabe des Jargons. Dagegen muss innerhalb der israelischen Friedensbewegung zwischen linkszionistischen- und antizionistischen Friedensgruppen unterschieden werden. Erstere sind weitgehend kollabiert, nachdem Arafat das weitreichende Camp-David-Friedensangebot von Barak mit der Initiierung der zweiten ‘Intifada’ beantwortete. Wenn Antizionismus in Israel bedeutet, antinationale Politik zu betreiben, dann ist das zwar nicht unsympathisch, aufgrund des Antisemitismus aber perspektivlos. Gruppen wie Gush Schalom, der im Jahr 2000 eine Karikatur auf seiner Homepage hatte, die Barak das Blut palästinensischer Kinder trinkend zeigt, sind völlig indiskutabel. Wenn nun der Jargon ankommt und mit moralischem Zeigefinger ‘Belehrung’ und ‘Anmaßung’ anprangert, dann kann argumentative antideutsche Wahrheitspolitik das getrost ignorieren.

Tatsachenwahrheiten

Was wäre der Jargon ohne seine Fakten. Neue Aufklärer meets Neue Philosophen meets Neue israelische Historiker. Die Vorgabe lautet, Geschichtsmythen durch Tatsachen zu destruieren, um über den Tatsachen einen neuen Mythos zu konstruieren. Bei HMT liest sich das so: Am Anfang war die Erzählung, und zwar eine doppelte. Auf der einen Seite die „shoahzentrierte“ zionistische Repräsentation, auf der anderen Seite die Geschichte der Naqba, der palästinensischen „Katastrophe“. Dann kamen die postzionistischen HistorikerInnen und haben für das Leiden der PalästinenserInnen einen Platz im kollektiven israelischen Gedächtnis geschaffen.

Sicherlich waren die Gründungsmythen des jüdischen Staates problematisch, nicht nur in Bezug auf die PalästinenserInnen, sondern auch weil Erinnerung an die Shoah bis in die 60er Jahre hinein auf jüdische PartisanInnen und GhettokämpferInnen fokussiert blieb. HMT übergehen großzügig die internen Widersprüche der Shoah-Erinnerung, um dann zu konstatieren, dass das israelische Selbstverständnis „keine objektive Analyse der Tatsachen ersetzen“ könne. So weit so gut, nur fällt im Jargon die „objektive Analyse der Tatsachen“ mit der palästinensischen Erzählung zusammen: „ein Staat, dessen Gründung direkt zum Krieg und zur Vertreibung führte“. Kein UN-Teilungsplan, dem einzig der Yishuv zugestimmt hat, kein anschließender Bürgerkrieg, in dem beide Seiten gemordet haben, kein Angriff der arabischen Nachbarn auf den frisch konstituierten jüdischen Staat, nur ein Faktor – nämlich Vertreibung – für die Flucht der PalästinenserInnen, keine Vertreibung von Jüdinnen und Juden aus dem Westjordanland und aus allen arabischen Nachbarstaaten. Das ist ein bisschen arg ‘komplex’, vor allem wenn man weiß, dass es die Neuen Historiker – wie z.B. Ilan Pappé und Teddy Katz – mit den Massakern nicht ganz so genau nehmen.

Insofern HMT betonen, dass sie die „historische Legitimität [des Zionismus] als nationale jüdische Bewegung [...] nicht bestreiten“, und im nächsten Satz äußern, dass „es sich mit seiner staatlichen Praxis“ „anders verhält“, darf man hellhörig werden. Was heißt das „anders“, wenn nicht die Existenzberechtigung des jüdischen Staates in Frage zu stellen? „Gegenseitiges Verständnis“ der Neuen Historiker und der völlig marginalisierten palästinensischen KritikerInnen der Auschwitz-Leugnung lässt die Neuen Aufklärer sogar noch Karl Popper unterbieten: „entscheidende Tatsachen, auch wenn ihre Auswirkungen im Moment noch nicht deutlich werden.“

Es bleibt nur eine Schlussfolgerung: Der Jargon der Differenziertheit ist der Feind jeder Aufklärung. Erst wenn er überwunden ist, kann irgendwann einmal Aufklärung über sich selbst aufgeklärt werden. Das Bündnis gegen Antisemitismus und Antizionismus versucht seinen Beitrag dazu zu leisten.

in memoriam Theodor W. Adorno:
„Das Ideal des Differenzierten und Nuancierten, das Erkenntnis trotz aller Science is measurement bis zu den jüngsten Entwicklungen nie ganz vergaß, bezieht sich nicht allein auf eine individuelle, für Objektivität entbehrliche Fähigkeit. Seinen Impuls empfängt es von der Sache. Differenziert ist, wer an dieser und in ihrem Begriff noch das Kleinste und dem Begriff Entschlüpfende zu unterscheiden vermag; einzig Differenziertheit reicht ans Kleinste heran.“

Editorische Anmerkungen

Der Artikel wurde von
uns am 23.12.2002 vom Bündnis gegen Antisemitismus
und Antizionismus (B) zur Veröffentlichung geschickt. Die Erstveröffentlichung erfolgte auf deren website: www.bgaa.net