Drei Tage Europäisches Sozialforum (ESF)  
Ein Schritt zur Konvergenz der Kämpfe? 
Über Debatten, Kontroversen, Erfolg und Misserfolg.   

Ein Bericht von Bernhard Schmid, gefolgt von einer Übersetzung der Abschluss-Erklärung

12/03    trend onlinezeitung

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Guido Calderone lächelt verschmitzt: "Die Herren waren noch am Frühstücken, als wir herein platzten. So früh am Morgen hatten sie wohl nicht mit einer <Invasion der Barbaren> gerechnet." Der Journalist der italienischen linken Zeitung "Liberazione" schildert, wie am vergangenen Freitag FranzösInnen und ItalienerInnen  gemeinsam das Pariser Arbeitsministerium besetzten. Die Demonstranten blieben eine knappe Stunde.

Die französischen Teilnehmer waren überwiegend "intermittents du spectacle", prekäre Kulturschaffende. Deren soziale Rechte werden durch ein Abkommen massiv beschnitten, das am 13. November (nach einer kurzen Neuverhandlung, die durch die Hauptbetroffenen als Farce bezeichnet wird) erneut durch die so genannten "Sozialpartner" unterzeichnet wurde. Zu ihnen gesellte sich eine größere Anzahl von ItalienerInnen, die Sympathie für ihren Kampf ausdrückten und die sich aus Anlass des Europäischen Sozialforums (ESF) in Paris befanden. Zumindest kurzfristig und symbolisch hat sie stattgefunden, die Konvergenz der Kämpfe, von denen in diesen Tagen viel die Rede ist.

Auch am Samstagnachmittag des 15. November ist es die gemeinsame Koordination von streikenden Kulturschaffenden und andere prekären Beschäftigten (coordination des intermittents et des précaires), die die internationale Demonstration zum Abschluss des Europäischen Sozialforums eröffnet. Erst danach kommt der Prominentenblock. Man erkennt den deutschen Verdi-Vorsitzenden Frank Bsirske ebenso wie die Sprecherin der französischen linken Basisgewerkschaften SUD-Solidaires, Annick Coupé (wobei beide für ziemlich unterschiedliche Inhalte und Strategien stehen). Auch Pierre Khalfa, der die SUD-Gewerkschaften im Wissenschaftlichen Beirat von Attac-Frankreich vertritt, ist dabei.

Anschließend folgt ein buntes Durcheinander von rund 100.000 TeilnehmerInnen, man hört ebenso viel spanisch, italienisch und englisch sprechen wie französisch. Deshalb darf auch das "Babel-Team" ganz vorne laufen: So nennen sich die mehreren hundert ehrenamtlichen ÜbersetzerInnen, die seit drei Tagen - unentgeltlich - eine beeindruckende Arbeit geleistet haben.

Das Europäische Sozialforum in Zahlen und Eindrücken

Denn mehrere zehntausend Personen hatten an hunderten von Diskussionsforen teilgenommen, freundlich oder leidenschaftlich diskutiert, Argumente ausgetauscht und mitunter gestritten und sich gefetzt.

In Zahlen: 51.000 zahlende TeilnehmerInnen an den Debatten hatten sich bis zum Samstag eingeschrieben. Zusammen mit den (mangels Einkommen) nicht bezahlenden Personen kam man so auf knapp 60.000 TeilnehmerInnen am "eigentlichen" ESF, zu denen sich anlässlich der Demonstration noch weitere französische UnterstützerInnen gesellten. Damit wurde bezüglich der Debatten ein ungefähr gleich hohes quantitatives Niveau erreicht, wie anlässlich der ersten Ausgabe des ESF in Florenz, Anfang November 2002. Hingegen fiel die Beteiligung an der internationalen Demo schwächer aus als in Florenz, wo eine Million Menschen unterwegs waren. Das war erwartet worden, denn die Situation damals in Florenz war (aufgrund des damals bevorstehenden Irakkrieges und aufgrund der aufgeheizten innenpolitischen Situation unter der Berlusconi-Regierung) eine besondere.

Dabei fiel die internationale Beteiligung nach Ansicht der Veranstalter zufrieden stellend aus, während die französische Beteiligung hinter ihren Erwartungen zurück blieb. Mitverantwortlich dafür scheint die Preispolitik, die im Vorfeld verkündet worden war: Demnach sollten Normalverdiener 33 Euro bezahlen, Geringverdiener 11 Euro und Mittellose nur 3 Euro. Real aber hat die deutliche Mehrheit der ESF-Teilnehmer anscheinend, beschwerdenlos, nur 3 Euro gezahlt. 

Hinzu kommt, dass einige Gewerkschaftsbürokratien, und namentlich jene der CGT, die Dynamik im Vorfeld deutlich auszubremsen versuchten und entsprechend wenig Anstalten machten, für das ESF zu mobilisieren. Diesen Apparaten ging es vor allem darum, selbst die Initiative auf sozialem Gebiet in der Hand zu behalten und keine eigenständige Dynamik aufkommen zu lassen.

Insgesamt fanden 55 Plenarkonferenzen, gut 270 Seminare und über 300 kleinere Workshops statt. Menschen aus insgesamt 60 Ländern, fast aller Kontinente (nur Australien und die Antarktis wurden nicht gesichtet), nahmen daran teil. 

Die Motivationen dazu waren unterschiedlich und mannigfaltig. Mila, Anfang 20, aus Prag etwa ist Landwirtschaftsstudentin in der Tschechischen Republik, Sie wollte die Kritik an der herrschenden EU-Agrarpolitik und alternative Konzepte besser kennen lernen und kam auf eigene Faust, allein nach Paris. Emilio, vermutlich Ende 20, kam hingegen mit mehreren Freunden aus Florenz: "Beim letzten Europäischen Sozialforum in unserer Stadt saßen wir quasi in der ersten Reihe und sind gucken gegangen. Jetzt wollten wir den Fortgang sehen." Die netten Spanierinnen, die gerade mit ihrem Schlafsack die Metro nehmen, sind dagegen in der Studierendengewerkschaft in Madrid organisiert.

Gemeinsame Anliegen, gemeinsame Sprache ?

Aber geht es wirklich zu wie beim Turmbau zu Babel, auf den der ironische Name des ÜbersetzerInnen-Teams anspielt? So viel dürfte feststehen: Auch wenn in unterschiedlichen Sprachen kommuniziert wird, so scheint es doch wenigstens einige zentrale, gemeinsame Grundideen zu geben. Auf der Ebene der Slogans jedenfalls ist das eindeutig: Verbindende Wirkung hat hier offensichtlich vor allem die Devise "Gegen das Europa des Kapitals und des Krieges". Die Vorstellungen, wie der oft beschworene "andere" Kontinent aussehen könnte, gehen freilich bisweilen weit auseinander. Das dürfte aber in erster Linie keine Frage der geographischen oder Staatszugehörigkeit sein. Heftige Konflikte gab es während der Demonstration nämlich - unter Franzosen. 

Die Anarchosyndikalisten, die ein eigenes "Forum social libertaire" in der Pariser Vorstadt Saint-Ouen parallel zum ESF (doch autonom zu ihm stehend, was nicht die Teilnahme vieler Einzelpersonen an beiden Foren ausschloss) organisiert hatten, fingen zunächst an, die französischen Sozialdemokraten zu ärgern, indem sie deren Demonstrationsblock umringten. Tatsächlich wurden die Anarchosyndikalisten und libertären Kommunisten dadurch überrascht, dass sie sich bei der Aufstellung plötzlich unmittelbar vor dem Demoblock der ehemaligen Regierungspartei wieder fanden, womit sie nicht gerechnet hatten. Aus nachvollziehbaren Gründen betrachteten sie die Teilnahme des Parti Socialiste, PS (dessen Regierungspolitik von 1997 bis 2002 sich nur graduell, nicht aber qualitativ von der jetzigen unterschied) als Unverschämtheit. Die Tatsache, dass die Teilnehmer vom Forum social libertaire rund 2.000, die PS-Vertreter jedoch 300 (darunter 200 vom Ordnerdienst und ein Dutzend Prominente) gewesen sein dürften, erleichterte die symbolische Einkreisung.

Doch dann begannen einige unkontrollierte, teilweise angetrunkene Elemente mit Eiern und in Einzelfällen auch leeren Bierfläschchen (im Kleinformat) zu werfen. Das war eine umso größere Idiotie, als sie dabei sichtlich an die Falschen gerieten, denn den 200köpfigen Ordnerdienst der Sozialdemokraten stellten die Polizeigewerkschaften wie UNSA-Police. Letzterer Ordnerdienst fing darauf seinerzeit an, ziemlich ohne Unterschied auf alles einzuprügeln, was sich rund herum bewegte, und schickte drei Anarchos ins Krankenhaus. Die Sozialdemokraten hielten es jedoch für angeraten, die Demo kurz vor Erreichen des Zielorts zu verlassen. Richtig nachgetrauert dürfte ihnen kaum jemand haben, doch der dämliche "Angriff" hatte ihnen einmal mehr erlaubt, sich im Anschluss in den Medien als die großen Märtyrer der Meinungsfreiheit zu verkaufen - obwohl es sich lediglich um einen (aus mehreren Gründen) gescheiterten Versuch politischer Vereinnahmung handelte.

Ansonsten ging es wesentlich heiterer und enthusiastischer zu. Das "Foro social de Madrid" forderte, neben einer Absage an Krieg und Kapital, auch die Abschaffung der spanischen Monarchie ("La Espana de manana sera republicana") und die Ablehnung des neoliberalen EU-Verfassungsentwurfs. Das griechische Sozialforum forderte Solidarität, um die Freilassung der sieben noch Verhafteten vom letzten EU-Gipfel in Thessaloniki zu fordern; inzwischen sind sie übrigens aus der Haft entlassen worden, nach einem mehrwöchigen Hungerstreik.

Ein rosa gekleideter Schwulenblock verkündete: "Unser Begehren schafft Unordnung" (in französisch) und bezog, auf englisch, auch Stellung zu einem drohenden EU-Militarismus und zur Besatzung des Irak: "Make love your only occupation". Angehörige von Solidaritätsgruppen trugen "Mauerblöcke" aus Pappmaché, um symbolisch gegen die Mauer zu protestieren, die bereits jetzt palästinensische Bevölkerungszentren im Westjordanland einzuschließen beginnt. Andere wandten sich gegen den "Plan Colombia" als Aufstandsbekämpfungs-Projekt.

Vor allem aus Frankreich gab es eine sichtbare Präsenz der "Sans papiers" ("illegalen" Immigranten). Aus anderen Ländern war ihre Teinahme schwieriger, denn wer keinen Aufenthaltsstatus hat, reist nur schwerlich quer durch Europa. Die Sans papiers und ihre zahlreichen UnterstützerInnen forderten eine europaweite Niederlassungs- und Bewegungsfreiheit "für alle". Die Linksruck-Internationale (vor allem die britische "Mutterpartei", die Socialist Workers Party SWP, erwies sich ziemlich mobilisierungskräftig, junge Einpeitscherinnen mit Megaphon immer vorneweg) rief quer durch die Demo "a - a - anticapitalista". Atomkraftgegner trugen weiße Schutzoveralls und rollten Fässer mit Radioaktivitäts-Symbol. Die Studierenden von der Universität Rennes-2, die seit dem 5. November im Streik sind, forderten in der Demo den allgemeinen Ausstand an den Hochschulen gegen die drohenden "Reformen" im Universitätsbereich, insbesondere die EU-weite "LMD-Reform", die in ihrer konkreten Umsetzung als Einfallstor für die Konkurrenz zwischen Hochschulen dient. Daraus hat sich mittlerweile ja ein handfester studentischer Streik entwickelt, der rund ein Drittel der französischen Universitäten erfasst. Eine am 29. November an Rennes-2 gegründete "Nationale Koordination der Universitäten im Streik" umfasste zunächst Vertreter von 27 (der insgesamt 90) öffentlichen Hochschulen.

Auch Gewerkschaften waren vertreten. Das waren aus Frankreich besonders die CGT (die deutlich unter ihren potenziellen Mobilisierungsmöglichkeiten blieb, und offenkundig die Mobilisierung sogar mit beiden Füßen gebremst hatte: von 400 angekündigten freiwilligen HelferInnen der CGT auf dem ESF waren lediglich 100 gekommen), der Lehrergewerkschaften-Verband FSU und die linksalternativen SUD-Basisgewerkschaften. Dagegen glänzten die sozialliberale CFDT, die auch vom ESF insgesamt abwesend blieb, aber auch der populistische Dachverband Force Ouvrière (FO) (der einzelne Redner zu ESF-Debatten geschickt hatte) durch Abwesenheit.

Aus dem europäischen Ausland zeigten mehrere britische Branchengewerkschaften Präsenz, aber auch IG Metall-Vertreter aus Wolfsburg und die italienischen Basisgewerkschaften COBAS. Die beiden Blöcke von IG Metall und COBAS mischten sich in der Demo teilweise. Na, hoffentlich werden sich die deutschen Kollegen da mal eine Scheibe von der französischen oder italienischen Arbeitskampfkultur abschneiden...

Suche nach gemeinsamen Analysen: Rechtsextremismus und Migrationsregime

Gibt es bei all dem freundlichen Durcheinander eine Konvergenz zwischen Forderungen und Analysen? Gesucht danach wurde auf jeden Fall in den dreitägigen Debatten.

So beschlossen die drei Foren, die über "die extreme Rechte und Rechtspopulismus" in Europa diskutierten und den Diskurs der "altermondialisation" (alternative Globalisierung) gegenüber Nationalisten und reaktionären Identitätspolitikern abzuschotten versuchten, eine gemeinsame Kampagne. Vor den Europaparlamentswahlen im Juni 2004 soll überall zugleich der Einzug rechtsextremer Kandidaten bekämpft und, so möglich, verhindert werden. Das wird dann erstmals auch die osteuropäischen Beitrittsländer einbeziehen, die ja im Juni 2004 bereits mit wählen werden. In Ungarn etwa ist die extreme Rechte in Gestalt der MIEP (Partei der Wahrheit und des Lebens) stark und mit Jean-Marie Le Pen verbündet; der französische Neofaschisten-Chef weilte Ende Oktober zusammen mit dem britischen "Historiker" und Auschwitzleugner David Irving in Budapest., wo beide auf einer MIEP-Kundgebung sprachen.

Deswegen war, neben der Franko-Österreicherin Elisabeth Gauthier und dem italienischen Journalisten Guido Calderone, etwa auch Endre Simon vom Ungarischen Sozialforum für einen Länderbericht eingeladen worden. Künftig soll es einen stärkeren länderübergreifenden Redneraustausch zum Thema geben, und es sollen vor allem auch die jeweiligen Analysen über die Ursachen rechtsextremer Wahlerfolge ausgetauscht werden.

In den Foren über die Rechte von Einwanderern wurde die Forderung nach kontinentaler Niederlassungs- und Bewegungsfreiheit aufgestellt und wurden die Entwicklungen hin zu einem gemeinsamen Migrationsregime der Union debattiert. Auch hier wurden gemeinsame Initiativen beschlossen: Demnach soll es am 31. Januar 04 einen europaweiten Aktionstag für die Rechte der "illegalen" Immigranten, die Schließung der Abschiebeknäste etc. geben.

Welche Bewertung des entstehenden EU-Machtblocks?

Divergenzen prägten vor allem dort die Debatten, wo es um eine Bewertung der Rolle der Europäischen Union und ihr Außenverhältnis zu anderen Kontinenten ging. In zwei Diskussionsforen ging es um die EU-Assoziierungsabkommen mit südlichen und östlichen Anrainerstaaten des Mittelmeers und die Bestrebungen zur Schaffung einer regionalen "Freihandelszone" rund um das Mittelmeer. TeilnehmerInnen von Attac-Marokko, tunesische Gewerkschafter oder algerische Wirtschaftswissenschaftler (dem algersichen Ökonomisten Abderrazak Adel aus Constatine hatte der französische Staat glatt das Visum verweigert) bezeichneten die EU dabei als Dominanzfaktor.

Als Regionalmacht suche sie ihre Kapitalinteressen auf ähnliche Weise auf Kosten der Länder des Südens durchzusetzen, wie die USA dies oftmals in Lateinamerika praktizierten. Ihnen widersprach allerdings der tunesische Menschenrechts-Funktionär Khemais Chamari: Die EU verteile doch Subventionen an Vereinigungen aus der "Zivilgesellschaft". Darin liege eine Chance, die man nutzen müsse (eine Position, die nicht ganz frei von materiellem Eigeninteresse erschien...). Jenen auf dem Podium und im Publikum, die von der "korrumpierenden Wirkung" dieser EU-Subventionen in Bezug auf die Positionen der entsprechenden Gruppen sprach, hielt er entgegen: "Es gibt eine Kampagne der Regime, die Oppositionelle wegen ihrer ausländischen Finanzierung als Verräter hinstellen will. Dem müssen wir entgegen treten." Darüber gab es einigen Streit.

Anderswo machten sich die unterschiedlichen Bewertungen bereits im Titel bemerkbar. So ging es in einem Seminar um die "Militarisierung Lateinamerikas und die Rolle Europas bei Waffenverkäufen und militärischer Kooperation". Entsprechend kritisch äußerten sich etwa die französische Trotzkistin Janette Habel und Gastredner aus Argentinien, Paraguay, Kolumbien und Guatemala über die Geschäfte von EU-Regierungen mit örtlichen Militärs und Diktatoren. Hingegen drehte sich ein anderes Seminar um "de(n) Beitrag Europas beim Aufbau von Frieden und Demokratie, am Beispiel Zentralamerikas und der Andenregion". Hier diskutierten vor allem katholische und karitativ ausgerichtete Organisationen (Secours catholique, Caritas...) über die positive Rolle, welche europäische Hilfsprogramme nach dem Ende regionaler Bürgerkriege spielen könnten.

Dass die unterschiedlichen Konzeptionen nicht immer hat aufeinander prallten, dafür sorgten schon die große Zahl an Diskussionsforen und die geographische Dezentralisierung des ESF, das zugleich im Pariser Nordosten und in drei Vorstädten stattfand.

Sie sollte eigentlich dazu dienen, die jeweilige Bevölkerung (gerade in den Banlieues, wo viele ärmere Bevölkerungsgruppen konzentriert sind) stärker einzubeziehen, erwies sich jedoch als erschwerender Faktor für den reibungslosen Ablauf des ESF. Damit wurde jenen Kräften in die Händen gearbeitet, die (wie ein Teil der Attac-Führung und die beteiligten Gewerkschaftsführungen) lediglich einen unverbindlichen Meinungsaustausch in kolloquiumartiger Atmosphäre herbei führen, aber jedenfalls keine Eigendynamik transnationaler sozialer Bewegungen entstehen lassen wollten. Kein Missverständnis: Es handelt sich nicht um ein "Komplott", sondern um ein Zusammenspiel objektiver Faktoren, ungewollter Effekte und subjektiver Absichten bei manchen Protagonisten.

Die Debatte Tony Negri ­ Alex Callinicos

Symbolische Konfrontationen blieben dennoch nicht aus, mittlerweile wurden sie auch absichtlich zwischen prominenten "Kampfhähnen" inszeniert. So debattierten der italienische Postoperaist Antonio Negri und der britische SWP-Führungskader (und Uniprofessor) Alex Callinikos über die Grunsatzfrage "Multitude oder Arbeiterklasse?" Anfänglich herrschte eine Stimmung ein wenig wie bei einem Sportereignis: Jeder der Kontrahenten schien seinen Fanclub mitgebracht zu haben, viele wollten wohl die "Stars" auch nur mal aus der Nähe sehen. Der vorgesehene Saal war viel zu klein, da er 200 Sitzplätze für weit über 1.000 Interessierte aufwies. Die Briten organisierten Sprechchöre "Get outside! Get outside!", die Italiener trommelten gegen die Wand. Schließlich fand die Veranstaltung unter freiem Himmel statt, wodurch die Übersetzung (mangels Kabinen und Kopfhörer musste sie auf jeden Beitrag im Nachhinein folgen) aber zu einer mühsamen und langwierigen Angelegenheit wurde. Allzu tief geschürt werden konnte daher bei der Theoriedebatte nicht.

Toni Negri musste sich einige unwissenschaftliche Aspekte an seiner "Multitude"-Debatte vorwerfen lassen. Und auch, dass er den Unterschied zwischen der spezifischen Ausbeutung im Arbeitsleben (die auf gegenseitiger Abhängigkeit beider ökonomischer Parteien beruhe, wodurch eine Umwälzung perspektivisch möglich werde) und anderen Lebensbereichen, in denen es irgendwelche Hierarchien geben möge, verwische. Wenn Negri sage: "Selbst wenn wir träumen, werden wir ausgebeutet", dann verwische er solche fundamentalen Unterschiede, da man im Traum keinen Kampf führen könne. Alex Callinikos warf Negri vor, "Poesie" anstatt von "Analyse" zu betreiben.

Dagegen führte Negri, der mit Händen und Füßen argumentierte und alsbald die rhetorische Oberhand gewann, zahlreiche Beispiele an für seine These, die immaterielle und intellektuelle Arbeit dominiere heute (wofür sich ja manche Tätigkeiten benennen lassen, es bleibt die Frage ihrer Verallgemeinerbarkeit). Die Publikumssympathien dürften eindeutig eher Negri zugeflogen seien, weil Callinicos in seinen weiteren Statements nicht mehr viel Neues anbrachte. Und weil Negri überhaupt den bunteren, gestenreicheren und lebhafteren Vortrag hielt; bei einer symbolischen Konfrontation dieser Art kommt es auch darauf an.

Zugleich blieb Negri in diesem Rahmen bemüht, seine "Multitude"-Theorie als Bereicherung innerhalb der Grenzen marxistischer Theoriebildung darzustellen, statt sie über den Haufen zu werfen. Auf die Frage eines türkischen Vertreters, ob seiner Ansicht nach sich die "Multitude" ohne Enteignung des bestehenden Eigentums an Produktionsmitteln durchsetzen könne, antwortete er schlicht: "No". Das hatte wenigstens den Vorzug der Klarheit. Gegenüber dem eher dröge wirkenden und in seinem Vortrag variationslosen Callinikos dürfte Negri mindestens als Punktsieger aus der Debatte hervorgegangen sein.

Es bleiben (u.a. auch) beim Autor dieser Zeilen einige Zweifel ob der Triftigkeit der "Multitude"-Theorie. Aber man hätte es vielleicht nicht dem eher einfalls- sowie farblosen und dogmatischen Callinicos (der mit seinem "Poesie statt Analyse"-Vorwurf leicht arrogant wirkte) überlassen dürfen, den Gegenpol in der Debatte einzunehmen.

Ärger um die Rolle der Religion: Die Ramadan-Debatte

Bei anderen, besonders viel Aufmerksamkeit erregenden Debatten hingegen war mitunter wirklich kein Hereinkommen mehr zu finden. So war es völlig vergeblich, zur angekündigten Urzeit Einlass in den Saal zu begehren, in welchem die mit Spannung erwartete Debatte über "Juden in Europa und der Nahost-Konflikt" stattfand. "Brechend voll" lautete die Fern- und Nah-Diagnose. Ein Bericht über diese spannende Debatte, die u.a. vom Netzwerk "Europäische Juden für einen gerechten Frieden" ausgerichtet wurde, steht leider derzeit nicht zur Verfügung.

Ebenfalls mit viel Spannung erwartet waren die beiden Auftritte des Theologien, Schweizer Philosophie-Dozenten und Softcore-Islamisten Tariq Ramadan. Im Vorfeld war in einigen, der Sozialdemokratie nahe stehenden Medien (namentlich "Libération") die Bedeutung des ESF fast völlig auf diese, politisch fragwürdige, Persönlichkeit reduziert worden. (Vgl. zur Vorfeld-Debatte die letzte Ausgabe des trend vom 14. 11. 2003.)

Ramadan war bereits im Vorfeld dermaßen zum "Star" erhoben worden, dass er selbst bei seinem Auftritt am 14. November, vermeintlich generös, feststellen konnte: "Das Europäische Sozialforum beschränkt sich nicht auf eine Person, hören wir auf damit", um hinzuzufügen: "Mit den Beweggründen des Parti Socialiste, was seine Rolle und Bedeutung beim ESF betrifft, hat meine Person erstmal nichts zu tun". Das war durchaus nachvollziehbar: Tatsächlich hat die ungeschickt-trampelige Kampagne der französischen Sozialdemokratie (die vor allem um ihre eigene Hegemonie über das ESF kämpfte, die aber ein völliger Flop wurde) gegen den sich modern gebenden Theologen diesem eine enorme Publicity verschafft. Da sie mit unpassenden Holzhammer-Argumenten geführt wurde (Ramadan wurde als "Faschist" bezeichnet, was in der Sache nicht trifft), konnte der "muslimische Intellektuelle" sich dabei auch noch in die Pose des Opfers werfen. Die notwendige Kritik an dem, was Tariq Ramadan wirklich sagt, drohte dabei gleich mit über Bord zu gehen.

Erwartungsgemäß zog die Debatte in einem Kinosaal in Ivry-sur-Seine, wo am Freitag vormittag über Religionskritik und "die Rolle von Religion im Widerstand gegen die herrschende Weltordnung" gestritten wurde, überdurchschnittlich viele junge Immigranten(kinder) an. Damit war eine der Erwartungen erfüllt worden. Tariq Ramadan, der sich gegen eine "Pressekampagne" gegen seine Person wandte, musste übrigens angesichts seines Publikums einen potenziell peinlichen Versprecher korrigieren. Zuerst hatte er verächtlich von einer "Banlieue-Presse" gesprochen, die ihn gern falsch oder aus dem Zusammenhang gerissen zitiere. Dann, nach einer kurzen Denkpause, setzte er nach: Natürlich habe er nichts gegen die Banlieues (Trabantenstädte) und ihre Bewohner, er habe nur sagen wollen, dass eine bestimmte Presse... Sollte der kurze Zwischenfall gezeigt haben, dass der Moraltheologe jene sozialen Unterschichten in den Banlieues, unter denen bzw. in deren Jugend er ein Publikum findet, in Wirklichkeit nur als Fußvolk und Manövriermasse schätzt? Ramadan konnte gerade noch den verpatzten Eindruck abwehren.

In der Sache plädierte Ramadan für einen Universalismus, zu dem aber "jeder selbst vordringen müsse, indem er sich selbst auf den Grund gehe und dort das Universelle fortfindet". Den Islam definiert er dabei implizit als Bestandteil der Persönlichkeit des Einzelnen. Letzterer könne durch das Studium der "Quellen" und in der Auseinandersetzung mit ihnen (Ramadan lehnte eine "buchstabengetreue, dogmatische oder konservative Auslegung" ab) zu sich selbst gelangen, als Voraussetzung für eine Teilnahme am Universellen und am Dialog mit anderen. Dabei tritt Ramadan zwar nuanciert auf (durch seine Ablehnung eines Wort-für-Wort-Befolgens beispielsweise des Koran), dennoch nimmt er ein im Kern reaktionäres Axiom an. (Axiom: Eingangsbehauptung, als richtig vorausgesetzte Aussage.) Denn wenn der Islam irgendwie Bestandteil der jeweiligen Persönlichkeit ist, dann kann das Individuum auch nicht aus freier Entscheidung zum Religionskritiker, Gottlosen oder Atheisten werden. Es bleibt also, auch wenn Ramadan die Diskussion und Kritik unter Gläubigen zulässt, im Kern ein Determinismus bestehen.

Ferner zeigte Ramadan sich zwar als Kritiker der Situation von Frauen in islamisch geprägten Gesellschaften, führte diese jedoch nicht auf die Religion und ihr Gebäude an Ge- und Verboten zurück. Sondern (quasi allein) auf "die historisch gewachsenen Kulturen der Gesellschaften, die sich auf den Islam berufen", und das mitunter missbräuchlich täten. Das ist richtig und falsch zugleich: Einerseits stimmt es, dass "der Islam" (dessen historische Praktiken natürlich auch vielfältig sind: mal relativ liberal oder mit vor-islamischen Praktiken und Glaubens- oder Aberglaubensvorstellungen durchmischt, mal rigoros) natürlich nur den ideologischen Überbau darstellt, der über das Fundament einer bereits zuvor bestehenden Sozialordnung darübergelegt wurde. Etwa über die Strukturen des traditionellen, spezifischen Patriarchats der Gesellschaften im erweiterten Mittelmeerraum, das historisch auch in katholischen Ländern am Mittelmeer anzutreffen ist. Ferner trifft es zu, dass eine Reihe von Praktiken durch "den Islam" gerechtfertigt werden, die aber gar nichts mit dieser Religion zu tun haben, etwa die Mädchenbeschneidung in Ägypten und manchen westafrikanischen Ländern. Andererseits bleibt es eben auch richtig, dass die islamische Religion, wenn man sie einmal von allen ihr "un-eigentlichen" Rückständen gesellschaftlicher Praktiken abgetrennt hat, dennoch eine Reihe von Vorschriften enthält, die eine bestimmte Rolle der Frau festschreiben. Tariq Ramadan macht es sich (vor einem größerenteils nicht-muslimischen Publikum) viel zu einfach, wenn er alle Übel auf dem Rücken der Traditionen, die es vom Islam selbst zu unterscheiden gelte, abzuladen versucht.

Ansonsten muss Ramadans Diskurs auf zwei unterschiedlichen Ebenen betrachtet werden: Er unterscheidet implizit zwischen der Ebene der "légitimité" (dessen, was von der Religion her legitim, also moralisch korrekt ist) und jener der "légalité" (dessen, was vom Gesetz her, von der gesellschaftlichen Regel her dem Einzelnen abverlangt oder aufgezwungen werden kann). Etwa auf das Verbot der Homosexualität durch die Religion angesprochen, antwortete Ramadan in Ivry-sur-Seine, er erinnere lediglich an das religiöse Tabu, dennoch verurteile er alle Formen von Verfolgung homosexueller Personen. So habe er den Strafprozess gegen 51 Homosexuelle in Ägypten vor einem Jahr kritisiert. 

Tatsächlich siedelt Ramadan seine Aktion vor allem auf dem Feld der "légitimité" an: Er möchte die Überzeugung seitens der Individuen befördern, dass dasjenige, was die Religion von ihnen fordert, richtig und erstrebenswert sei. Umgekehrt misst er dem Feld der "légalité" eher geringe Bedeutung bei, da er weiß und verstanden hat, dass in einer modernen (und, in den europäischen Ländern, auf Dauer mehrheitlich nicht-muslimischen) Gesellschaft eine strafbewehrte, durch die gesellschaftlichen Institutionen mit Zwang durchgesetzte Regel keinerlei Aussicht auf Erfolg oder Akzeptanz hätte. Daher wendet Ramadan sich von der letztgenannten Aktionsebene ab, was ihm wiederum als Argument gegenüber seinen Kritikern dient: Er rede doch gar nicht der Ausübung eines Zwangs auf die Individuen das Wort.

Das stimmt, was die "legale", gesetzliche, institutionelle Ebene betrifft, aus oben genannten Gründen. Anders sieht es aus, wenn man seine Absichten auf dem Feld der "légitimité" betrachte: Hier möchte Ramadan eine möglichst weitgehende Akzeptanz für die Regeln der Religion, und eine (möglichst starke) freiwillige Unterordnung unter diese Regeln befördern. Dabei bezieht er sich sicherlich nicht auf die französische Gesamt-Gesellschaft, sonden auf die muslimischen Minderheiten, auf die Einwandererbevölkerung. In diesem Sinne kann man ihn als kommunitaristischen Intellektuellen bezeichnen: Er will einer ganz bestimmten Bevölkerungsgruppe eigene Lebensregeln, die als "legitim" betrachtet werden sollen, geben. Das ist nicht universalistisch, sondern deterministisch und Bestandteil reaktionärer Identitätspolitik; dieser Diskurs muss aber auf subtile Art und Weise zerlegt und kritisiert werden. 

Die notwendige Kritik daran wurde auf dem Podium, auf das Tariq Ramadan eingeladen war, tatsächlich auch formuliert. So befanden sich drei erklärte Ungläubige oder Atheisten auf dem Podium, die mit Ramadan diskutierten. Der Psychologe Miguel Benassayag, argentinischer und jüdischer Herkunft, gab sich zwar einerseits als Kritiker der etablierten Religionen zu erkennen, machte andererseits aber auch Ausführungen über "das legitime Bedürfnis an Spiritualität gegenüber dem utilitaristischen, sinnentleerten Menschenbild des Neoliberalismus", die beim Verfasser dieser Zeilen ziemliche Bauchschmerzen hervor riefen. Allerdings sprach er sich ("als ehemaliger Hippie, der die sexuelle Revolution praktizierte") auch gegen jede Form von Unterdrückung der Frauen oder Unterdrückung der Sexualität aus, sich direkt an die RepräsentantInnen des Islam auf dem Podium und im Publikum wendet.

Von größerer Klarheit war der Vortrag des französisch-brasilianischen marxistischen Philosophen Michael Löwy, der sich selbst als "Jude, ungläubig und Atheist" präsentierte. Sein Thema war die "Befreiungstheologie" am brasilianischen Beispiel. Löwy berichtete über seine Begegnung mit Vertretern der Befreiungstheologie in den Knästen der brasilianischen Militärdiktatur, deren Mut und Engagement bewunderswert gewesen sei. Allerdings stellte Löwy klar, die Vertreter dieser Befreiungstheologie hätten deswegen eine progressive Rolle spielen können, weil sie erklärtermaßen ihre Handlungen auf die Unterscheidung "zwischen Unterdrückern und Unterdrückten" basiert hätten. Dabei hätten sie nicht zwischen Gläubigen und Ungläubigen unterschieden, sondern nach der gesellschaftlichen Rolle der verschiedenen Protagonisten. Damit hätten sie aber auch nicht den Anspruch erhoben, die Gesellschaft nach den Regeln der Religion zu formen, sondern an diesem konkreten Punkt eine materialistisch begründete Position bezogen.

Zum Abschluss formulierte Löwy eine Reihe von Knackpunkten, an denen jede sich als "Befreiungsideologie" bezeichnende, religiös begründete Ideologie zu messen sei: Ihre Haltung zur Rolle der Frau, zur Gleichberechtigung der Geschlechter, zur Unterdrückung oder Nichtunterdrückung von Sexualität. Ramadan, der selbst mit den Vokabeln einer islamischen Befreiungstheologie jonglierte, gab darauf eher ausweichende Antworten ab.

Zugleich konnte Ramadan dennoch im Endeffekt als "Moderater" erscheinen, und zwar deswegen, weil sich neben ihm eine echte Hardcore-Islamistin auf dem Podium befand, welche die Rolle der tumben Ideologin übernahm. Daneben konnte Ramadan geradezu als Aufklärungsphilosoph durchgehen. Die mit der deutschen Delegation angereiste Magida Shehadeh (die allerdings ausschließlich auf Englisch vortrug), von der man sich fragt, warum sie unter dem Etikett "Attac Deutschland" auftreten konnte, las in Stakkato-Rhythmus eine schriftlich vorbereite Rede ab.

Darin war dutzendfach von "Our prophet said" und "Our holy book says" die Rede. Folgte man der Rednerin, dann ist aus dem Koran abzuleiten, wie eine gerechte Welt und auch eine gerechte Ökonomie (ohne Zins, ohne Spekulation) auszusehen habe. Die beinhart dogmatische Rede begab sich so gut wie niemals in die Niederungen gesellschaftlicher Realität herab (außer mit der Feststellung, die deutsche Friedensbewegung des Jahres 2003 habe bei der Integration der Muslime versagt, während die britische Bewegung in der Hinsicht vorbildlich gewesen sei). Sie endete mit der Feststellung "Western culture doesn¹t have all the answers". Das will man sehr gerne akzeptieren, aber (so ist der Autor dieser Zeilen versucht hinzuzufügen) wer stattdessen glauben machen möchte, alle Antworten befänden sich im Kern in einem 1.400 Jahre alten Buch, der oder die hat erst recht nicht alle Tassen im Schrank. Es sei erlaubt, über eine solche Vorstellung zu lachen.

Die Tatsache, dass die Rednerin später in der Debatte kein einziges Mal auf irgendeine Frage auch nur die leiseste Antwort gab (und sich darauf beschränkte, in der Abschlussrunde zu sagen, sie sei nicht zum Diskutieren gekommen, sondern "as an activist"), bestätigt die Vermutung, dass diese stock-dogmatische Diskutantin, gelinde ausgesagt, auf einem ESF-Podium nichts zu suchen hatte.

Insgesamt zeigte diese Debatte, dass es zwar an Kritik an problematischen Ideologien nicht mangelte, dass aber letztendlich in dieser Debatte die unterschiedlichen Grundsatzpositionen eher unvermittelt nebeneinander standen.

Zwar wurde Ramadan, zu Recht, mit Kritik an seiner religiös-kommunitaristisch fundierten Ideologie konfrontiert. Allerdings bleibt das Gefühl zurück, dass dabei ein wichtiger Fehler unterlaufen ist. Zwar widersprachen verschiedene Personen (auf dem Podium wie aus dem Publikum) Tariq Ramadan, doch waren sie alle weder arabischer noch sonst moslemischer Herkunft. Damit konnte Ramadan für sich in Anspruch nehmen, "der" Vertreter dieser Minderheit, dieser Community auf dem Podium zu sein. (Magida Shehada, die sich in dieser Debatte als ungefähr so intelligent wie ein Besenstiel erwies, spielte in der Wahrnehmung nicht einmal eine Nebenrolle.)

Wie viel interessanter wäre es in der Zukunft, einen Redner wie Ramadan mit einer Atheistin moslemischer Herkunft, einer algerischen Marxistin, einer ägyptischen Feministin zu konfrontieren! Zumal solche Personen ihre Erfahrung mit dem Diskurs von Figuren à la Tariq Ramadan haben (seine Schritt-für-Schritt-Strategie bei der Durchsetzung religiöser Legitimität ist an jene der Muslimbrüder angelehnt) und ihn viel besser analysieren und kritisieren könnten. Nur auf diesem Wege ist ein Erfolg der progressiven Kräfte in einer solchen Debatte zu erwarten, und könnten zudem noch alle Risiken einer rassistischen Konnotation vermieden werden.

Künftige gemeinsame Aktion

Am Ende sollten die Teilnehmer nicht nach Athen, Berlin, Madrid oder Bologna zurückkehren, ohne dass ein gemeinsamer Aktionskalender verabschiedet worden wäre. 

Eine Delegiertenversammlung am Sonntag, 16. November hielt in der Abschlusserklärung mehrere Termine fest. Die Erklärung ruft dazu auf, "an allen Aktionen teilzunehmen, die durch die sozialen Bewegungen organisiert werden". Insbesondere solle ein gemeinsamer europaweiter Aktionstag vorbereitet werden, "den die sozialen Bewegungen, insbesondere die europäische Gewerkschaftsbewegung, unterstützen sollen". (Sollte damit etwa der EGB gemeint sein?? Dem Vernehmen nach soll der EGB am 4. Dezember über das Projekt entscheiden - ist es da wirklich in den richtigen Händen ?? Erhebliche Zweifel seien erlaubt: Der EGB ist eine bürokratische Lobby-Organisation ohne echte Basis, der auf der Höhe der EU-Kommission als ein Lobbyorgan unter vielen angesiedelt ist.)

Eine europäische Versammlung von rund 400 Arbeitslosen- und Prekären-VertreterInnen am Freitag Nachmittag im Pariser Parc de la Villette hatte konkret einen Termin im Februar 04 vorgeschlagen. Dass der Termin jetzt in der Abschlusserklärung nicht präzisiert wird, führen Teilnehmer darauf zurück, dass die anwesenden Gewerkschaften zuerst in ihren eigenen Strukturen über die Initiative diskutieren wollen. Zu hoffen ist nur, dass das nicht zu einem Begräbnis erster Klasse führt! Das wird genau im Auge zu behalten sein.

Zwei Termine stehen indes bereits fest. Am 20. März 04 (dem ersten Jahrestags des Beginns des diesjährigen Irakkriegs) will man sich europaweit einem Demonstrationstermin anschließen, den die US-Antikriegsbewegung bereits lanciert hat. Dabei geht es unter anderem um die Besatzung des Irak und um "Unterstützung für die israelischen und palästinensischen Bewegungen, die für einen gerechten und dauerhaften Frieden kämpfen".

Und am 9. Mai 2004 soll die Kritik am EU-Verfassungsentwurf durch Proteste in ganz Europa deutlich werden; an jenem Tag soll der Text feierlich ratifiziert und verkündet werden, voraussichtlich in Rom. Diese "Verfassung", die aus der ominösen Kommission unter Vorsitz von Altpräsident Valéry Giscard d¹Estaing hervor ging, hat es stellenweise in sich: Sie definiert eine klare militärische Dimension der Union und will die EU-Mitgliedsländer auf "Stärkung ihrer Verteidigungsindustrien" festlegen. Sie erklärt Marktmechanismen zur Grundlage der Union und will ferner das "christliche Kulturerbe" als deren Fundament verbindlich festschreiben. Kurz, der Text liefert nicht nur einige triftige Gründe, sondern ein ganzes Bündel von Motiven zum Protest, von denen jeder für sich genommen bereits für die Ablehnung des Textes genügen würde.

Vieles hat mensch sich vorgenommen, das Weitere muss die nähere Zukunft zeigen. Die nächste Ausgabe des Europäischen Sozialforums wird im Herbst 2004 in London stattfinden.

Es folgt: Eine Übersetzung der Abschlusserklärung des ESF

Abschlusserklärung des 2.Europäischen Sozialforums  Aufruf der Versammlung der sozialen Akteure und Bewegungen

Wir kommen aus sozialen und Bürgerrechts-Bewegungen aus allen Teilen Europas, von Ost bis West und von Nord bis Süd. Nach Florenz und Porto Alegretreffen wir uns auf dem Zweiten Europäischen Sozialforum nach einem Jahr der Mobilisierungen gegen das neoliberale Modell in zahlreichen Ländern Europas (gegen die Rentenreform, für die Verteidigung der öffentlichen Dienste, gegen die Landwirtschaftspolitik der jeweiligen Regierungen, für die Rechte der Frauen, gegen die extreme Rechte, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit sowie gegen die Innere Sicherheits-Politik der Regierungen) sowie gegen den Irakkrieg, besonders am 15. Februar 2003. Wir sind unterschiedlich und plural zusammen gesetzt, und das macht unsere Stärke aus. 

Zur Zeit wird ein Entwurf für eine Europäische Verfassung außerhalb der Zivilgesellschaft ausgearbeitet. Er erhebt den Wirtschaftsliberalismus als offizielle Doktrin der EU zu "Verfassungsrang"; er schreibt das Konkurrenzprinzip als Grundlage des europäischen Gemeinschaftsrechts und aller menschlichen Aktivitäten fest, und berücksichtigt in keiner Weise die Ziele gemeinsamer Entwicklung (Anm. d. Ü.: mit den Ländern des Südens); er schreibt der NATO eine Rolle in der europäischen Außen- und Verteidigungspolitik zu und befördert eine Militarisierung der Union; schließlich hält er die Sozialpolitik im Status eines fünften Rads am Wagen eines europäischen Aufbaus, der sich auf das Primat des Marktes gründet, und besiegelt de facto die bereits vorgesehene Zerschlagung der öffentlichen Dienste. Dieser Verfassungsentwurf entspricht nicht unseren Bestrebungen.

Wir kämpfen für ein anderes Europa. Unsere Mobilisierungen haben die Hoffnung auf ein Europa ohne Arbeitslosigkeit und Prekarität zum Gegenstand, das mit einer Landwirtschaft der Bauern (Anm. d. Ü.: im Gegensatz zu Agrokonzernen) ausgestattet ist, welche dauerhaft und solidarisch wirtschaftet, die Arbeitsplätze und die Umwelt sowie die Nahrungsqualität erhält; auf ein Europa, das zur Welt hin offen ist, das allen die Freizügigkeit erlaubt, das allen hier lebenden Ausländern das Aufenthaltsrecht und Bürgerrechte zuerkennt und das Asylrecht anerkennt; auf ein Europa, das eine tatsächliche Gleichheit zwischen Männern und Frauen verwirklicht, das die kulturelle Vielfalt fördert sowie das Recht der Bevölkerungen auf Selbstbestimmung, das heißt das Recht, auf demokratische Weise über die eigene Zukunft zu entscheiden.

Wir kämpfen für ein Europa, das den Krieg verweigert, die internationale Solidarität sowie eine ökologisch sinnvolle, dauerhafte Entwicklung begünstigt. Wir kämpfen dafür, dass Menschenrechte, dass soziale, wirtschaftliche, kulturelle und ökologische Rechte Vorrang vor Konkurrenzrecht, Profitlogik und Abhängigkeit vermittels Schulden haben sollen. 

Aus all diesen Gründen richten wir einen Aufruf an die Bevölkerungen Europas, damit sie sich gegen das neoliberale Modell und den Krieg mobilisieren. Wir kämpfen für den Rückzug der Besatzungsruppen aus dem Irak sowie für die sofortige Rückgabe de Souveränität an die irakische Bevölkerung. Wir kämpfen für den Rückzug Israels aus den besetzten Gebieten sowie den Baustopp der Mauer und ihre Abtragung. Wir unterstützen die israelischen und palästinensischen Bewegungen, die für einen gerechten und dauerhaften Frieden kämpfen. Deswegen schließen wir uns dem internationalen Aufruf an, der in den Vereinigten Staaten durch die Antikriegsbewegung lanciert wurde, und rufen zum Aktionstag am 20. März 2004 auf.

Um zu einem Europa zu gelangen, das auf der Anerkennung der sozialen, politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und ökologischen Rechte - individueller wie kollektiver Natur, der Männer wie der Frauen - beruht, verpflichten wir uns, überall Initiativen zu ergreifen. Wi müssen schrittweise einen Mobilisierungsprozess aufbauen, der es erlaubt, alle Bevölkerungen Europas einzubeziehen. Wir verpflichten uns, an allen Aktionen teilzuhaben, die durch die sozialen Bewegungen organisiert werden, und insbesondere einen gemeinsamen Aktionstag mit Unterstützung der sozialen Bewegungen und besonders der europäischen Gewerkschaftsbewegung aufzubauen. Wir rufen alle sozialen Bewegungen dazu auf, diese Mobilisierungsdynamik in einem Aktionstag für ein anderes Europa, für die Rechte der Bürgerinnen und Bürger und der Bevölkerungen gipfeln zu lassen, am 9. Mai (2004), dem Datum, an dem die Ratifizierung der Europäischen Verfassung vorgesehen ist.

(Saint-Denis,) Am 16. November 2003

Übersetzung: Bernhard Schmid, 16. 11. 03

Editorische Anmerkungen

Der Artikel wurde uns vom Autor  in der vorliegenden Fassung am 1.12.2003 zur Veröffentlichung überlassen.