Frankreich vor den Regionalparlamentswahlen (1):
Le Pen stellt demagogisch "soziale Frage(n)"
 

von
Bernhard Schmid (Paris)

12/03    trend onlinezeitung

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Es war nicht die fortschrittlichste, aber wohl die lauteste Demonstration der letzten Jahre in Paris. Zehntausende Sylvesterböller und einige Leuchtraketen gingen los, als am Montag vergangener Woche (24. November) die Tabakhändler durch die französische Hauptstadt zogen.

Rund 20.000 waren aus allen Ecken des Landes gekommen, um der Regierung mit dem Stimmzettel zu drohen: "Der Raucherkrebs führt zum Tumor in den Urnen." Das muss nicht bedeuten, dass sie für die extreme Rechte stimmen werden ­ in der Mehrzahl der Fälle läuft es aber wohl darauf hinaus. Gleichzeitig drohen sie damit, ihre "täglich 11 Millionen Kunden" entsprechend zu beeinflussen.

Die Tabakhändler, die in Frankreich meist zugleich auch Café und Alkohol ausschenken (dagegen, anders als die meisten Tabakläden in Deutschland, in der Regel keine Zeitungen verkaufen; dafür gibt es spezielle Papierwarengeschäfte), sind ein traditionell rechts stehender Berufszweig. Napoleon hatte ihn 1800 begründet ­ da der Staat ein Monopol auf den Tabakhandel hatte, führte er eine Lizenz ein. Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts hinein wurde bevorzugt eine Klientel bedacht, die aus ehemaligen Militärs und Polizeispitzeln bestand.

Das hat sich zwar nach dem Zweiten Weltkrieg geändert, weil die korporatistischen und berufsständischen Strukturen aufgelöst wurden, die dem Vichy-Staat als Fundament gedient hatten. Bis heute ist die soziale Mentalität des Berufsstands jedoch eher konservativ bis reaktionär geprägt. Vertreten wird er durch einen Berufsverband, der zwar <<syndicat>> heißt (ähnlich wie eine Arbeitergewerkschaft), aber in ihrer Funktionsweise weniger einer Gewerkschaft denn einer Handelskammer ähnelt.

Jetzt empören sich die Geschäftsleute über den Staat, an dessen Monopol sie mit verdienen. Die Regierung hat nämlich eine gesalzene Erhöhung der Tabaksteuern beschlossen. Angeblich aus Gründen des Gesundheitsschutzes, in Wirklichkeit natürlich aus nackten finanzpolitischen Gründen. Ab kommendem Jahr wird das Päckchen Zigaretten stolze 5,50 Euro kosten. Die Händler befürchten einen Kundenverlust und damit Umsatzeinbußen, auch wenn sie "zum Ausgleich" nunmehr 8 Prozent statt vorher 6 Prozent des Ladenpreises sollen behalten können. 

Unter dem Eindruck der Proteste hat die Regierung eine leichte Verschiebung in Kauf genommen. Jetzt soll die nächste Stufe der Preiserhöhung (ein Anstieg um 20 Prozent war ab dem 1. Januar 2004 geplant) nunmehr in zwei Etappen durchgeführt wird. Ab Juli nächsten Jahres wird die Erhöhung dann aber in vollem Umfang in Kraft treten.

Zu befürchten ist angesichts der kollektiven Traditionen dieses Berufsstands freilich weniger, dass seine Angehörigen rechts oder rechtsextremen stimmen: Das dürften drei Viertel von ihnen ohnehin tun. Zu fürchten ist hingegen eher die Multiplikatorenfunktion über ihre eigene soziale Kategorie hinaus, vor allem in desorientierte Teile der Unterschichten (die sich besonders lange an ihrem Tresen aufhalten...) hinein, die sie ausüben könnten.

Fotos von der "Tabak-Demo"

Die Foto wurden uns von B. Schmid zur Verfügung gestellt.

Agitation des Front National

Der neofaschistische Front National (FN) hat vor diesem Hintergrund eine doch recht geschickte Politik betrieben. Bereits im Oktober 03 schickte er einen vierseitigen Brief an alle 34.000 zugelassenen Tabakhändler in Frankreich, nachdem er sich angeblich die Kartei der beruflichen Adressen besorgten konnte. Darin verband er die Interessenpolitik ­ die Ablehnung der Steuern ­ mit weiter gehenden politischen Zusammenhängen.

Denn die Affäre der Tabaksteuern werfe einerseits die Frage nach der Wiedereinführung von Grenzkontrollen innerhalb der EU, die sträflicherweise abgeschafft worden seien, und dem Ende der "in alle Himmelsrichtungen offenen Nation" auf ­ da der Zigarettenschmuggel nun sprunghaft zunehmen werde (was die Händler in den Grenzgebieten tatsächlich um ihre wirtschaftliche Existenz bangen lässt). Andererseits sei auch die Zunahme von Überfällen auf und Einbrüchen in Tabakläden zu befürchten, wenn der Zigarettenpreis unerschwinglich hoch liege. Daher stelle sich die Frage nach mehr Polizei und "Innerer Sicherheit". Dieser Befürchtung ist die Regierung auch bereits entgegen gekommen: Der umtriebige Innenminister Nicolas Sarkozy legte einen Plan für polizeilichen Schutz der Tabakläden vor. Damit hat er zwar einerseits versucht, der sich ausbreitenden Angst die Spitze zu nehmen, andererseits aber ihr eine reale Grundlage zuerkannt.

Die Slogans bezüglich des Schmuggels, der "Ganoven" und der Sicherheitsprobleme waren tatsächlich in der Demonstration vom 24. November stark und sichtbar präsent. Eine offene politische Präsenz, sei es des Front National oder anderer politischer Kräfte (bei den letzten vergleichbaren Demos am 20. Oktober hatte der FN teilweise sichtbar Präsenz gezeigt) war hingegen dieses Mal ausdrücklich unerwünscht. Neben dem Front National hatte hingegen auch die christdemokratisch-liberale und pro-europäische UDF, die derzeit in "halber Opposition" zum Regierung der bürgerlichen UMP steht und sich zu profilieren sucht, vorab ihre Unterstützung für die Mobilisierungen erklärt. Vielleicht ist es auf den Einfluss der UDF zurückzuführen, dass es an einigen Stellen auch eher pro-europäische Parolen gab. Denn forderten die einen tendenziell (implizit) ein Dichtmachen der Grenzen gegenüber der "deloyalen Konkurrenz", sprachen sich andere Teilnehmer dagegen für eine europaweite Angleichung der Tabaksteuern aus. Dadurch würde sich das Problem sicherlich auch angehen lassen.

Jean-Marie Le Pen reibt sich seinerseits bereits die Hände und erklärt in der neuesten Ausgabe der rechtsextremen Wochenzeitung Minute (vom 26. November), ein Millionenpublikum erschließe sich der extremen Rechten: Die Raucher und daneben die Autofahrer, aufgrund der jüngsten Steuererhöhungen auf Diesel-Kraftstoff.

Tatsächlich sind solche Erhöhungen der Verbrauchssteuern unpopulär und zudem sozial ungerecht, da die indirekten Steuern nicht proportional am Einkommen ausgerichtet sind. Die extreme Rechte wirft dabei nicht die Frage des sozialen Klasseninteresses auf (man könnte ja auch Lohnerhöhungen fordern und dafür einen rational organisierten, sozialen Kampf führen!), sondern zäumt das Pferd auf populistische Weise von hinten her auf, nämlich vom Verbraucherinteresse her. "Der Verbraucher" aber ist, im Gegensatz zum Lohnabhängigen, keine soziale Kategorie mit halbwegs fest umrissenen Interessen, sondern Teil einer amorphen "Masse", deren Unzufriedenheits- und Neidgefühle sich in fast beliebige Richtung drehen lassen.

Mit Erfolg kann der FN hier freilich auch nur dann an diesem Punkt ansetzen, wenn er verschweigt, was er selbst im Parteiprogramm stehen hat, das dezidiert auf Anti-Steuer-Demagogie aufbaut: Die restlose Abschaffung der (am Verdienstniveau orientierten) Einkommenssteuer und zugleich die radikale Erhöhung der besonders unsozialen Mehrwertsteuer. In Schriften Jean-Marie Le Pens ist von ihrer Verdopplung die Rede, das würde eine Erhöhung auf über 40 Prozent bedeuten, ein extrem schwerer Hammer gerade für die Geringverdiener. Aber welcher rechtsextreme Wähler studiert schon genau die Programme?

Das Phänomen kleinbürgerlichen Protestes, das die extreme Rechte auf diese Weise anzufachen versucht, ist in Frankreich nicht neu und hört auf einen besonderen Namen: Den des "Poujadismus". Unter der Führung des Ladenbesitzers Pierre Poujade hatten zwischen 1953 und 1956 zahlreiche kleine Geschäftsleute, Händler oder mittelständische Unternehmer eine Anti-Steuer-Protestbewegung begründet, die sich auch gegen bestimmte Erscheinungen der wirtschaftlichen Modernisierung (und der damit einhergehenden Kapitalkonzentration) wandte. Die damalige kleinbürgerliche Protestbewegung trug auch teilweise offene antisemitische Züge, die bei den derzeitigen Unmutsbekundungen nicht zu erkennen sind.

1956 zog die "Union zur Verteidigung der Geschäftsleute und Handwerker" (UDCA) der Poujadisten als neu aufsteigende Kraft mit rund 12 Prozent der Stimmen in das französische Parlament ein. Auf ihrer Liste wurde auch der damalige jüngste Abgeordnete der Nationalversammmlung gewählt, ein gewisser Jean-Marie Le Pen. Allerdings zeigte die "Bewegung" keinerlei Konsistenz, zumal sie zwischen einem im Grunde anti-politischen und anti-parlamentarischen Flügel (der um jeden Preis von den Niederungen der Politik "rein" bleiben wollte) und einer tendenziell rechtsextremen Strömung hin- und hergerissen war. 1958 sog der erneut aufstrebende Gaullismus fast das gesamte Potenzial der "Poujadisten" auf, deren Strukturen alsbald in Vergessenheit gerieten und zerfielen. Als "poujadistisch" werden heute noch in Frankreich alle möglichen populistischen, demagogischen Bewegungen (oder solche, denen man einen ähnlichen Charakter unterstellt) bezeichnet.

Le Pen fand sich damals rasch ein neues Betätigungsfeld, auf dem ultrarechten Flügel der Pro-Kolonial-Lobby und in der Verteidigung der französischen Präsenz in Algerien, wo der Krieg tobte. Aber vielleicht erinnert er sich noch an einige Rezepte von damals. Die Gesellschaftsstruktur hat sich freilich seit den 50er Jahren, in denen Landwirte und traditionelle Mittelschichten noch einen starken Anteil an der französischen Gesamtbevölkerung stellten, deutlich verändert, so dass die Voraussetzungen dafür nicht dieselben geblieben sind.`

Umdrehen von Begriffen: "Die soziale Unsicherheit"

Auch ansonsten zeigt die extreme Rechte sich sehr geschickt beim Aufgreifen von sozialen Interessen und von Begriffen, die umgebogen und in ihren Diskurs eingepasst werden. Wichtigstes Beispiel ist das neue Leitmotto der rechtsextremen Kampagne für die Regionalparlamentswahlen im kommenden März: L¹insécurité sociale.

Dieser Begriff der "sozialen Unsicherheit" wurde in den letzten beiden Jahren vor allem durch die Linke und Antifaschisten benutzt. Und zwar als Gegenargument zum Konzept von "Unsicherheit" im polizeilichen Sinne, das vor anderthalb Jahren den Präsidentschafts-Wahlkampf fast aller etablierten Parteien und des FN dominierte. Dieses "Unsicherheitsgefühl" sei nur eine Chiffre für die verbreitete Zukunftsangst, wurde betont, die aber in Wirklichkeit soziale und ökonomische Ursachen habe. Dadurch wurde versucht, die Debatte zu rationalisieren.

Genau das Gegenteil bezweckt jetzt die extreme Rechte. In ihrer Wahlkampfstrategie, die offiziell am 7. Dezember beschlossen wird, soll die "soziale Unsicherheit" im Mittelpunkt stehen. Präsentiert wird sie aber nicht als Gegenmodell zur "Unsicherheit" im herkömmlichen Sinne, sondern als Facette einer Gesamterscheinung, zu der die Furcht vor Straftaten ebenso gehöre wie die wirtschaftliche Verunsicherung und die Krise der Sozialsysteme. Alles seien nur Symptome einer um sich greifenden "Unsicherheit", die aus der Zerstörung der Grenze, der Nationen und traditioneller Hierarchien resultiere.

Auch bürgerliche Politiker erkennen die mögliche Effizienz dieser demagogischen Strategie an. in einem Teil des Publikums an, so ein (nicht namentlich genanntes) Führungsmitglied der konservativen Regierungspartei UMP gegenüber "Libération" (13. Oktober): "Wir sind von einem Gefühl der physischen Unsicherheit zu einem noch mächtigeren Gefühl übergegangen, jenem der wirtschaftlichen und sozialen Unsicherheit. Und demgegenüber sind wir völlig machtlos." Vor allem, so wäre man versucht hinzuzufügen, wenn man durch die Handlungen der eigenen Regierung tagtäglich daran arbeitet, die reale, materielle Unsicherheit auf sozialem Gebiet noch zu verstärken.

Le Pen, Vater und Tochter

Vielleicht wird es der letzte Wahlkampf von Jean-Marie Le Pen. Der mittlerweile 75-jährige bewirbt sich um die Präsidentschaft der Region PACA (Provence-Alpes-Côte d¹Azur). Der Präsidentenstuhl steht in Marseille, doch Le Pen tritt als Direktkandidat im besonders reaktionären Nizza an.

Seine Vision für die Region ist die eines "französischen Kalifornien". Konkret predigt er eine Erschließung des Hinterlands durch schwer bewachte Villen und Siedlungen für reiche Rentner, die als eine Art golden ghettos implantiert würden. Mit provençalischen Traditionen, auf die er sich beruft, hat das freilich nichts zu tun.

Dass Jean-Marie Le Pen angesichts seines Alters ein politisches Auslaufmodell ist, zeigte freilich seine jüngste Fernsehdebatte (am 20. November) mit Innenminister Sarkozy. Er schaffte es, den FN-Chef als gealtert und unsouverän erscheinen zu lassen.

Doch Ersatz steht bereit. Die jüngste Tochter des Parteigründers, Marine Le Pen, wird nicht nur zur wahrscheinlichen Nachfolgerin des Herrn Papa an der Parteispitze aufgebaut. Die 35jährige ehemalige Anwältin tritt jetzt auch als Spitzenkandidatin für die Präsidentschaft der Region Ile-de-France (des Großraums Paris) an.

Und sie knüpft für die Zukunft auch eifrig internationale Kontakte. Anfang Oktober traf sie in einem Hotel in der Normandie Vertreter de belgischen Vlaams Blok. Zwei Wochen später weilte sie in Washington D.C. und New York, auf Einladung des Women Republican Club of New York ­ einer Frauenvereinigung der Republikanischen Partei der USA, vor der sie eine Rede halten durfte. Ob es dabei um's Rauchen ging, ist nicht bekannt.

Auch auf symbolischer Ebene ist Marine Le Pen darum bemüht, weltoffen, modern und dynamisch zu wirken. Das traditionelle Parteisymbol des FN ist eine Flamme in den drei Nationalfarben, die dereinst vom italienischen MSI übernommen wurde, bei dem sie die aus dem Sarg aufsteigende Seele Benito Mussolinis verkörperte. Für ihre Zwecke hat die rechtsextreme Aufsteigerin das Emblem jetzt in eine Art adrett wirkenden, olympischen Symbols umgewandelt.  ANM.1: Im zweiten Teil wird es um die französische Linke und (vor allem) radikale Linke vor den Regionalparlaments- und Europaparlamentswahlen im kommenden Jahr gehen. 

Editorische Anmerkungen

Der Artikel wurde uns vom Autor  in der vorliegenden Fassung am 1.12.2003 zur Veröffentlichung überlassen.