Hartz, Rürup, Gesundheitsreform, agenda 2010
Dem Staat wird das Volk zu teuer!

Flyer von der Gruppe W8 

12/03    trend onlinezeitung

Briefe oder Artikel info@trend.partisan.net ODER per Snail: trend c/o Anti-Quariat 610610 Postfach 10937 Berlin
Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger! 

Das Lachen ist Dr. Peter Hartz inzwischen vergangen, sagt er jedenfalls. Ob er sich dabei nur den Arbeitslosen ange-schlossen hat, die auf Grundlage der Vorschläge seiner Kommission zur Reform der Bundesanstalt für Arbeit drang-saliert und willenlich verarmt werden? Wohl kaum. Die Umsetzungen gehen ihm noch gar nicht weit genug. Wir möchten im Folgenden aufzeigen, worin die Logik der von den Kommissionen (Hartz, Rürup usw.) vorgeschlagenen Maß-nahmen liegt, wie diese mit dem "notwendigen Umbau des Sozialstaats" zusammenhängen und was davon zu halten ist, wenn einem immer wieder gesagt wird, dass es a) "nicht anders geht" und b) "uns allen zugute kommt".

Es gibt keine Lohnnebenkosten! 

In der Diskussion um die Lohnnebenkosten wird der Eindruck erweckt, als wäre der Arbeitgeberanteil eine Leistung, die zusätzlich zum Lohn erbracht wird. Lohn ist richtigerweise zu definieren als die Summe Geld, die dem Arbeitnehmer vom Arbeitgeber gezahlt wird, damit dieser seine Arbeitsfähigkeit erhalten kann. Die Lohnsumme muss somit über das normale Arbeitnehmerdasein hinaus auch für die Zeiten reichen, in denen der Arbeitnehmer nicht arbeiten kann (Arbeitslosigkeit, Krankheit und Alter). Die so genannten Lohnnebenkosten sind ihrer ökonomischen Natur nichts anderes als - Lohn! 

Was stattfindet ist Lohnsenkung! 

Das ökonomische Interesse des Arbeitgebers ist es, die Lohnsumme so gering wie möglich zu halten, sei es durch Senkung der staatlich verfügten Lohnnebenkosten oder durch Senkung der Lohnkosten. Für jeden Arbeitnehmer sollte klar sein, dass auch die Lohnnebenkosten zu seinem Lohn gehören und eine Senkung der Lohnnebenkosten eine Lohnsenkung ist, auch wenn er kurzfristig ein höheres Nettoeinkommen erhielte. Spätestens aber, wenn er bei seinem nächsten Krankheitsfall in den ersten Tagen keinen Cent mehr erhält und für den Arztbesuch 10 Euro berappen muss, wird er merken, dass seine Lohnsumme gesunken ist!

Das Kapital entlässt, verdient und jammert immer mehr! 

Richtig ist, dass die als Lohnnebenkosten bezeichneten Beiträge zur Arbeitslosen-, Kranken- und Rentenversicherung in den letzten 20 Jahren von 32 auf 42 % gestiegen sind. Hauptursache dafür ist, dass die Arbeitsabläufe permanent effektiviert wurden und dies einen massiven Stellenabbau nach sich zog. 

  • Für die Arbeitslosenversicherung bedeutet dies, dass der steigenden Anzahl von Anspruchsberechtigten immer weniger Beitragszahler gegenüber stehen.
  • Für die Krankenversicherung ergeben sich zu den geringeren Einnahmen zusätzlich höhere Ausgaben u.a. dadurch, dass zunehmender Arbeitsdruck zu häufigeren Krankheiten führt.
  • Für die Rentenversicherung wirken sich der gesunkene Beschäftigungsstand und die Frühverrentungen auf der Einnahmen- und Ausgabenseite aus. Wenn nun die hohen Lohnnebenkosten als ein Grund für die aktuelle Krise genannt werden, liegt eine Verdrehung der Tatsachen vor: Sie sind die Folge einer in den vergangenen 15 Jahren sehr erfolgreich gewesenen Wirtschafts-tätigkeit. Mit Ausnahme des Jahres 1993 (- 1,1 %) ist das Bruttoinlands-produkt stetig gestiegen, und Deutschland hat seinen Status als Export-weltmeister untermauert. Die dafür erforderlichen Rationalisierungsmaß-nahmen haben zur Massenarbeitsosigkeit und damit zu einer Erhöhung der Lohnnebenkosten geführt. Übersehen wird dabei gerne, dass der Anteil an Personalkosten am Produkt, zumindest im produzierenden Gewerbe, noch nie so niedrig war wie heute. 

Trotz der guten Gewinne dürfen Vertreter der Unternehmensverbände nahezu täglich in der "tagesschau" ihr Klagelied über zu hohe Löhne, zu geringe Flexibilität und Mobilität, über die Existenz des Kündigungsschutzes und der Gewerkschaften singen. Und die Politiker? Stimmen in das Klagelied der Unternehmer mit ein. Wenn jedoch jemand Grund zum Jammern hätte, dann wären das die Opfer des Wachstums, diejenigen, die noch einen Arbeitsplatz haben und nun für zwei schuften müssen, die wachsende Klasse der "working poor", die inzwischen knapp fünf Mio. Arbeitslosen und die ca. drei Mio. Sozialhilfeempfänger.

Das Kapital entlässt, verdient und jammert immer mehr! 

Früher gab es mal die Auffassung, dass das Elend, das eine kapitalistisch verfasste Ökonomie notwendigerweise hervorbringt, kein Grund sei, sie aufzugeben, sofern man nur durch einen gerechten, sozialverträglichen Ausgleich dafür sorgt, dass niemand allzusehr unter die Räder gerät - "soziale Marktwirtschaft" hieß das. Diese Sichtweise ist komplett aus der Mode gekommen. Umgekehrt werden nun Staat und Kapital als eigentliche Opfer einer fortschreitenden Verelendung genannt! Selbstverständlichkeiten wie Gesundheitsversorgung und Alterssicherung gelten als unbezahlbar, der Anteil am Bundeshaushalt für Schuldentilgung und Sozialausgaben von 62% ist "einfach zu viel..." (Schröder) und die "hohen Kosten für den Faktor Arbeit" können den Unternehmern einfach nicht zugemutet werden. Deshalb beschließt die Regierung, sämtliche "Wachstumshemmnisse" abzubauen, den "Reformstau in Deutschland" endlich zu lösen, und nach dem Einberufen von verschiedenen Expertenkomissionen eine komplette Neugestaltung des Sozialgesetzbuches anzuzetteln.

Es ist schon absurd: Wenn die Senkung des durchschnittlichen Lebensstandards das Ergebnis von 15 Jahren Wachstum und des erfolgreichen Bedienens der Geschäftsinteressen der Unternehmer ist, dann ist das für den Staat überhaupt kein Grund innezuhalten, um sich zu fragen, ob man sich das mit der Marktwirtschaft evtl. noch einmal überlegen sollte. Nein, umgekehrt, agitiert und engagiert er sich umso stärker für Wachstum und geht desto entschiedener gegen "Besitzstandsdenken" bei der Bevölkerung vor.

Diese offene Parteilichkeit für die Wirtschaft und gegen den sozialen Versorgungsstandpunkt hat eine Auflehnung der von den beschlossenen Maßnahmen betroffenen Menschen nicht zu befürchten. Zu oft wurde uns erzählt, dass es der Wirtschaft gut gehen muss, weil wir alle davon abhängen. Mit den Entscheidungen, die günstige Bedingungen dafür schaffen sollen, dass der Konjunkturmotor wieder anspringt, machen die Verantwortlichen deutlich: Das Gewinninteresse der Geschäftswelt soll von nun an das allein gültige sein. Der Sozialstaat wird abgeschafft!

Warum glaubt ihr, dass es euch besser geht, wenn es der Wirtschaft besser geht? 
Das Wohlergehen der Wirtschaft gilt als unabdingbar. Ohne Wirtschaftswachstum, da sind sich alle einig, geht gar nichts. Was denn aber überhaupt mit ihm geht, ist eine Frage, die weit weniger häufig diskutiert wird. Der Nachweis, dass es außer der Geschäftswelt und dem Staat, der von der Vermehrung des Privateigentums profitiert, weitere Nutznießer von Wachstum gäbe, wird nicht geführt; der Verweis auf die Abhängigkeit von der Wirtschaft reicht da aus. Uns jedoch nicht. Aus dem Erfahrungsschatz der Volkswirtschaftslehre ist bekannt, dass es in entwickelten Industrie- und Dienstleistungsnationen eines Wachstums von mindestens 3 % bedarf, um die Arbeitslosigkeit nennenswert senken zu können. Dass man dies erreichen könnte, wird zwar auch von Experten als unrealistisch angesehen, aber selbst wenn die Reformagenda dies bewerkstelligen würde, so bleibt doch zu fragen, wer das zu welchem Preis bezahlt! Denn beschlossen wird zunächst nichts weiter als eine Senkung des allgemeinen Lebensstandards. Und die Arbeitgeber, die zweifelsohne von den Reformen profitieren werden, haben kein originäres Interesse daran, sozialen Wohlstand oder Arbeitsplätze zu schaffen; sie kümmern sich um die Rentabilität ihres Betriebes, mehr nicht. Daher ist es abwegig, dass es einem erst schlechter gehen muss, damit es uns irgendwann einmal wieder besser gehen kann. Wenn ihr den Gürtel enger schnallt, werden die Bäuche der Unternehmer und Aktionäre - nicht eure - dicker! 

Was nun? 

Auf die Barrikaden gehen? Dazu müssten überhaupt erst einmal welche errichtet werden... So wenig erhaltenswert das alte Sozialstaatssystem auch gewesen sein mag, gilt es, sich gegen die aktuelle Politik zu wehren, die systematisch bei den Schwächsten der Gesellschaft ansetzt! Ob dabei allerdings Unterschriftenaktionen an diejenigen nützlich sind, die sich diese Maßnahmen ausdenken, bezweifeln wir. Wie wäre es, den Gedanken der Dekonstruktion der sozialen Marktwirtschaft konsequent zu Ende zu denken: Wenn schon der Sozialstaat abgeschafft wird, warum nicht auch gleich die Marktwirtschaft? In der Logik des Kapitalismus ist vieles ersetzbar, alles muss sich erneuern und flexibel bleiben. Es wäre doch direkt einmal eine Aufgabe für Freigeister, dieses System selbst als austauschbar zu denken. Ihr habt es nicht in der Hand? Dann nehmt es in eure Hände, anstatt immer wieder Stellvertreter zu wählen, deren Anliegen andere sind als eure. 

Editorische Anmerkungen

Der Flyer wurde uns von der Gruppe W8 mit der Bitte um Veröffentlichung zugesandt. Als ausdruckbare  bebilderte Version gibt es den Flyer unter: www.contradictio.de/w8-hartz.pdf 

Kontakt zur Gruppe W8
Mail: argumente@web.de 
Web: http://www.contradictio.de