Die 'Banlieue'-Problematik:
Die französischen Trabantenstädte oder Die Ethnisierung des Sozialen


Von Bernhard Schmid (Paris)
12/04
 
 
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Man nehme ein Hochhaus- oder "Problemviertel" einer deutschen Großstadt wie Köln-Chorweiler oder das Märkische Viertel in Berlin. Man vergrößere es um das Hundertfache und projiziere es auf eine Fläche ein wenig größer als das Saarland, wobei man noch einige historische Stadtkerne sowie eine Anzahl von Reihenhaussiedlungen und einige inselartig versprengte Villenviertel dazwischenstreut. Auf diese Weise erhält man ein ungefähres Abbild von der Pariser Banlieue (Vorstadt- oder Trabantenstadtzone), die sich zusammen mit den angrenzenden urbanen Randzonen über immerhin sieben Départements (Bezirke) rund um Paris herum erstreckt. Andere Großstädte wie etwa Lyon kennen ähnliche Phänomene der Herausbildung einer Vorstadtzone wie Paris - während in Marseille vergleichbare Quartiere eher innerhalb der Stadt, in den Marseiller Nordbezirken, entstanden sind.  

Der Name kommt von dem altfranzösischen Ausdruck für "Bannmeile" (le ban = der Bann, und la lieue = die Meile), der im 17. Jahrhundert entstanden ist. Er bezeichnete zunächst im damaligen feudal-monarchischen System jene Zone rund um eine Stadt, über welche die Stadtherren eine eigene Herrschaftsgewalt geltend machen konnten. Die Siedlungen in diesen Banlieues wuchsen mit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert und den sukzessiven Einwanderungswellen bis weit in¹s 20. Jahrhundert hinein fast kontinuierlich an. Das hängt auch damit zusammen, dass sich noch bis nach dem Zweiten Weltkrieg die Industrialisierung in Frankreich auf nur wenige Kernregionen (das Kohlerevier nahe der belgischen Grenze, die Großräume von Paris und Lyon, das Einzugsgebiet von Marseille) konzentrierte.  

Das hatte gesellschaftspolitische Hintergründe: Aus Angst vor Arbeiterbewegung und sozialistischer Revolution, die der städtische Bourgeoisie spätestens seit der Commune de Paris (1871) in den Knochen steckte, war diese bestrebt, in weiten Teilen des Landes ländlich-konservative Sozialbeziehungen aufrecht zu erhalten, um auf ein politisch "ruhiges Hinterland" bauen zu können. Im Gegenzug begannen die Arbeitervorstädte der industrialisierten Großstädte auszuufern, während rechte Vordenker (wie der präfaschistische Schriftsteller Maurice Barrès im späten 19. Jahrhundert) vor der "destabilisirend wirkenden Gefahr für die Nation" warnten, die in ihrer Augen von dieser hohen Arbeiterkonzentration ausging. Im benachbarten Belgien, jedenfalls im flämischen Teil, ging man den umgekehrten Weg und versuchte, dem sozialen Konservativismus zu dienen, indem man die Arbeiterschaft über möglichst kleine und auseinander verteilte städtische Kerne zersteute. Anders verlief die Entwicklung in den französischen Ballungszentren. Doch ihr lange Zeit hindurch zügelloses Wachstum hat sich seit dem Ende der innerfranzösischen Landflucht in den 70er Jahren verlangsamt.  

Banlieues und "soziale Frage"  

In diesen "vorstädtischen" Raum hinein wurden in den vergangenen Jahrzehnten alle BewohnerInnen abgeschoben, die in der Hauptstadt selbst keinen bezahlbaren Wohnraum fanden. Insbesondere während der Amtszeit von Jacques Chirac als Bürgermeister von Paris (1977 bis 1995) wurden ganze Bevölkerungsgruppen systematisch ­ durch Stadterneuerungs-, Sanierungs- und Mietpolitik ­ in die Pariser Trabantenstadtzone abgedrängt. Das ist die Hauptursache für das Ausufern der Agglomeration rund um die Hauptstadt.  

Auch die französische Kommunistische Partei, der pro-sowjetische PCF (le Parti communiste français), trägt daneben einen bestimmten Teil an Mitverantwortung: Da der PCF bis mindestens in die Achtziger Jahre hinein in den meisten Banlieue-Rathäusern rund um Paris regierte (man sprach damals noch von der ceinture rouge, dem "roten Gürtel"), hatte auch er ein Interesse daran, die ärmeren Bevölkerungsschichten in "seinen" Vorstädten konzentriert zu sehen, um die soziale und politische Kontrolle über sie zu behaupten. So zeigten sich die PCF-Kommunen mit dem durch die Regionalplaner programmierten Bau von Hochhaussiedlungen, die unter anderem diese aus der Hauptstadt verdrängten Bevölkerungsgruppen aufnehmen sollten, auf ihrem Gebiet einverstanden. Ihr Anteil an dem Gesamtprozess ist wesentlich geringer als jener der bürgerlichen Regierungsmehrheiten in der Hauptstadt und auf Ebene des Zentralstaats, doch kann man von einer zeitweisen "Komplizenschaft" sprechen, bei welcher die Interessen beider komplementär zueinander standen. Seitdem hat jedoch der Niedergang des PCF längst auch im ehemaligen "roten Gürtel" eingesetzt: Dort, wo die jungen Generationen einst durch Fabrikarbeit und -disziplin sowie Klassensolidarität sozialisiert wurden, herrscht jetzt oft ein soziales und politisches Vakuum. Hohe Arbeitslosigkeit hat die frühere Anbindung an das Fabrikleben abgelöst.  

Banlieues und Einwanderung  

Seit über einem Jahrhundert ergießen sich alle Bevölkerungsströme in Richtung der französischen "Metropole" größerenteils in diese Zone. Dort wurden im Laufe des 19. Jahrhunderts die meisten verschmutzenden und stinkenden Industrien angesiedelt. Zunächst kamen die Lothringer, die aus dem 1871 vom deutschen Reich annektierten Gebiet flohen, sowie Bretonen und Bewohner des französischen Zentralmassivs. Sie wurden zu ihrer Zeit ebenso diskriminiert wie später Einwanderer aus den Kolonien oder der so genannten Dritten Welt: Die Lothringer etwa waren für viele ihrer damaligen Zeitgenossen einfach boches (ein Schimpfwort für Deutsche).  

Es folgten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Einwanderer aus dem südeuropäischen Raum, in deren Auswanderungsmotiven sich oftmals Armutsgründe mit dem Zwang zur Flucht vor den Diktaturen Mussolinis, Francos oder Salazars mischten. Und schließlich erfolgten vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg neue Einwanderungen aus dem arabisch-nordafrikanischen Raum sowie den afrikanischen Ex-Kolonien. Jede neue Generation von Immigranten wird diskriminiert und als "nicht integrierbar" behandelt, während i.d.R. die jeweils vorangegangene dagegen als "erfolgreich assimiliert" dargestellt wird. Die Nachkommen der italienischen Einwanderer etwa unterscheidet heute zumeist nichts mehr (außer vielleicht dem Familiennamen) von den Nachfahren der ortsansässigen Franzosen, während insbesondere die aus mehrheitlich muslimischen Ländern eingewanderte Bevölkerung oftmals als gesellschaftlicher "Fremdkörper" eingestuft wird.  

Die Ethnisierung des Sozialen  

Doch heute, wo, mit dem Rückgang der traditionellen fordistischen Industrien, in den Vorstädten statt rauchender Schlote oftmals eher Desindustrialisierung und hohe Arbeitslosigkeit dominieren, sind die Banlieues zum Brennpunkt der sozialen Probleme des Landes geworden. Die Kombination von hohem Immigrantenanteil, Gheottisierungstendenzen, sozialer Perspektivlosigkeit und oft auch menschenfeindlicher Architektur wird vor diesem Hintergrund zum explosiven Cocktail, der Tendenzen zur rassistischen Segregation, zu Konflikten zwischen Bevölkerungsgruppen sowie eine oftmals ziellos sich Bahn brechende Gewalt nährt.  

Diese Problemmischung lässt alle gesellschaftlichen Phänomene leicht in einem "ethnisch"-kulturalistischen Zerrspiegel erscheinen, der aus ihnen vermeintlich "interkulturelle" Schwierigkeiten oder "Integrationsprobleme bestimmter Bevölkerungsgruppen" macht. Auf diese Weise werden die realen Probleme von einer sozioökonomischen und politischen, also materieller Veränderung zugänglichen, auf eine ideologisch-kulturelle Erscheinungsebene gehoben.  

Wer heute etwa "Bildungswesen in Problemvierteln" sagt, spricht von Schulen mit unzureichender Mittelausstattung, überfüllten Klassen und einer hohen Misserfolgsquote - hat aber oft das vor allem in den 90er Jahren von den Medien beständig wiedergekäute, einprägsame Bild von "44 Nationalitäten in einer Jahrgangsstufe" im Kopf. (Es geht jedoch auch Gegentendenzen: Die kämpferischen Lehrerstreiks im unmittelbar nördlich an Paris angrenzenden Département Seine-Saint Denis im März 1998 und, als Auslöser für den landesweiten Streik der Lehrerschaft, während des gesamten Frühjahrs 2003 etwa haben aus der Bidlungspolitik in den sozial benachteiligten Vorstädten wieder eine soziale und ökonomische Frage gemacht.) Wer von den jeunes de banlieue spricht, den Jugendlichen der Trabantenstädte ­ der Begriff ist durch die Medienberichterstattung zum Symbol für "Randalierer" geworden, weil er fast immer im Zusammenhang mit Krawallen verwendet wird -, der wird sie sich im allgemeinen mit arabischen Vornamen und krausem Haar ausmalen. Aber auch in obligatorischer Sportkleidung und mit oft verkehrt herum ­ das Schild nach hinten ­ aufgesetzten Sportmützen. Denn in ihrem Auftreten sind diese Jugendlichen keineswegs "exotisch": Adidas und Nike stehen ihnen weitaus näher als traditionelle Kleidung wie die algerische Gandoura.  

Legenden und Wirklichkeit  

Dabei muss einer Legendenbildung entgegen getreten werden: Es gibt in den französischen Banlieue zwar gewisse Ghettosierungstendenzen ­ aber keine "ethnisch" strukturierten oder gar "ethnisch reinen" Zonen. Anders als beispielsweise in bestimmten Vierteln vieler US-Großstädte leben selten vorwiegend oder nur Menschen einer gemeinsamen nationalen oder "ethnischen" Herkunft auf einem Raum. Frankreichs Trabantenstädte unterscheiden sich schon deswegen, und auch wegen einer doch wesentlich geringeren Präsenz von Gewalt (es gibt Bandenkriege, Schlägereien und Kriminalität, es gibt eine Faszination für Kampfhunde, aber Schusswaffen kommen dagegen nur ausnahmsweise zum Einsatz) von nordamerikanischen "Ghettos".  

In den französischen Trabantenstädten ist die Segregration vor allem sozialer Natur: Es leben nicht systematisch "die Araber" oder "die Schwarzen" in einem Segment der Banlieue zusammen, sondern es leben durchgängig Menschen mit gleichermaßen niedrigem Einkommen oder vergleichbaren Schwierigkeiten, woanders eine Wohnung zu bekommen, nahe beieinander. Allerdings haben viele Bewohner der Trabantenstädte oftmals selbst einen anderen Eindruck von der Wirklichkeit. Das hängt damit zusammen, dass Banlieue-Bewohner unterschiedlicher Herkunft oft ein anderes Verhältnis zum öffentlichen Raum haben: Aus mediterranen oder afrikanischen Ländern sind es traditionell eher gewohnt, einen großen Teil ihrer Zeit "draußen", außerhalb der eigenen vier Wände, zu verbringen ­ und sei es auf Straßen und Plätzen. Da zumindest in der ersten Einwanderergeneration die Familien oft größer waren bzw. sind als unter gebürtigen Franzosen üblich, trägt das Platzproblem in den Wohnungen seinerseits zur Aufrechterhaltung solcher Verhaltensweisen bei. Bei vielen "weißen" BewohnerInnen der Banlieues, vor allem älteren oder durch die Kriminalitätsberichte verängstigten, erwächst daraus der Eindruck, nunmehr gegenüber Arabern und Schwarzen "in der Minderheit" zu sein, obwohl das rein zahlenmäßig in vielen Fällen gar nicht stimmt. Denn die "Europäer" halten sich einfach für einen deutlich größeren Teil der Zeit in ihren Wohnungen auf.  

Sofern tatsächliche Straftaten oder (häufiger und stärker noch) die durch die Medien und andere Einflüsse erzeugte, subjektive Kriminalitätsangst nun den Eindruck noch bestärken, "fehl am Platz" oder gar "in Gefahr" zu sein, kommt es zu Abwanderungstendenzen vor allem bei den "weißen" Bewohnern. Ihnen schließt sich oft mittelfristig eine migrantische Mittelschicht an, die nicht dem Risiko einer "Stigmatisierung" durch Verweilen in den verrufenen Zonen der Banlieue ausgesetzt sehen will. Wer es sich leisten kann und Chancen hat, woanders eine Wohnung zu erhalten, möchte fortgehen. Dadurch kommt es zu einer Tendenz zur sozialen, und indirekt auch "ethnischen", Entmischung und über diese vermittelt zu einer Abwärtsspirale für die betroffenen Vorstädte oder Stadtteile (Hochhaussiedlungen etwa). Und die an solche "absteigenden" Quartiere angrenzenden Wohnviertel, vor allem wenn es sich etwa um ­ relativ "ruhige" ­ Reihenhausviertel handelt, regieren entsprechend mit Ablehnung und Angst. Dort hat auch die französische extreme Rechte ihre höchsten Wähleranteile: nicht in den besonders verrufenen Hochhaus-, sondern in den mittelbar oder unmittelbar an diese angrenzenden Siedlungen.  

Manche Leute nehmen diese Entwicklung mittels der Vision einer "arabischen Invasion" wahr, wobei diese Vorstellung bereits wieder dadurch überholt ist, dass die aus dem Maghreb stammenden Immigranten mittlerweile selbst von den Wegzugs-Tendenzen betroffen sind. Ihre Zahl in den "verrufenen" Trabantenstädten nimmt tendenziell eher leicht ab, während die jüngste, sich dort verstärkt ansiedelnde Bevölkerungsgruppe aus Immigranten aus Westafrika (Senegal, Mali) besteht. In Wirklichkeit gibt es jedoch natürlich keinen "Überflutungs"- (die Zahl der Immigranten in Frankreich ist seit Mitte der 70er Jahre im Wesentlichen stabil), sondern einen "Entmischungs"prozess.  

Ethnisierung und Selbstethnisierung  

Die essentialistischen, ethnisierenden Projektionen auf die Banlieues und ihre Bewohner sind wirkungsmächtig. Neueren Datums sind Tendenzen zur Selbstidentifikation mit angeblichen natürlichen bzw. angestammten "Identitäten", etwa einer nationalen Herkunft oder einer Religion, denen ein Teil der (jungen) Bewohner der Trabantenstädte unterliegt.  

So gibt es den Diskurs über die angeblichen "islamischen" Banlieues zwar schon länger - spätestens seitdem die französische bürgerliche Politik die Warnung vor der "islamischen Bedrohung des Westens" mit den Geschehnissen im Iran nach 1979, wo der Ayatollah Khomenei seine Diktatur errichtete, entdeckte. (Diese Warnung fiel in Frankreich umso stärker aus, als Paris damals außenpolitisch eng mit dem Krieg führenden Irak, der den Iran im September 1980 überfiel, verbündet war. Waffenlieferungen an diesen wurden kaum verhüllt, sondern sehr offen damit gerechtfertigt, das irakische Regime sei angeblich das Bollwerk der Zivilisation im Kampf gegen die islamistisch-fundamentalistische Bedrohung.) Anfänglich war dies eine reine Projektionsleistung: Die Jugend der Trabantenstädte identifizierte sich keineswegs mit spezifisch "islamischen" Zielen, sondern forderte überwiegend schlicht gleiche Rechte wie ihre französischen Altersgenossen. So kam es 1983 zum ersten spektakulären Ausdruck dafür, dass politische Bewegung in die Immigrantenjugend gekommen war, die sich "nicht mehr wie unsere Eltern, die ohnehin an die Rückkehr in¹s Herkunftland dachten, in Frankreich alles gefallen lassen" wollte. Es handelte sich um den "Marsch für die Gleichheit" (la marche pour l¹égalité), einen Fußmarsch über 2.000 Kilometer, der von Marseille über mehrere französische Städte bis nach Paris führte. Bei ihrer Ankunft in Paris wurden die Marschierer von 100.000 Menschen empfangen. Ihre Hauptforderung war, wie bereits der Name der Aktion verriet, die Gleichheit ihrer sozialen und rechtlichen Lebensbedingungen mit den Franzosen. Differenzialistische, essenzialistische oder identitätspolitische Anliegen hatten damals keine Konjunktur.  

Das hat sich später in Teilbereichen geändert. Die zahllosen Enttäuschungen der Immigrantenjugend von einst und jetzt, vor allem auch gegenüber den (von 1981 bis 2002 mit einigen Unterbrechungen regierenden) Linksparteien als ehemaligen Hoffnungsträgern, und die zunehmende Auseinanderentwicklung der Lebensbedigungen haben zu einer gewissen Aufnahmebereitschaft für kulturalistisch-differenzialistische Strömungen geführt. Das gilt etwa für islamistische Organisationen oder Kleingruppen, die einen gewissen Zulauf erfahren, weil manche Jugendlichen glauben, es könne nur noch "Solidarität unter den eigenen Leuten, also unter Moslems" geben, während man von der französischen Gesellschaft nicht mehr viel zu erwarten habe. Diese Strömung existiert in verschiedenen Schattierungen, die von eher unpolitisch-pietistischen Formationen bis hin zu terroristischen Kleingrüppchen reichen. Zu letzteren zählen jene, die im Sommer und Herbst 1995, unter Mithilfe von bewaffneten Islamisten aus Algerien, an den Anschlägen auf französische Metro- und Vorortzüge sowie Wochenmärkte teilnahmen. (Ihr Anführer Khalid Kelkal wurde Ende September 1995 in der Nähe von Lyon, nachdem er bereits verletzt am Boden lag, durch die Polizei kahtbültig "hingerichtet". Wenige Tage später publizierte die Pariser Abendzeitung 'Le Monde', am 7. Oktober 1995, über mehrere Seiten ein Interview, das der deutsche Soziologe Dietmar Loch drei Jahre früher, 1992, mit dem Banlieuejugendlichen Khaled Kelkal geführt hatte. Danach konnte man besser verstehen, wie Kelkals Weg vom Dasein eines guten Schülers, der potenziell Zukunftschancen hatte, über Ausgrenzung und Scheitern, dann anschließende Kleinkriminalität und den Kontakt mit Islamisten im Gefängnis bis zu seinem dramatischen Ende führen konnte. 'Le Monde' übertitelte einen scharfsinnigen Kommentar zu diesem Dokument: "Khaled Kelkal, Opfer des gewöhnlichen Rassismus.") An solchen Extrem-Entwicklungen nahm und nimmt jedoch nur eine Handvoll Individuen teil. Insgesamt darf der Einfluss der islamistischen Strömungen in all ihren, gemäßigteren wie extremistischen, Varianten nicht überschätzt werden. Sie verfügen über ein paar tausend Sympathisanten, stellen aber keineswegs eine alles mitreißende Massenbewegung dar. Das von diesen Strömungen propagierte Wiederanknüpfen an eine vermeintliche Tradition (etwa in Gestalt von Kleidungs- und Ernährungsvorschriften) ist jedoch in Wirklichkeit eine reine ideologische Projektion: Die Bindung an solche Traditionen ist, durch den Zerfall der Überkommenen Familienstrukturen, längst verloren gegangen. Und die von diesen Gruppen praktizierten Lebensregeln haben meist nichts mit etwa maghrebinischen Traditionen zu tun, sondern bilden Neuerfindungen oder Importe aus der Golfregion.  

Der Eindruck, sie verfügten über nicht unbedeutenden Einfluss, rührt weniger von ihrer eigenen Stärke denn von der Schwäche der meisten anderen gesellschaftlich-politischen Strömungen in den ghettoisierten Trabantenstädten her: Überwiegend herrscht dort ein politisch-ideologisches Vakuum, nachdem die Arbeiterbewegung ihre einstige integrative Wirkung auf viele Banlieuejugendliche nicht mehr auszuüben vermag. Der gesellschaftliche Horizont für viele der jungen Bewohner der Trabantenstädten besteht im Wesentlichen im Zugang zu Markenklamotten und ­sportartikeln, also zu Konsumgütern, die einen gewissen sozialen Status in ihrer Umgebung versprechen. Die verbreitete Kleinkriminalität oder Teilnahme an der "Parallelökonomie" (Drogen usw.) erklärt sich größtenteils aus dem Widerspruch zwischen diesen in Banlieues ganz besonders verbreiteten "Wertvorstellungen" und dem Mangel an finanziellen Mitteln, um sich die entsprechenden Konsumartikel zu beschaffen. Wer den Zugang zur glitzernden Konsumwelt nicht schafft und aus der Arbeitswelt ausgegrenzt bleibt, verhilft sich dann mitunter mit risikoreichen, aber starke Emotionen verschaffenden Betätigungen wie etwa "Rodeos" genannten Rennen mit, zum kurzfristigen Gebrauch aufgebrochenen, Autos. Die oft brutalen Reaktionen der staatlichen Ordnungskräfte auf solche Verhaltensweisen erklären eine gewisse Zahl von, alle paar Monate zu verzeichnenden, Todesfällen bei Verhaftungen oder Fluchtversuchen. Solche Todesfälle von Jugendlichen der Trabantenstädten führen dann noch am ehesten zu kollektiven gesellschaftlichen Reaktionen der Bewohner, deren Wut sich dann für einige Tage gegen Sicherheitskräfte und Staatssymbole entlädt.  

Eine andere, in "Identitätssuche" wurzelnde, besonders hässliche Erscheinungsweise sind die in den Jahren seit 2000 verzeichneten Übergriffe auf jüdische Personen, die es in einigen Banlieues gegeben hat. Die dort lebenden Juden und Jüdinnen sind oft selbst, wie ihre "arabischen" Nachbarn, nach der Entkolonisierung aus Nordafrika zugewandert ­ dorther stammen etwa 60 Prozent der heute in Frankreich lebenden Juden. Ihnen liegt eine Form spontaner Identifikation mit der palästinensischen Bevölkerung zugrunde, die jedoch oft nicht mit Kenntnissen über den realen Konflikt angereichert wird. Dabei wird die eigene Erfahrung (früherer Generationen) mit der europäischen Kolonisierung mit dem israelischen Verhalten gegenüber den Palästinensern identifiziert. Jedenfalls in einigen Fällen wird diese Freund-Feind-Identifikation dann auch bedenkenlos auf das Zusammenleben der Bevölkerungsgruppen in Frankreich übertragen, und werden die französischen Juden mit für die Politik der israelischen Rechtsregierung haftbar gemacht. Ferner wird der jüdischen Bevölkerung in Frankreich vorgeworfen, sich leichter integrieren zu können und materiell besser dazustehen; allerdings leben von den aus Nordafrika eingewanderten Juden viele ihrerseits in bescheidenen oder armen Verhältnissen.  

Ein anderes Produkt dieser Rezeptionsweise des Nahostkonflikts bilden die ­ begrenzten ­ Wahlerfolge einer, mit kommunitaristischem Populismus operierenden, pro-palästinensisch auftretenden Kleinpartei bei den jüngsten Europaparlamentswahlen (vom 13. Juni 04) in einigen Pariser Trabantenstädten. Die Liste Euro-Palestine erhielt zwar nur 1,8 Prozent in der gesamten Hauptstadtregion (in anderen Regionen trat sie nicht), und blieb etwa in der Stadt Paris selbst auf dem Niveau einer Splitterpartei. In einigen Trabantenstädten, vor allem den weit vom städtischen Zentrum entfernten, wie Garges-lès-Gonnesse 15 Kilometer nördlich der Pariser Stadtgrenze (wo die Liste mit knapp 11 Prozent ihr höchstes Ergebnis erhielt), erhielt sie jedoch deutlich höhere Prozentanteile. In manchen Hochhaussiedlungen verzeichnete sie 20 Prozent der Stimmen. Größere Teile der (überwiegend nicht-völkischen) französischen Palästinasolidarität ebenso wie die PLO-Repräsentantin in Frankreich, Leila Schahid, hatten sich vor der Wahl von dieser populistisch-kommunitaristischen Liste distanziert. Ihr hohes Abschneiden in einzelnen Örtlichkeiten widerspiegelt auch einen identitätspolitischen Identifikationswunsch. Dieses Symptom darf freilich nicht überberwertet werden, zumal die Wahlbeteiligung an den betroffenen Orten oft ausgesprochen gering ausfiel.  

Medien- und politischer Diskurs  

Vor allem der Wahlkampf zu den letzten Präsidentschaftswahlen 2001/02, der rund um die "Innere Sicherheits"problematik zentriert war, arbeitete sehr stark mit diesen Assoziationsketten. Aufgrund des zeitlichen Zusammentreffens mit den Folgewirkungen des 11. September 2001 wurde in Politik und Medien von mehreren Seiten ein zwar mitunter nur schemenhaft angedeuteter, aber dennoch klarer Zusammenhang hergestellt: Banlieue-Jugend bedeutet Araber, Araber bedeutet Kriminelle und/oder Islamisten, der Übergang zum Terrorismus ist da ein kleiner Schritt... Beispielhaft zitiert sei ein Beitrag des damaligen (inzwischen verstorbenen) Redakteurs der Kommentarseite der Pariser konservativen Tageszeitung Le Figaro, Max Clos, eines Rechtsauslegers im bürgerlichen Lager. Clos berichtete Ende September 01 über eine Demonstration von Immigrantenjugendlichen gegen die Polizeigewalt in den Banlieues - anlässlich des Prozesses gegen einen Polizisten, der in Mantes-la-Jolie zehn Jahre zuvor einen 18-jährigen getötet hatte und nach langjähriger Verschleppung endlich vor Gericht erscheinen musste. Clos kommentierte die Bilder der Demonstration, die von einer eher linken Immigranten-Selbstorganisation angeleiert worden war und die weder mit der islamischen Religion noch mit den Attentaten von New York auch nur das Geringste zu tun hatte: "Abbild eines pazifistischen Islam? Ein ’Heiliger Krieg¹ ist dem Westen erklärt worden. Wir sind in Gefahr, in einer Notwehrlage, und der Feind ist identifiziert. Wir haben die Wahl, zu kämpfen oder uns wie Schafe abschlachten zu lassen.² Um hinzuzufügen: "Wer sind die Opfer, die 7.000 Toten von New York oder die Moslems?" Als ob dies irgend etwas mit dem Anliegen der Demo zu tun gehabt hätte.  

Bekanntermaßen war die Präsidentschaftswahl vom 21. April 2002 vom überraschend hohen Abschneiden der extremen Rechten gezeichnet, deren beide Kandidaten (Jean-Marie Le Pen und der später in der Bedeutungslosigkeit versunkene Bruno Mégret) später zusammen über 19 Prozent der Stimmen erhielten. In fast allen Kommentaren wurde daraufhin auf die hohe Verantwortung des Mediens und vor allem des Fernsehens, mit ihrer oft reißerischen Berichterstattung über Kriminalitäts- oder "Sicherheitsproblematik" und Banlieues, hingewiesen. Insbesondere wurde aufmerksam registriert, dass die Stimmabgabe für Jean-Marie Le Pen (bis dahin ein überwiegend urbanes Phänomen, das kaum die ländlichen Regionen betroffen hatte) nunmehr auch in weiter ab von den Ballungszentren gelegenen Landstrichen zugenommen hatte. Auf Nachfragen von JournalistInnen, die den dortigen BewohnerInnen vorhielten, dass es bei ihnen doch kaum Straftaten und mitunter keinen einzigen Immigranten gebe, wurde immer wieder geantwortet, das habe man doch im Fernsehen gesehen (nämlich in den Berichten über die Banlieues!), und man wolle verhindern, dass es "hier auch so wird".  

Ein Teil der Medien hat seitdem eine gewisse Selbstkritik beherzigt, die besonders sensationsgierige Berichterstattung über die "Banlieue-Probleme" ist seitdem um einiges zurückgegangen. Dazu trägt sicherlich auch bei, dass die seit Juni 2002 amtierende konservative Regierung eine neue Krisenverwaltung bezüglich der Banlieues praktiziert, so dass sie ein Interesse daran hat, dass die Probleme in den Medien weniger dramatisch inszeniert werden. So hat der von Juni 2002 bis April 2004 amtierende Innenminister (und jetzige Wirtschaftsminister) Nicolas Sarkozy einerseits eine wesentlich verschärfte polizeiliche Sicherheitspolitik initiiert, die im Wesentlichen auf die Banlieues ausgerichtet ist. So wurde bei seinem Amtsantritt ein Programm durch die Regierung lanciert, das in dieser Legislaturperiode die Einstellung von 13.500 neuen Polizisten und Gendarmen, die Schaffung von 11.000 zusätzlichen Haftplätzen sowie von 10.000 Stellen im Justizapparat beinhaltet. Andererseits erprobte derselbe Minister Sarkozy eine Politik mit neuen Integrationsangeboten, die sich besonders (explizit) an konservativ-religiöse und islamistische Gruppen richten, die zu institutionalisierten Ansprechpartnern aufgebaut wurden. Dabei wurde in Umrissen eine Politik erkennbar, die den fehlenden Sozialstaat durch bestimmte ­ vom Staat eingegrenzte - Freiräume für religiöse Akvititäten ersetzt. (Der Amtsnachfolger des Ministers, Dominique de Villepin, ist bisher auf diesem Gebiet weit zögerlicher vorgegangen.)  

Ferner setzt der seit 2002 Sozialminister Jean-Louis Borloo auf eine neue Städtebaupolitik, die etwa die Zerstörung einiger besonders starker Wohnkonzentrationen in sozialen "Brennpunkten" beinhaltet. Im Frühsommer 2004 beispielsweise kam es zur, als Medienspektakel inszenierten, Sprengung mehrerer Plattenbau-Riegel in der besonders bekannten Pariser Trabantenstadt La Courneuve. Die in früheren Jahrzehnten praktizierte Politik der Konzentration "sozialer schwacher" Einwohnerschaften in Hochhaussiedlungen, Wohntürmen und Plattenbauten soll einer neuen baulichen "Auflockerung" weichen. Auch soll es einen neuen Schub von Umzügen in Eigentumswohnungen (also Reihenhäusern u.ä.) geben, indem es der Zugang zu ihnen erleichtert wird ­ das betrifft jene in den Trabantenstädten, die sozial noch nicht auf dem unteresten Ast angekommen sind. Und die anderen? Auch sie sollen künftig, wenn einige Wohnkonzentrationen aufgelöst sind, in kleineren Einheiten angesiedelt werden. Diese werden dann nur eben geographisch noch weiter weg von den städtischen Zentren liegen, nicht mehr 15 Kilometer, sondern vielleicht 40 Kilometer. Durchaus erwünschter Nebeneffekt, die mit der (an sich ja durchaus diskutierbaren) Idee einer vorgeblichen Humanisierung der Architektur legitimiert wird: Eine künftige stärkere Vereinzelung und Zerstreuung potenzieller sozialer Unruhepotenziale.  

Editorische Anmerkungen

Diesen Artikel schickte uns der Autor am 2.12.2004 in der vorliegenden Fassung zur Veröffentlichung. Eine Kurzfassung erschien in: Antifaschistisches Infoblatt (AIB) Nr. 64, Herbst 2004.