Frankreich: Eine Gefahr für den Laizismus?
Der neue "starke Mann" der französischen Rechten, Nicolas Sarkozy, stellt die Trennung von Religion und Politik in Frage


Von Bernhard Schmid (Paris)
12/04
 
 
 
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Es war eine Polit-Show in ungekannten Ausmaßen: 5 bis 8 Millionen Euro kostete nach ersten Schätzungen der Nominierungsparteitag, auf dem am vorigen Sonntag der bis dahin als Wirtschaftsminister amtierende Nicolas Sarkozy zum neuen Vorsitzenden der konservativ-liberalen Einheitspartei UMP gekürt wurde. Normalerweise kosten Parteitage in Frankreich um die 100.000 Euro. Die eigentliche Wahl Sarkozys - per Urabstimmung der Parteimitglieder, die dafür sechs Tage Zeit hatten ­ war freilich bereits eine Woche zuvor abgeschlossen worden. Es handelte sich also um eine reine Showveranstaltung, mit Film über das Leben des konservativen Superstars sowie Persönlichkeiten aus Kulturwelt und Sport, zu der mindestens 25.000 UMP-Mitglieder in die Pariser Vorstadt Le Bourget zusammen kamen. Für den Protz war eigens eine miniaturisierte Stadt im Kongresssaal errichtet worden.  

Seit Monaten hatte das Politspektakel die französischen Medien vorab in Atem gehalten. Denn der Staatspräsident und UMP-Gründer Jacques Chirac widersetzte sich lange Monate hindurch dem Drängen seines ehrgeizigen früheren Innen- und jetzigen Wirtschaftsministers, neben dem Regierungsamt auch noch den Parteivorsitz zu übernehmen; aufgrund seiner Popularität an der Parteibasis als ehemaliger Law and Order-Minister hatte Sarkozy dazu freilich die besten Chancen. Es ist ein offenes Geheimnis, dass er seine Ämter als Sprungbrett für eine Kandidatur zur kommenden Präsidentschaftswahl von 2007 nutzen will. Chirac dagegen verspürt die Notwendigkeit, selbst nochmals zur Wahl anzutreten - da ihn sonst die Richter einzuholen drohen, die ihm seit einem Jahrzehnt auf den Fersen sind. Sein Name taucht als Schlüsselelement in einem Dutzend Korruptionsverfahren auf, und nur solange er im Amt bleibt, wird Chirac durch das eigens für seine Zwecke verabschiedete Immunitätsgesetz geschützt. Im Hochsommer kam es dann zum Kompromiss zwischen den beiden Männern: Sarkozy bekam den UMP-Parteivorsitz zugesprochen, musste aber Chirac im Gegenzug zusichern, am Tag nach der Wahl sein Ministeramt an den Nagel zu hängen. Das tat er dann auch.  

Seines Sitzes im Kabinett solcherart verlustig gegangen, will Sarkozy sich nunmehr der ideologischen Aufrüstung der französischen Rechten widmen. Die Rolle des Parteichefs, dozierte er bereits Wochen vor seiner Wahl, bestehe darin, jenseits der alltäglichen Regierungsarbeit Themen und Begriffe zu setzen oder zu besetzen und in die Zukunft reichende Theorien zu entwickeln. Tatsächlich dürfte die ideologische Produktion unter Sarkozy nicht zu kurz kommen. Ein Thema hat er in den vergangenen vier Wochen bereits gefunden: die Neubewertung der Rolle der Religion, oder auch der Religionen im Plural, in der französischen Innenpolitik. Dazu erschien jüngst im konfessionellen katholischen Verlag Le Cerf sein Buch unter dem Titel La République, les religions, l¹espérance. Das bedeutet ungefähr: "Die Republik, die Religionen, die Hoffnung". Anders als l¹espoir, das für eine konkrete Hoffnung steht, kann l¹espérance auch mit "Heilserwartung" übersetzt werden. In Wirklichkeit handelt es sich nicht um einen Text aus der Feder von Nicolas Sarkozy, sondern um die Wiedergabe von sechs anderthalbstündigen Gesprächen mit ihm.  

In wenigen Monaten steht in Frankreich der hundertste Jahrestag der Verabschiedung des Gesetzes vom 9. Dezember 1905 an, das die Trennung von Kirche und Staat besiegelte - eine Konsequenz aus der Dreyfus-Affäre und des gemeinsamen Bündnisses von sozialistischer Arbeiterbewegung und Liberalen zur Niederwerfung der damaligen antisemitischen Bewegung. Im Vorfeld dieses Datums, das zweifellos den Anlass für zahlreiche Debatten und Bilanzierungsversuche bieten wird, sorgt Sarkozys offensive Positionierung für großes Aufsehen.  

"Der moralische Aspekt ist solider und stärker verwurzelt, wenn er einem spirituellen und religiösen Vorgehen entspringt, als wenn er seinen Ursprung in der politischen Debatte oder im republikanischen Ideal findet", schreibt bzw. sagt Sarkozy etwa. Und: "Die Republik kennt kein Gut oder Böse. Sie verteidigt die Regel, das Gesetz, ohne sie an eine moralische Ordnung anzubinden." Das könnte man als Ausgangspunkt eines autoritären Ursprungsprogramms bezeichnen: Das könnte man als Ausgangspunkt eines autoritären Programms bezeichnen: Sarkozy geht es darum, eine Moral des gesellschaftlichen Zusammenlebens zu etablieren, die der demokratishen Debatte entzogen ist.  

Dieses Programm bringt Sarkozy in seinem Buch, und besonders deutlich in einem Interview mit dem Wochenmagazin L¹Express ­ das die Form eines konfrontativen Streitgesprächs mit dem Chefredakteur Denis Jeambar, der darin die traditionelle republikanisch-laizistische Staatsidee Frankreichs verteidigt, annimmt ­ direkt mit aktuellen gesellschaftlichen Problemen Frankreichs in Verbindung. Und konkret mit dem Problem der gesellschaftlichen Zerrüttung und Segregation in den Banlieues, den französischen Trabantenstädten: "Wenn man dem Leben einen Sinn geben will; wenn man diesen Jugendlichen, die nur die Religion des Geldes, der Drogen, der Gewalt und des Fernsehens kennen, den Respekt vor dem Anderen beibringen will, dann kann der Diskurs eines Glaubensmannes von Nutzen sein." Das ähnelt dem Programm, das die britische Rechte unter Margarat Thatcher in den achtziger Jahren anwandte, indem sie bisherige sozialstaatliche Funktionen, die in sozialen Krisenzonen nicht mehr wahrgenommen wurden, durch eine Aufwertung der Religionsgruppen ­ gerade unter den Minderheiten - ersetzte. Eine potenzielle fundamentalistische Gefahr sieht Sarkozy nicht, da "Glauben manchmal ein fundamentales Engagement erfordert" und, "wenn (der Einzelne) es auf sich selbst anwendet, das Absolute keine Gefahr für die Gesellschaft" darstelle. Diese beginne dort, wo Überzeugungen auch anderen aufgezwungen werden sollten; dagegen helfe der Appell an die Staatsautorität, die Sarkozy zufolge nach wie vor dem Agieren der Religionsgruppen übergeordnet bleiben soll.  

Wie in manchen anderen Dingen, ist für den Wirtschaftsliberalen Sarkozy auch für den Umgang mit der Religion die US-amerikanische Innenpolitik ein wichtiges Vorbild. In den USA, sagt er dem Express, schwören die Präsidenten noch auf die Bibel, und "unser Konzept von der Religion als (lediglich) Teil der Privatsphäre ist nicht universalisierbar, wie der Blick über den Atlantik zeigt". Normalerweise hätte Sarkozy damit in der französischen Gesellschaft eher schlechte Karten, da hier aktuell nur 20 Prozent der Bevölkerung konfessionell gebunden sind, während in den USA über 40 Prozent der Wähler christliche Werte als entscheidend für ihre Stimmabgabe bezeichnen. Doch der frühere Innen- und Wirtschaftsminister hat ein gewichtiges Argument gefunden, um die traditionellen Widerstände gegen eine Rekonfessionalisierung der französischen Politik zu unterlaufen: Er beruft sich auf die notwendigen Veränderungen, die durch die Herausforderung durch die Integration des Islam notwendig würden.  

Dieser sei, als letzte in Frankreich angekommene Religion, besonders benachteiligt. Dabei beruft der Ex-Innenminister sich auch auf durchaus nachvollziehbare materielle Argumente: Diese Religionsgemeinschaft sei "ärmer als die anderen, da ihre Angehörigen die Nachfahren jener Einwanderer sind, die in den sechziger Jahren kamen, um Fahrzeuge und Autobahnen zu bauen." Das stimmt durchaus, aber Sarkozy antwortet darauf nicht mit der Notwendigkeit, sich um die soziale Lage von arbeitslosen Industriearbeitern oder in Fastfoodläden jobbenden Einwandererkindern zu kümmern ­ sondern mit ihrer Integration "als Muslime". Dabei bezeichnen sich nach Angaben von Le Monde aus dem vorigen Jahr ein Drittel, nach einer neueren Untersuchung hingegen nur 15 Prozent der Immigranten aus mehrheitlich moslemischen Ländern und ihrer Kinder als "gläubig und praktizierend", eine knappe Hälfte dagegen als nicht praktizierend, und der Rest erkennt sich gar keine Religion zu.  

Als vermeintliche Antwort auf ihre, sehr reale, gesellschaftliche Diskriminierung bietet Sarkozy ihnen nur Symbol- und Identitätspolitik. So ernannte er im vergangenen Winter einen Sohn kabylischer Immigranten aus Algerien, Aïssa Dermouche, zum hohen Staatsbeamten ­ und bezeichnete ihn als "muslimischen Präfekten". Darauf legte der so Bezeichnete einerseits keinen großen Wert; und andererseits trug diese Stigmatisierung, im Namen der von Sarkozy befürworteten "positiven Diskriminierung", dem Betroffenen drei rassistisch motivierte Brandanschläge ein. Hätte der damalige Innenminister nicht so viel Aufhebens veranstaltet, wäre Dermouche wohl ein Präfekt wie jeder andere geworden. An der Lage der Immigrantensöhne und ­töchter in den Banlieues änderte seine Nominierung ohnehin nichts.  

Durch seinen Diskurs von der "notwendigen Anerkennung" der rund vier Millionen, als Muslime bezeichneten Einwanderer hebt Sarkozy sich mitunter auf positive Art und Weise von den kolonial geprägten, rassistischen Teilen der französischen Rechten ab. Doch er setzt ihr eine neue Variante kulturalistischer und differenzialistischer, statt universalistischer, Politik entgegen. Die extreme Rechte unter Jean-Marie Le Pen ihrerseits unterhält ein komplexes Verhältnis zu Sarkozy. Denn auch in der extremen Rechten gibt es unterschiedliche Strategien, die von der simplen "abendländisch"-kolonialen Araberfeindlichkeit bis zu differenzialistischen Diskursen, wonach "die Aufrechterhaltung der moslemischen Kultur" durch Nichtvermischung der Gesellschaften ein positiver Wert sei, reichen. Und einerseits wird Sarkozy wegen seines Vaters, der selbst ungarisch-jüdischer Einwanderer war, beargwöhnt. Zugleich aber besteht ein Konkurrenzverhältnis zum Law and Order-Diskurs des früheren Innenministers, der sich durch seine an "Erfolgszahlen" orientierte Abschiebepolitik gegenüber unerwünschten Neueinwanderern zu profilieren suchte.  

Zuletzt allerdings wurde Sarkozys Wahl zum UMP-Vorsitzenden durch Le Pen begrüßt. Freilich vor allem deswegen, weil der noch als Wirtschaftsminister amtierende Politik vorige Woche einem Einspruch Le Pens gegen eine Steuernachzahlung in Höhe von 800.000 Euro für seine Villa nachgab und eine Überprüfung des Dossiers anordnete. So schnöde kann Politik sein.   

Editorische Anmerkungen

Diesen Artikel schickte uns der Autor am 2.12.2004 in der vorliegenden Fassung zur Veröffentlichung. Eine Kurzfassung erschien in Jungle World vom 01. Dezember 04 unter dem Titel "Mehr Kirche im Staat"