Tunesien zwischen Präsidentschaftswahl, politischen Prozessen und "wilden" Streiks: Wahlfarce und soziale Kämpfe im Polizeistaats-"Musterländle"

Von Bernhard Schmid (Paris)
12/04
 
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Tunesien könnte aus Sicht der Europäischen Union geradezu als "Musterländle" gelten. Hat das Land doch als erster unter den südlichen Anrainerstaaten des Mittelmeers bereits am 17. Juli 1995, also noch ein halbes Jahr vor der Konferenz zur "euro-mediterranen Partnerschaft" in Barcelona, ein Freihandelsabkommen mit der EU abgeschlossen. Bis zum Jahr 2010 sollen dessen Bestimmungen volle Wirksamkeit erlangen.  

Auch in politischer Hinsicht wurde Tunesien nördlich des Mittelmeers lange Zeit als Modellfall gehandelt. Zwar ging es nicht eben demokratisch zu unter der autoritären Herrschaft der Staatspartei ­ früher Néo-Destour (Neue Verfassungspartei), jetzt RCD (Demokratische verfassungsmäßige Sammlung). Aber immerhin schien es sich um ein "modernes" Regime zu handeln. Doch sehen wir genauer hin.  

Die handzahme "offizielle" Opposition...  

Am 24. Oktober 04 fanden die letzten Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in Tunesien statt. Dabei gewann, ohne jegliche Überraschung, der Amtsinhaber Ben Ali mit, laut offiziellen Zahlen, 94,48 Prozent der Stimmen. Man könnte dies freilich, sofern man will (aber im Pariser Elysée-Palast will man beispielsweise), als "demokratischen Fortschritt" betrachten. Denn die letzten Präsidentschaftswahlen von 1989, 1994 und 1999 gewann Ben Ali mit jeweils über 99 Prozent der Stimmen.  

Andere demokratische Neuerung: Dieses Mal kandidierten noch drei andere Bewerber, die vom Verfassungsgericht zugelassen worden waren. Zwei von ihnen wurden durch Beobachter als "Blumentöpfe" bezeichnet, weil sie nur zur Dekoration da waren: Mohammed Bouchiha und Mounir Beji gehören zur erweiterten Verwandtschaft Ben Alis und verbrachten die meiste Zeit damit, die tolle Bilanz des Amtsinhabers zu loben; sie erhielten zusammen gut 4 Prozent. Blieb der dritte. Es handelt sich um Mohammed Ali Halouani, den Vorsitzenden der Partei At-Tajdid (Die Erneuerung), einen gütig dreinblickenden Herrn mit weißem Schnurrbart, der nach offiziellen Zahlen 0,95 Prozent der Stimmen erhielt. Seine Partei ist der Überrest der früheren KP, der ein Jahrzehnt lang als offizielle Opposition von Ihro Präsidenten Gnaden überwinterte. Dafür gab es Subventionen vom Ben Ali-Regime; aber ihre "konstruktive Opposition" bedeutete, dass ihre Abgeordneten im Parlament gegen keine einzige Gesetzesvorlage der Staatspartei RCD (Verfassungsmäßige demokratische Sammlung) stimmten. Kürzlich war die Partei ein wenig aus ihrem Dornröschenschlaf erwacht und hatte beschlossen, unter dem Namen "Initiative démocratique" zusammen mit Vertretern von Zivilgesellschaft und Menschenrechtsgruppen zur Präsidentschaftswahl anzutreten. Leider missfielen jedoch einige Äußerungen Halouanis dem Regime von Präsident Ben Ali. So wurde ihm die Viertelstunde Fernsehauftritt, auf die er Aussicht hatte, gestrichen. Auch wurden seine Plakate nie ausgeliefert und sein Wahlprogramm wurde, auf Anordnung des Innenministers, in der Druckerei blockiert. Ein Flugblatt wurde beschlagnahmt.  

Dabei müssen die Zahlen nicht einmal unbedingt auf materielle Manipulationen zurückzuführen sein: Die meisten Opponenten in Tunesien sind derart eingeschüchtert, dass viele Bürger glauben, noch in der Wahlkabine von Kameras beobachtet zu werden, selbst wenn das ­ den Wahlbeobachtern zuliebe ­ nicht stimmt. Die Wahlbeteiligung betrug offiziellen Angaben zufolge 91,52 Prozent, was eher in Zweifel zu ziehen ist als die Stimmenverteilung selbst.  

Praktischerweise hatte das Regime auch gleich noch die Parlamentswahlen auf denselben Sonntag angesetzt. Vorab bekannt dabei war, dass die Staatspartei RCD ­ der zwei von insgesamt zehn Millionen Tunesiern angehören, oft aus Gründen des Joberhalts ­ sich, wie immer, 80 Prozent der Sitze sichern würde. Sie strich alle 152 (von 189) Sitzen ein, die offiziell "in freier Wahl" vergeben wurden. Der Rest wird von Amts wegen auf handzahme Oppositionsparteien aufgeteilt.

...Und das Schicksal "nicht offizieller" Oppositioneller  

Eine Opposition, die nicht mitspielt, findet sich freilich woanders wieder. Tunesien weist, mit 23.000 Gefängnisinsassen, die weltweit vierthöchste Häftlingsrate gemessen an der Bevölkerungszahl auf, hinter den USA, Russland und Südafrika. Menschenrechtsorganisationen sprechen von 600 gewaltlosen "Meinungsgefangenen", mehrere Dutzend von ihnen sitzen seit Jahren in totaler Isolation.

Zuletzt wurden am 22. September der trotzkistische Journalist Jalel Zoghlami, sein gewerkschaftlich aktiver Bruder Nejib sowie ihr gemeinsamer Freund Lumumba Mohsen verhaftet, unter dem Vorwand einer Schlägerei, die Zivilpolizisten vom Zaun gebrochen hatten. Ihr Prozess wurde am Donnerstag, 28. 0ktober eröffnete; die beiden Brüder wurden zunächst zu 8 Monaten Haft (ohne Bewährung) verurteilt. Seitdem sie im Gefängnis ­ in Isoalationshaft ­ sitzen, bemühen die Behörden sich, ständig neue Delikte gegen sie
vorzubringen und so ihre Gesamtstrafe sukzessive zu erhöhen. Die Brüder Zoghlami sind so derzeit zu insgesamt 12 Monaten Haft verurteilt, der momentan flüchtige Lumumba Mohsen zu 18 Monaten. Und am 17. Dezember und 22. Dezember werden neue Prozesse gegen die Brüder Zoghlami eröffnet - aber auch gegen mehrere andere Mitglieder derselben Familie vor Gericht, denen alle (frei erfundene) Straftaten und Delikte vorgeworfen werden, um sie als
"Familie von Banditen und Kriminellen" darzustellen. Die praktizierte Sippenhaft gehört zu den verbreiteten Repressionsmethoden in Tunesien.

Besonders gravierend ist die Angelegenheit deswegen, weil zu dieser Familie auch Jalels Halbbruder Taoufik Ben Brik gehört. Taoufik Ben Brik, der bis in die späten 90er Jahre als letzter tunesischer Journalist frei arbeiten konnte, da er als Korrepondent für französische und schweizerische Zeitungen tätig war, sollte 1999 zu sechs Jahren Haft verurteilt werden. Daraufhin führte er einen 42-tägigen Hungerstreik durch, zuerst in Tunis, dann (nachdem seine UnterstützerInnen die Ausreise hatten durchsetzen können) in Paris, der mit einem Erfolg endete: Die Strafverfolgung musste eingestellt werden. Taoufik Ben Brik, der damals binnen eines Monats 22 Kilo verlor, gilt als der einzige Oppositionelle, der in den letzten Jahren dem Ben Ali-Regime eine Niederlage, noch dazu auf internationaler Bühne, beibringen
konnte. Deswegen galt er, mitsamt seiner Familie, einige Jahre lang in tunesischen Oppositionskreisen als "unantastbar", da das Ben Ali-Regime es nicht wagen würde, sich nochmals an ihm zu vergreifen. Dass jetzt seine gesamte Familie in die Mühlen der Repression hinein gezogen wird, ist besonders auch in dieser Hinsicht ein ernstes Alarmsignal.

Jalal Zoghlami befindet sich seit dem 1. Dezember zum zweiten Mal im Hungerstreik, nachdem er vor kurzem die erste Hungerstreikaktion nach drei Wochen aufgrund akuter gesundheitlicher Probleme ­ darunter einer akuten Bronchitis ­ abbrechen musste. In Paris und Genf haben sich inzwischen internationale Solidaritätskomitees für ihn gegründet.

Mit 130.000 Beamten des Innenministeriums beschäftigt Tunesien mehr Polizisten als Frankreich, das sechs mal so viel Einwohner hat.

Aus westlicher Sicht eine "Musterdemokratie"?  

Dennoch scheint Tunesien aus offizieller "westlicher" Sicht der Dinge geradezu ein Musterbeispiel für "Fortschritte auf dem Weg zur Demokratisierung" darzustellen: Die von den USA zum Jahreswechsel 2003/04 lancierte "Greater Middle East" Initiative, die mittlerweile in "Middle East Partnership Initiative" (MEPI) umbenannt worden ist und die offiziell dem Anstoßen von politischen und marktwirtschaflichen "Reformen" im Nahen und Mittleren Osten dient, hat ihr Büro in Tunis installiert.  

Freilich erklärte der stellvertretende Sprecher des US-State Department, Adam Ereli, nach der jüngsten tunesischen Präsidentschaftswahl-Maskerade kryptisch seine "Besorgnis" darüber, dass "Tunesien nicht sein gesamtes Potenzial (in Sachen politischer Partizipation) genutzt" habe. Aus dem Pariser Elysée-Palast kam dagegen, erwartungsgemäß, ein Glückwunschtelegramm für den Amtsinhaber Ben Ali. Denn in der französischen politischen Klasse hat das tunesische Regime, trotz zahlreicher Menschenrechtsverletzungen gerade in jüngerer Zeit, prominente Fürsprecher. Neben Präsident Jacques Chirac etwa auch den sozialdemokratischen Pariser Oberbürgermeister, Betrand Delanoë, der selbst während der französischen Protektoratszeit in Tunis geboren wurde.  

Der ehemalige Militär und in den USA ausgebildete Nachrichtendienstler Ben Ali, der später zum Innenminister aufgestiegen war, hatte am 7. November 1987 die Macht ergriffen: Er ließ seinen offiziell auf Lebenszeit amtierenden Vorgänger Habib Bourguiba kurzerhand durch die Palastärzte für amtsunfähig erklären, und erfand so den so genannten "medizinischen Staatsstreich". Unter Bourguiba hatte eine Modernisierungselite, die sich aus der einheimischen Bourgeoisie rekrutierte, das Land immerhin noch, freilich auf autoritärem Wege, "entwickelt". Diese Phase der Modernisierung von oben brachte etwa den Frauen in Tunesien schon Ende der 1950er Jahre Rechte, die damals die französischen Frauen zum Teil noch nicht hatten (Schwangerschaftsabbruch). Heute dagegen stützt sich das Polizeistaats-Regime zu Legitimationszwecken zwar noch auf diese Errungenschaften, indem es sich darauf beruft, man müsse sie durch flächendeckende Repression gegen ihre potenzielle Bedrohung durch Islamisten verteidigen. Allerdings erstickt das Regime, während es in Lippenbekenntnissen regelmäßig "die Rechte der tunesischen Frau" zu seiner Rechtfertigung heranzieht, jede Lebensäußerung einer unabhängigen Frauenorganisation oder ­bewegung im Keim ­ und auch sonst jeder Form von demokratischer Öffentlichkeit.  

Von der einstigen Modernsierungsdiktatur unter Bourguiba ist nur noch eine halbmafiose Herrschaft zweier oder dreier großer Familienclans übriggeblieben, die sich auf die ungenierteste Weise um die materiellen Pfründe balgen.

Die Herrschaft der Familienclans  

Da wäre die erweiterte Verwandtschaft von Ben Ali selbst, rund um seine zehn Brüdern und Schwestern: Dieser Familienzweig ist vorwiegend im kriminellen Bereich tätig, etwa im Schmuggel- und illegalen Importgeschäft. Dagegen ist der Präsidentenbruder Moncef vor einigen Jahren in Frankreich mit seinem Drogenhändlerring, genannt "die Couscous-Connection", aufgeflogen; doch sein Sohn Sofiane ehelichte jüngst eine der Töchter des Chefs des tunesischen Unternehmerverbands Utica, Hedi Jilani. Da wäre aber auch die für ihre besondere Gier bekannte Sippschaft seiner Frau in zweiter Ehe, Leila Trabelsi (eine ehemalige Friseuse, die Ben Ali in den 80er Jahren kennenlernte): Die Trabelsi hätten ursprünglich kein Geld, konnten sich aber seit der Vermählung des Präsidenten ein Vermögen auf Kredit aufbauen und kontrollieren etwa den einzigen privaten Radiosender im Land, die wichtigste Flug- und Hotelgesellschaft (Carthago), die Vermarktung von Computerprodukten und von Haushaltsgeräten... Und da wäre schließlich der Chiboub-Clan, angeführt von Slim Chiboub, dem Präsidenten des größten Fußballsclubs im Land und Ehemanns einer der Töchter Ben Alis aus erster Ehe. Die Chiboubs haben sich darauf spezialisiert, "Kommissionen" auf die durch die öffentliche Hand getätigten Geschäfte zu kassieren.  

Und so bleiben "Politik" und Geschäft im offiziellen Tunesien heute vorwiegend eine Familienangelegenheit. Wer im Land beispielsweise im Internet surfen will, muss sich über die einzige Servergesellschaft einwählen ­ aber die gehört der Präsidententochter Cyrine, seinem jüngsten Spross aus erster Ehe. Diese Gesellschaft hat es geschafft, das Internet in Tunesien auf fast perfekte Weise zu zensieren: Ende der neunziger Jahre ersetzte sie die Verbindung mit der Homepage von amnesty international durch eine eigene Webseite (amnesty tunisia), auf der man erfahren konnte, dass in Sachen Menschenrechte in Tunesien alles in bester Ordnung ist. Jüngst ehelichte diese Präsidententochter den Sprössling einer alteingesessenen Familie der Großbourgeoisie, Marouane Mabrouk. Prompt konnten die Mabrouk sich vor kurzer Zeit die Konzession für den Vertrieb von Fiat- und von Mercedes-Fahrzeugen, der durch die Regierung soeben privatisiert wurde, unter den Nagel reißen. Eine andere, bisher öffentliche Vertriebsgesellschaft namens Ennakl, die in Tunesien die Autos von Audi und Volkswagen weiterverkauft, wurde ebenfalls jüngst privatisiert. Diese lukrative Konzession ging an den Sprössling einer Offiziersfamilie, Sofiane Matri, der vor kurzem eine 18jährige Tochter von Ben Ali und Leila Trabelsi heiratete.

Ein wirtschaftliches "Erfolgsmodell" am Mittelmeer?  

Auch in Teilen der tunesischen Bourgeoisie und der Mittelschichten ballt man in kalter Wut die Faust in der Tasche über so viel hemmungslose Clanwirtschaft. Doch die anödende, repressive Stabilität des tunesischen Polizeistaats wurde bisher ­ neben der bleiernen Last der Repression ­ auch dadurch abgesichert, dass die ökonomische Situation der Tunesier im Durchschnitt gar nicht so schlecht erschien. Zwar kennen vor allem die Randzonen Tunesiens im Süden und Westen eine deutliche Unterentwicklung. Doch gleichzeitig schien eine manifeste Massenarmut, wie viele Menschen in Algerien oder Ägypten sie durchleben, lange Zeit unbekannt. Nach offizieller (geschönter) Darstellung gehören 60 Prozent der Tunesier zu einer "breiten Mittelschicht", die als Träger politischer und sozialer Stabilität präsentiert wird. Die materielle Basis dafür lieferte vor allem das Wachstum der Textilindustrie, das insbesondere in den Jahren 1997 bis 2001 hohe Zuwachsraten kannte. Das jährliche Durchschnittseinkommen der Tunesier liegt derzeit bei 3.500 tunesischen Dinar oder 2.275 Euro und damit höher als in Marokko, Algerien (wo es seit 1990 um über ein Drittel gesunken ist und nunmehr hinter das tunesische Niveau zurückfällt) oder Ägypten.  

Dennoch ist das tunesische "Modell" ­ autoritäre politische Kontrolle plus anhaltendes Wirtschaftswachstum gleich "Stabilität" ­ seit längerem an seine Grenzen gestoßen. Nach (höchstwahrscheinlich untertriebenen) offiziellen Zahlen sind derzeit gut 16 Prozent der tunesischen Bevölkerung arbeitslos; andere Quellen sprechen von über 20 Prozent. Dabei existieren in dem Land keine Arbeitslosengelder oder ­hilfen, sondern nur punktuelle Hilfszahlungen in Gestalt von Abfindungen, die im Falle von Entlassungen durch die Sozialversicherung ausgeschüttet werden. Schlimmer: 68 Prozent der (offiziellen Angaben zufolge) Arbeitsuchenden sind jünger als 30 Jahre, und zwei Drittel von ihnen haben mindestens Abitur oder sogar Hochschulabschlüsse. Das widerspiegelt einen Arbeitsmarkt, der nicht länger aufnahmefähig ist und den jüngeren Generationen nicht mehr viel zu bieten hat.  

Tunesien, das (anders als seine Nachbarn Algerien und Libyen) keine Erdölvorkommen aufweist, hat sich seit längerem auf ökonomische "Nischen" spezialisiert: Auf die aus Europa abwandernde Textilindustrie sowie auf manche Zubehör-Produktionen, wie etwa die Herstellung von Sitzbezügen für die europäische Automobil-Zuliefererindustrie. Hinzu kommen natürlich der Tourismus und die damit zusammenhängenden Dienstleistungsbranchen. Zeitweise wurde auch auf die Fertigung von elektronischen Komponenten abgestellt, doch wurde hier rasch der Konkurrenzdruck durch die "noch billigere" ostasiatische Industrie spürbar. Doch nunmehr drohen ähnliche Auswirkungen der Veränderungen in der internationalen Arbeitsteilung, die oft als "Globalisierung" bezeichnet werden, auch andere Sektoren der tunesischen Ökonomie hart zu treffen. Dabei ist das Land besonders verwundbar, weil es besonders stark von der Weltmarktbindung abhängig ist.

Tunesiens weitgehend "globalisierte" Ökonomie  

Bichara Khader, der Herausgeber eines Sammelbands zur "euro-mediterranen Partnerschaft aus der Sicht des Südens (Le partenariat euro-méditerranéen vu du Sud, Paris, L¹Harmattan 2001) hat für mehrere Länder einen "Öffnungsgrad² der jeweiligen Ökonomien dadurch errechnet, dass er die Summe der Importe und Exporte ins Verhältnis zum Bruttosozialprodukt des Landes stellt. Diese Berechnung mag jedenfalls als Indiz einen gewissen Wert aufweisen. Demnach beträgt dieser "Öffnungsgrad² für Mexiko heute 22 Prozent, hingegen für Marokko 39 Prozent und 43 Prozent für Algerien, für Tunesien aber bereits 82 Prozent. Tunesiens Binnenmarkt ist, bei zehn Millionen Einwohnern, relativ klein ­ vor allem aber blieb jede wirtschaftliche "Süd-Süd-Integration" aus, zugunsten einer Ausrichtung auf die Ökonomien des Nordens. 70 Prozent seines Außenhandels wickelte Tunesien zu Anfang des Jahrzehnts mit der EU ab. Sein mit Abstand größtes Nachbarland, Algerien, wiegt hingegen nach offiziellen Zahlen nur 2 Prozent der tunesischen Exporte. Berücksichtigt man den wichtigen informellen Sektor und den Schmuggel, dann dürfte der algero-tunesische Handel 4 bis maximal 5 Prozent der tunesischen Ausfuhren nicht übersteigen.  

Zum Jahreswechsel 2004/05 läuft das "Multifaserabkommen" (Arrangement multifibres) aus, ein internationales Wirtschaftsabkommen, das den Textil-Exportateuren bis dahin bestimmte Importquoten in den "westlichen Industrieländern" garantierte. Nunmehr drohen kleinere Exportländer wie Tunesien unter die "Dampfwalze" der Massenproduktion in der VR China zu geraten; Tunesien wird nach Angaben der französischen Wirtschaftspresse zu den zehn Ländern gerechnet, die in diesem Kontext "am bedrohtesten" sind. Seit nunmehr sieben Jahre hat die Europäische Union ein Hilfsprogramm laufen, um die tunesische Textilindustrie zu modernisieren; aber fraglich ist, ob ihr das noch helfen kann, da ihr einziger Wettbewerbsvorteil bisher aus "nicht qualifizierten, aber billigen" Arbeitskräften bestand. Die EU drängt jetzt, etwa im Rahmen eines Seminars "zur Zukunft der Textilbranche", das am 28. September 2004 in Tunis stattfand, auf eine Erhöhung der Produktivität, die "30 bis 40 Prozent unterhalb europäischer Normen" liege. Nach Angaben der ­ tolerierten ­ Oppositionspartei Front démocratique pour le travail et les libertés, die in der konservativen Pariser Tageszeitung Le Figaro (vom 22.10.04) zitiert werden, wird in Tunesien "allgemein damit gerechnet, dass ein Drittel der Textilbetriebe dicht machen müssen". Der Textilsektor entspricht bisher 50 Prozent der tunesischen Exporterlöse und 250.000 Arbeitsplätzen, das ist etwa die Hälfte der industriellen Arbeitsplätze im Land.  

Und der nächste Schlag für die tunesische Ökonomie wird ab 2008 erfolgen: Dann ist das Land nämlich aufgefordert, im Rahmen des Freihandelsabkommens mit der Europäischen Union, das Tunesien bereits am 17. Juli 1995 als erster südlicher Anrainerstaat des Mittelmeers abschloss, seine Zollschranken abzubauen. Bis zum Jahr 2010 soll so eine Freihandelszone zwischen der EU und ihren südlichen Nachbarn entstehen: Marokko (1996) und Algerien (2002) haben ebenfalls entsprechende Assoziierungsverträge mit der EU abgeschlossen. Bisher hat die tunesische Ökonomie noch von den Folgewirkungen des Abkommens profitiert, da es bisher vor allem von Exporterleichterungen in Richtung EU profitierte, die die (vorübergehende?) Ansiedlung bestimmter Wirtschaftszweige im Lande erleichterten. Doch in den Jahren ab 2008 muss nun umgekehrt auch Tunesien seinen Markt öffnen und damit Schutzzölle abbauen, die bisher noch lokale Produktionen gegen die übermächtige wirtschaftliche Konkurrenz aus dem Norden abschirmten. Bisher sagt selbst die Weltbank in diesem Zusammenhang den Verlust von mindestens 100.000 Arbeitsplätzen voraus. Dann könnte es mit der viel beschworenen Stabilität in Tunesien vielleicht vorüber sein.

"Wilde" Streiks und tunesische Gewerkschaften  

Doch bereits in jüngerer Vergangenheit kam es zu handfesten sozialen Konflikten in Tunesien. So führten 17 Arbeiter der Textilfirma Icab in Moknine (in der Nähe von Monastir, an der tunesischen Ostküste) im November 2002 einen 27tägigen Hungerstreik gegen den Verlust ihrer Jobs durch, nachdem die tunesisch-amerikanischen Eigentümer die Fabrik von heute auf morgen einmotten wollten. Im Juli 2003 waren es 21 Angestellte der Textilfabrik Sotapex in Sousse, ebenfalls in Osttunesien; auch hier ging es um die plötzliche Liquidierung der Fabrik durch tunesisch-französische Eigentümer.  

Die Textilfabrik Hotrifa bei Moknine die in holländischem Besitz stand und zu Jahresanfang 2004 in die Türkei "verlagert" wurde, war 54 Tage lang von 270 Arbeitern und Arbeiterinnen besetzt. Sie stand unter regelrechter Belagerung der Polizei. Am Ende war es die tunesische Einheitsgewerkschaft UGTT (deren Bürokratie mit dem Staatsapparat verschmolzen ist, auch wenn es innerhalb der UGTT einen kämpferischen linken Flügel gibt), die dem Konflikt ein Ende setzte: Der Chef der örtlichen Sektion, Monji Ben Salah, der den Kampf der ArbeiterInnen unterstützte, wurde vom UGTT-Generalsekretär persönlich vorgeladen und mit dem Verlust von Amt und Job bedroht, falls er dem Protest nicht ein Ende setze. Die ArbeiterInnen mussten sich am Ende mit einer einmaligen Abfindung in Höhe von 900 Euro begnügen. Dagegen besetzten die Beschäftigten der Sotapex in Sousse im April 2004 einen Monat lang die Räume der UGTT.  

Die "offizielle" UGTT denkt nicht im Traum daran, diese spontan oder "wild" ausbrechenden Kämpfe zu unterstützen. Dennoch formiert sich eine neue Gewerkschaftslinke innerhalb oder am Rande der UGTT, die u.a. auch durch die Bewegung gegen den Irakkrieg von 2003 beflügelt worden ist. Basisgewerkschafter organisieren notdürftig die Unterstützung für die "wilden" Streiks, oder in anderen Fällen AktivistInnen der tunesischen Liga für Menschenrechte (LTDH) oder des tunesischen Attac-Ablegers RAID. Beide Organisationen sind bereits in den letzten Jahren ins Visier polizeilicher Repression geraten.  

Auch innerhalb der UGTT selbst kommt es jetzt erstmals zu nennenswerten Konflikten. Anfang September 2004 beschloss das Führungsgremium des Gewerkschafts-Dachverbands, wie üblich, seine Unterstützung für die "Kandidatur" von Staatschef Ben Ali kundzutun. Doch zum ersten Mal votierten 8 Mitglieder des 64köpfigen Gremiums offen dagegen, und 5 weitere enthielten sich der Stimme. "Nahezu ein Drittel der Basismitglieder", schreibt der Pariser Figaro, sollen in Opposition zum UGTT-Apparat stehen.  

Editorische Anmerkungen

Diesen Artikel schickte uns der Autor am 4.12.2004 in der vorliegenden Fassung zur Veröffentlichung.