KlassenflimmernHinweise zur Integration der Vereinzelten

von Horst Selisch
12/04

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„Einzig durch das Profitinteresse hindurch und den immanent-gesamtgesellschaftlichen Bruch erhält sich, knirschend, stöhnend, mit unsäglichen Opfern, bis heute das Getriebe. Alle Gesellschaft ist noch Klassengesellschaft wie in den Zeiten, da deren Begriff aufkam“.

(Theodor W. Adorno)

 

Die Geschichte der Menschen ist nach dem überzeugenden Diktum von Marx noch immer einzig Vorgeschichte. Damit ist gesagt, daß den Menschen als Erzeuger ihrer materiellen und sozialen Wirklichkeit ihr gesellschaftlicher und allgemeiner Lebensprozeß nur als scheinbarer, als durchgängig widersprüchlicher und nicht bewußt gestalteter gelingt. Nach unveränderter Lage der Dinge ist der Mensch nicht sein eigener Herr im Haus, Herr seiner selbst und das von selbstbestimmter Vernunft geleitete Subjekt seines Tuns, sondern gerade entgegengesetzt das Opfer seiner ihm eigenen Umstände, das leidende Anhängsel einer entfremdeten Welt, Objekt eines „automatischen“ und übermenschlichen Geschichtsverlaufs.

Die noch zu Beginn aufklärerischen Denkens feierlich beschworenen neuen Zeitalter der Vernunft haben bis zum heutigen Tag die verheißungsvoll in den menschlichen Verstand gesetzten Erwartungen nicht erfüllen können. Mit der weiter wachsenden Verfügung über die Natur sind dem angewendeten Denken, der „instrumentellen Vernunft“, vorrangig nur die produktiven Machtmittel zugeflossen, wie sie von einem herrschenden Denken, das sich deckt mit dem Herrschaftsanspruch der gesellschaftlichen Eliten, schon immer begehrt wurden, um alle in der Gesellschaft Unterlegenen zur eigenen Herrschaftsabsicherung einem immer maßloseren und gesteigerten Schrecken zu überantworten.

Gegenüber dem erwachenden Mittelalter, dem Zeitalter der Renaissance, bezeugt unsere so gepriesene Moderne nur, wie deutlich in ihrem täglichen Vollzug die heutige Menschheit weit hinter ihren Möglichkeiten zurück bleibt und das gebotene Glück aller nicht nur nicht einlöst, sondern entgegengesetzt in Form eines nie geahnten Leides potenziert. (1)

Nur von einer Minderheit inzwischen noch einzig utopisch antizipiert, und im Kollektivbewußtsein der Massen längst antiaufklärerisch aufgegeben, kümmert die ehemals revolutionäre Losung des europäischen Bürgertums, jenes unbedingte Verlangen nach „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ für alle Menschen, heute ein klägliches Dasein. Denn wenn auch der „Ballhausschwur“ als ein die widerständigen Kräfte vereinigender nur bis zum Sturz der Feudalmonarchie hielt und die verkündeten Ideale ihren Phrasencharakter bald offenbarten, bekamen die Pariser Armen in Zukunft das eingeforderte Brot und ein Hühnchen für den Suppentopf einmal in der Woche. Dieser frühen Gabe des über den Despotismus des Adels obsiegenden Bürgertums war keine Dauer beschieden. Unter spätkapitalistischen Bedingungen, und gar nach dem Untergang einer ersten „realsozialistischen Alternative“, scheitert heute wie vordem vor allen Augen die einfache naturale Sicherstellung des menschlichen Lebens selbst, die ausreichende Versorgung aller Menschen mit genießbarem Trinkwasser und existenzsichernden Lebensmitteln analog der proportionalen Zunahme eines antagonistischen und weltumspannenden gesellschaftlichen Gesamtverhältnisses. Wenn, wie Jean Ziegler in seinem neuen Welternährungsbericht feststellt, derzeit die Nahrungsproduktion die doppelte Anzahl der Weltbevölkerung sättigen könnte, gleichzeitig und wieder einmal die Anzahl der Hungernden und Verhungernden zugenommen hat, momentan jede Sekunde ein Mensch aufgrund eines Nahrungsmangels stirbt, etwa 100 000 Menschen pro Tag, kann auch ein liberales Denken nicht mehr umhin, in dieser tödlichen Tatsache einen grundlegenden Systemfehler anzumerken. (2)

Nichtsdestoweniger verhallen derartige Appelle an das Gewissen und den nationalen Verstand, einem ausschließlichen Profit-Verdikt des kapitalistischen Steuerungszentrums endlich die menschenwürdigen Zügel anzulegen, seit Jahrzehnten so nutzlos und eigentlich auch unbemerkt und unverstanden, wie aus den Fabriken und dem Maschinenverkehr weltweit der vom Bewußtsein ausgeblendete Rauch der „Verbrennung“ lebendiger Arbeit aufsteigt und damit doch den deutlichen Beweis abliefert für das unangefochtene Prinzip von Ausbeutung und rigoroser Verwertungsabsicht um jeden Preis.

Anzunehmen, eine innere und von den eigenen Widersprüchen angetriebene Systemwiderlegung des Systems selbst, also ein eigener Zerfallsprozeß der kapitalistischen Gesellschaftsmaschinerie brächte die Umkehr, indem der Kapitalismus ohne das Zutun der Menschen sich selbst alsbald auflöse, deutet weniger ein Wissen an, als die zunehmende Ohnmacht des Gedankens.

Wenn auch der intensivierte technologische Fortschritt unter dem Diktat der Konkurrenz immer ausgedehntere Müllhalden von Waren ausstößt und damit jene gewöhnlichen und systemimmanenten Überakkumulationsbedingungen zur Dauerkrise verschärft, ist damit noch lange nicht eine irreversible Verfallsgeschichte des Kapitalverhältnisses im kurzen Intervall bestimmt. Der Kapitalismus zeichnete sich von Beginn an durch eben jene Flexibilität aus, die heutzutage von den Menschen mit unduldsamer Härte eingefordert wird. Antagonistisch werden die eigengesetzlichen Betriebsfehler auf die lebendige Arbeitskraft übertragen. Die unter den angestiegenen Kosten des konstanten Kapitals unter Druck geratene Profitrate reanimiert sich fortgesetzt über eine Verschärfung des Konkurrenzdiktats, welches nicht nur immer rücksichtsloser die Menschen intranational und übernational gegeneinander ausspielt, sondern überdies durch eine Verschiebung des Kräfteverhältnisses zwischen produktivem Kapital und Finanzkapital die Spirale auf immer neuer Stufe entfacht.

Die derzeitige Einschwörung auf eine allseitige gesteigerte Leistungsbereitschaft (bei Lohnverzicht) und einen „deutschen Standort“ zeigt die Richtung an, wie das Kapital die eigenen Verwertungsschwierigkeiten über einen weltweiten Standortkrieg zu entsorgen sucht. Die Destruktionskraft einer gewalttätigen und menschenfeindlichen Ökonomie löst sich aus der sozialstaatlichen Verpuppung, in der sie für eine „goldene“ Zwischenzeit zumindest in den westlichen Wohlfahrtszonen gebändigt schien und wird zum erstarkten Antrieb einer widersprüchlichen gesellschaftlichen Zersetzung. Doch auch wenn alle Menschen gleichbetroffen wie unter einem Bann verharrend pausenlos diese entsetzliche Ökonomie reproduzieren, sind jene „Besitzlosen“, jene, die über ihre „Lebensmittel“ nicht verfügen und deshalb zum Verkauf ihrer Arbeitskraft gezwungen sind, die eigentlichen Opfer. Schon immer unter einem realen und staatlichen Arbeitszwang stehend, sind sie gegenüber den „Besitzenden“ der herrschenden Klasse objektiv die Träger einer möglichen Emanzipation, auch wenn sich ihnen als Menschen einer real enteigneten Klasse subjektiv  das antagonistische Verhältnis verschleiert und die eigene widerständige Kollektivität unverändert nur als gebrochene und selbstschädigende vollzieht. Aber auch schon immer und selbst zu prosperierenden Zeiten war deshalb in der seligen BRD die proklamierte Überführung der Klassen in eine versöhnte „Mittelstandsgesellschaft“ einzig pure Ideologie, welche die Macht des Faktischen zur Ergänzung bedurfte, damit der gesamtgesellschaftliche Betrieb weiter störungsfrei lief. Das Bewußtsein von den gesellschaftlichen Widersprüchen war dennoch nicht völlig zu löschen -  dafür standen die Verhältnisse in ihrer eigenen Widersprüchlichkeit entgegen der  ideologischen Bestrebung von selbst ein. „Auch subjektiv“, schreibt Adorno, „ist das Klassenverhältnis nicht so durchaus beseitigt, wie es der herrschenden Ideologie gefiele. Die jüngste empirische Sozialforschung vermag wesentliche Differenzen von Grundanschauungen der nach gröbsten statistischen Merkmalen als Oberklasse und Unterklasse Bezeichneten herauszuarbeiten. Die minder illusionären , minder ‚idealistischen‘ sind die der Unterklasse.“ (3)

Unter den Bedingungen von allseitiger Herrschaft einer die unbedingte Konformität zum Überlebensprizip erhebenden Vergesellschaftung im Spätkapitalismus, wird die ökonomische Unvernunft zum identitätsbildenden Bestandteil des unterworfenen Individuums selbst und gerinnt in dessen Körper zur Blaupause für jegliche Ausformung von  Gefühlen und Gedanken. Trotzdem ist die Arbeiterklasse als ein mögliches Kollektiv sich befreiender und bewußter Interesse nur komatös und nicht tot. Die sie schon für tot erklärt haben, müssen auf eine Wiederauferstehung in ferne Zeiten deshalb nicht metaphysisch setzen. Das Kapitalverhältnis konstituiert sich durch die Praxis der Menschen in all ihrer Blindheit hier und jetzt. Diese ist widersprüchlich und der Kapitalismus deshalb auch nur widersprüchlich aufzuheben. Eine radikale Linke, die ihren Namen verdient, hätte darüber aufzuklären – und sich in dieser Selbstaufklärung nicht zu vergessen. Denn „subjektiv verschleiert, wächst objektiv der Klassenunterschied vermöge der unaufhaltsam fortschreitenden Konzentration des Kapitals an. Real wirkt er in die Existenz der einzelnen Menschen entscheidend hinein; sonst allerdings wäre der Klassenbegriff ein Fetisch.“ (4)

 

1.   Das Barbarische dieser Verhältnisse zeigt nicht nur die Höhe des Blutzolls der vergangenen technisierten Weltkriege an und das „Unfaßbare“ des vollzogenen Genozids, sondern ebenso auch die Hinnahme der Normalität eines modernen „künstlichen Todes“ als Kollateralschaden technischen Fortschritts. Schon während des Vietnam-Krieges starben auf den Verkehrswegen der USA mehr Menschen als Soldaten auf den Schlachtfeldern. Heute verunglücken weltweit jährlich gut eine Million Menschen tödlich im Straßenverkehr.

2.   Hunger nimmt zu. Bericht zum Welternährungstag in: junge welt vom 18.10.2004

3. Theodor W. Adorno: Soziologische Schriften 1, S.15;Frankfurt a.M. 1979

4. ebenda

Editorische Anmerkungen

Der Text wurde uns vom Autor am 06.12. 2004 zur Veröffentlichung überlassen. Er wurde auf der Website praxis-bestimmte-negation.com erstveröffentlicht..