Die Universalisierung des Terrors

von Werner Seppmann
12/05

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Durch die neue Welle "islamistischer" Attentate könnte der Eindruck entstehen, dass die bisherigen Erklärungsversuche des globalen Terrorismus revisionsbedürftig geworden wären. Ist durch die Londoner Ereignisse nicht jene Interpretationstendenz in Frage gestellt, die in irrationalistisch strukturierten Handlungen eine - wenn auch höchst vermittelte - Reaktion auf die imperialistischen Hegemonialstrategien sieht, die in vielen Teile der Welt zu kriegerischen Konflikten und krisenhaften Sozialentwicklungen geführt haben? Als die Destruktionshandlungen von Menschen ausgeführt wurden, die aus den betroffenen Regionen stammten, schienen Interpretationsmuster plausibel zu sein, die hervorhoben, dass die Bereitschaft zum Attentat als Reaktion auf die zynische Rücksichtslosigkeit des imperialistischen Führungsblocks zu verstehen sei, der um der Sicherung seines Einflusses willen militärisch interveniert, aber auch durch die "Duldung" der terroristischen Palästina-Politik Israels und die Unterstützung der arabischen Ölpotentaten anachronistische Zustände am Leben erhält; der durch die von seinen Interessen geprägte Form der internationalen Arbeitsteilung global die soziale Polarisierung voran treibt und direkt oder indirekt (durch die von ihm beherrschten Institutionen) den abhängigen Weltregionen einen ihren eigenen Interessen widerstrebenden Willen aufdrückt. (1)

Bereitschaft zur Selbstvernichtung

Hat sich mit den Londoner Attentaten die Situation nicht entscheidend verändert, weil die Ereignisse nicht mehr als bloße "Fremdeinwirkungen" klassifiziert werden können? Es drängt sich jedenfalls die Frage auf, was vier junge Männer aus "normalen", relativ gesicherten Verhältnissen dazu motiviert hat, sich in die Luft zu sprengen und ein verheerendes Blutbad anzurichten. Ohne schon allzu viel über die konkreten Entwicklungsstufen auf ihren Weg zum Terrorismus sagen zu können, ist offensichtlich, dass das "Täterprofil" nicht so andersartig ist, wie es auf dem ersten Blick scheinen mag: Die Biographiemuster der Londoner Selbstmordattentäter besitzen in einem entscheidenden Punkt auffällige Parallelen zum Entwicklungsweg der terroristischen Aktivisten von Madrid oder New York. Auch wenn die Attentäter des 11. September nicht in den USA aufgewachsen waren, haben sie doch lange in westlichen Ländern gelebt, ist ihre Destruktions- und Selbstzerstörungsbereitschaft auch durch den konkreten Kontakt mit den Lebensverhältnissen in den kapitalistischen Metropolen stimuliert worden. Den Erfahrungen der Londoner Attentäter nicht unähnlich, wurde die Bereitschaft, sich fundamentalistischen Irrlehren zu öffnen, durch frustrierende Lebenserfahrungen in den imperialistischen Hauptländern gefördert.

Es kann vorläufig nur darüber spekuliert werden, wie konkret die Bedeutung sozialer Ausgrenzungserfahrungen oder auch rassistischer Diskriminierungen bei ihrer Öffnung zu fundamentalistisch-religiösen Orientierungen war. Evident jedoch ist, dass die Täter aufgrund kultureller Fremdheits- und sozialer Entfremdungserfahrungen einen mentalen und emotionalen Ausweg gesucht haben.

Dabei war die Hinwendung zum islamistischen Fundamentalismus nicht so selbstverständlich und zwangsläufig, wie aufgrund des sozio-kulturellen Umfeldes der Terroristen vielleicht zu vermuten wäre. Ihre Eltern hatten offensichtlich zu ihren religiösen Traditionen nur noch ein instrumentelles Verhältnis gehabt: Sie waren auf ihrem eigenen Weg in eine "westliche Moderne". Jedoch gerade deswegen scheinen die Selbstmordattentäter (wie viele andere junge Menschen ihrer Generation) bereitwillig den Fanatikern und Demagogen gefolgt zu sein: Sie haben die Lebenspraxis der Älteren als im höchsten Maße problematisch empfunden und deren Integrationsbestrebungen als gescheitert und die damit verbundenen Säkularisierungstendenzen als Sackgasse wahrgenommen. Hatten sie nicht am eigenen Leibe erlebt, dass durch die Anpassungsbemühungen die erstrebte "Integration" nicht erreichbar war? Sind ihnen trotz einer soliden Ausbildung nicht angemessene Beschäftigungsmöglichkeiten vorenthalten geblieben?

Alltägliche Widerspruchserfahrung

Gleichgültig ob ihre beruflichen Integrationsschwierigkeiten tatsächlich Ausdruck rassistischer Vorbehalte waren: Im Kontext einer von offener und unterschwelliger Fremdenfeindlichkeit geprägten Erfahrungswelt haben sie ihre eingeschränkten Entfaltungsmöglichkeiten als ethnische Stigmatisierung und soziale Zurücksetzung wahrgenommen. Aus dieser Erlebnisperspektive einer zweiten und dritten Generation erscheint die Alltagspraxis der Einwanderergeneration als "Verrat" an ihrer Herkunft und als opportunistischer Verzicht auf ihre kulturelle "Identität". In diesem lebensgeschichtlichen Kontext bot sich der Fundamentalismus als Rückkehr zu verschütteten "Wurzeln" an; er stellte den Enttäuschten und Desillusionierten die Begriffe und Plausibilitätsformeln zur Verfügung, die es ihnen ermöglichte ihre Frustrationserfahrungen zu artikulieren. Die radikalisierte Religiosität wurde für sie zu einer mentalen, aber auch emotionalen Heimat, weil sie sich vom westlichen Modernismus abgestoßen fühlen: "Der Islamismus behauptet sich als geistig-moralische Abwehr der rationalen ‹Entzauberung der Welt›". (2) Diese neue Offenheit für religiöse Orientierungsmuster ist die Kehrseite alltagskultureller Zersplitterungen, die sich als Substanzlosigkeit und Oberflächlichkeit bemerkbar machen. Sie ist ein Widerstandsreflex auf die Erfahrungen sozialer Kälte und die Herrschaft technizistischer Rationalität, eine subjektivistische Antwort auf soziale Verantwortungslosigkeit, die Menschenwürde zur Dispositionsmasse des Verwertungsimperatives verkommen lässt.

Die Öffnung zu fundamentalistischen Positionen ist auch als Reaktion auf den bedenkenlosen Zynismus des herrschenden Blocks zu begreifen, etwa wenn (so wie es in Großbritannien Blair getan hat) die Perspektivlosigkeit der Billiglohnbeschäftigung zum Ausdruck einer prosperierenden Ökonomie verklärt oder die Installierung von Statthalterregimen durch den Begriff "Nationenbildung" kaschiert wird.

Normative Leerstellen

Aus diesem mehrschichtigen Prozess sozio-kultureller Abstoßungserfahrung und religiös-fundamentalistischer Anpassungs- und Kompensationsbemühungen lässt sich jedoch alleine nicht erklären, weshalb die Täter den zum Terrorismus führenden Radikalisierungsprozess durchlaufen haben, warum sie vom religiös-fundamentalistischen Fanatismus erfasst wurden und letztlich auch die Bereitschaft entstanden ist, ihr Leben auf seinem Altar zu opfern. Denn dass in den Schulen Pakistans und den religiösen Kaderschmieden Afghanistans der "Dschihad" gelehrt wird, erklärt noch nicht, weshalb junge Männer, die in den entwickelten kapitalistischen Ländern aufgewachsen sind, in den Sog religiöser Indoktrinationssysteme geraten. Offen bleibt, was letztlich den Bruch verursacht und die Wende zu einer regressiven und zur Selbstvernichtung führenden Verarbeitung ihrer sozio-kulturellen Widerspruchserfahrungen bewirkt hat.

Evident ist jedoch, dass die fundamentalistischen (Des-)Orientierungen ihre Durchschlagskraft nur in einem doppelten Orientierungsvakuum entfalten konnten, das einmal durch die normativen Leerstellen gekennzeichnet ist, die im Prozess einer fortschreitenden "Endtraditionalisierung" innerhalb der Migranten-Subkulturen entstanden sind, das jedoch zusätzlich durch das manifeste Gefühl der Ratlosigkeit, das für die Metropolengesellschaften insgesamt charakteristisch geworden ist, verstärkt wird: In allen entwickelten kapitalistischen Ländern haben sich normative Desorientierungen und resignative Grundstimmungen ausgebreitet, die nicht nur aus den ökonomischen Stagnationstendenzen, den drängenden Arbeitsmarktproblemen und gesellschaftlichen Spaltungstendenzen resultieren. Der Verweis auf die sozial-destruktiven Konsequenzen eines "deregulierten" Kapitalismus, der traditionelle Schutzräume zerstört und mit seinem System existenzieller Verunsicherung psychische Identitätsstrukturen bedroht, aber auch traditionelle Kulturen zerstört und die ganze Welt mit (s)einer hohlen Kommerz-"Kultur" überzieht, reicht zur Erklärung der herrschenden Orientierungs- und Perspektivlosigkeit nicht aus - zumal sie keineswegs nur in einzelnen Sozialsegmenten virulent sind, sondern die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit prägen. Denn Herrschende und Beherrschte verbindet gleichermaßen ein beunruhigendes Unbehagen und die Ratlosigkeit darüber, wie es weiter gehen soll. Die gesellschaftliche Krise wirkt so intensiv, weil sie mit einer Krise der Alternativen einhergeht.

Hegemonie des herrschenden Denkens

Durch den Zerfall traditioneller Kulturen des Widerstandes konnte das Denken des hegemonialen Blocks tonangebend werden. Die herrschenden Klassen wussten die krisenverursachte Verunsicherung der Arbeiterklasse zu nutzen, nicht nur um radikalisierte Verwertungs- und Ausbeutungsstrategien durchzusetzen, sondern auch, um das Verständnis der gesellschaftlichen Probleme in ihrem Sinne zu formen. Die private Aneignung des gesellschaftlichen Mehrprodukts wird durch die herrschaftskonforme Zurichtung des Massenbewusstseins komplettiert. Aber dieser Sieg über das Denken und die Phantasie der Subalternen ist ein Pyrrhussieg. Durch die Bewusstseinsformierung wird jegliche Form kritischen Denkens marginalisiert; die Zukunftsperspektive bleibt ausgesperrt, sobald sie die Vorstellung einer ewigen Perpetuierung des Bestehenden in Frage stellt. Durch diese ideologische Disposition fehlt die Basis für gesellschaftspolitische Problematisierungen, an denen der Kapitalismus zum Zwecke seiner Erneuerung partizipieren könnte, wie es in den Jahrzehnten der ökonomischen Prosperität der Fall gewesen ist. (3) Seine Protagonisten operieren mit Schwarzweißmustern und reagieren nur noch in Kategorien der Konfrontation. Zur Legitimation ihres Handelns schaffen sie sich propagandistisch ihre "Gegner". Die imperialistischen Eliten schüren weltweit Konflikte, um ihren Einfluss zu sichern. Die Profilierung religiös-fundamentalistischer Positionen wird von ihnen dabei billigend in Kauf genommen (die geistigen Väter des islamistischen Terrorismus haben ihre Feuertaufe mit eifriger US-amerikanischer Unterstützung im Kampf gegen eine fortschrittliche Gesellschaftsentwicklung in Afghanistan erhalten).

Ökonomie der Gewalt

Die fehlende Zukunftsorientierung und die Unfähigkeit zu allgemeinverträglicher politischer Gestaltung ergänzen sich. Die Kehrseite einer stillgestellten Gestaltungsfähigkeit ist die skrupellose Wahrnehmung von Partialinteressen. Die Schamlosigkeit, mit der die herrschenden Eliten (in den einzelnen Ländern mit unterschiedlicher Intensität, aber mit der gleichen Tendenz zur Bedenkenlosigkeit) im nationalstaatlichen Rahmen um ihre Privilegien kämpfen, wird nur noch durch die Aggressivität ihrer Hegemonialstrategien nach außen und dem kalten Zynismus, mit dem sie diese rechtfertigen, übertroffen. Asoziales Handeln wird durch dieses "Vorbild" gesellschaftsfähig; die Verallgemeinerung von Korruption, egozentrischem Durchsetzungswillen und interessenzentrierter Bedenkenlosigkeit höhlen alle Gemeinschaftsorientierungen aus: "Wie saurer Regen sickern der Zynismus und die Amoral der großen Beutejäger von der Spitze der Pyramide zur mittleren Ebene durch." (4) Es ist Ausdruck strategischer Grundentscheidungen, dass die US-Regierung in der UN-Menschenrechtskommission gegen die Festschreibung aller sozialen und kulturellen Rechte opponiert. Die selbsternannten Kreuzzügler für die "Menschenrechte" weigern sich, den unveräußerlichen Anspruch auf Ernährung und Gesundheit, auf eine menschenwürdige Unterbringung und auf eigenständige soziale Entwicklungswege zu kodifizieren.

Auf die globale Katastrophenentwicklung wird mit demonstrativer Gleichgültigkeit reagiert, zum Ausdruck gebracht, dass an einer Veränderung kein Interesse besteht. Mit zynischer "Gelassenheit" wird in Kauf genommen, dass "Hunger, Seuchen, Durst und armutsbedingte Lokalkonflikte ... jedes Jahr fast genau so viele Männer, Frauen und Kinder [zerstören] wie der Zweite Weltkrieg in sechs Jahren". (5)

Das reibungslose Funktionieren des neuen "globalisierten" Systems der Arbeitsteilung schließt den militärischen Interventionswillen mit ein. Das haben mittlerweile auch "bildungsbürgerliche" Beobachter des Weltgeschehens mit einem Ausdruck der "Überraschung" zur Kenntnis genommen: Ein "Wille zur Beschleunigung ist ein weiteres Merkmal der neokapitalistischen Ideologien, das sie mit den totalitären Bewegungen der Vergangenheit teilen. Sie wollen keineswegs zusehen, wie sich das siegreiche Beispiel der westlichen Wirtschaftsweise von selbst über die Welt ausbreitet, vielmehr soll es durch erpresserisch angetragene Freihandelsabkommen, in Fällen besonders störrischer Länder auch durch Krieg vorangebracht werden." (6) Im globalen Maßstab verallgemeinert sich somit ein Zivilisationstyp, der von Europa seinen Ausgang genommen hat und "auf Unterwerfung, Eroberung und Herrschaft gründet, [so] dass seine Geschichte, auch wo sie zivilisatorischen Fortschritt verkörpert, zugleich eine Geschichte der Gewalt ist." (7)

Die militärische Intervention ist zu einer Fortsetzung der Tagespolitik mit anderen Mitteln geworden. Nicht erst seit dem zweiten Irakkrieg wird auf "vorzivilisatorische Praktiken" (E. Krippendorf) zurückgegriffen, seit dieser Zeit aber - ohne einen ernsthaften Versuch zu unternehmen es zu kaschieren - offener Staatsterrorismus praktiziert. (8)

Autoritäre Formierung

Die aggressive Machtpolitik wird durch eine Delegitimierung des politischen Systems des Hegemons (aber auch das seiner unmittelbaren Vassallen, die darüber schweigen und auch das völkerrechtswidrige Handeln noch rechtfertigen) komplettiert: Selbst der formaldemokratische Charakter des US-amerikanischen Systems ist zunehmend in Frage gestellt. Die Ermächtigungsgesetze für den Präsidenten (die parlamentarischen Instanzen haben selbst die Entscheidung über Kriege aus der Hand gegeben) und die bürgerlichen Grundrechte (einschließlich des Streikrechts) durch die "Anti-Terrorgesetze" unter Vorbehalt gestellt. Die Vereinigten Staaten operieren beim "Kampf gegen den Terrorismus" mit Todeslisten, lassen foltern und haben ein Konzentrationslagersystem als rechtsnihilistische Zone aufgebaut: Wer in ihnen verschwindet, dem stehen keine juristischen Mittel der Gegenwehr mehr zur Verfügung. Es gibt also triftige Gründe der US-Regierung, das Statut des Internationalen Strafgerichtshof nicht zu unterzeichen und für ihre Generäle, Soldaten, Gefängnisaufseher und Geheimagenten einen (völker-)rechtsfreien Raum zu reklamieren.

Der Abschied von den bürgerlich-zivilisatorischen Selbstverpflichtungen findet seine Entsprechung in autoritären Formierungstendenzen, einer Bereitschaft zur Installation umfassender Kontrolle und der partiellen Suspendierung von Menschen- und Verfassungsrechten in allen anderen Ländern des hegemonialen Blocks. Dieser "bürgerliche Verrat an den Ideen, Prinzipien, Leitbegriffen der ‹kulturellen Moderne›, die einen reichhaltigen Fundus für die Ausprägung einer postreligiösen humanistischen Moral und Werterziehung bereitstellen, hat die Reaktivierung des Religiösen schubweise zur herrschaftsideologischen Ultima ratio werden lassen." (9) Fundamentalistische Orientierungen und imperiale Strategien gehen eine unheilige Allianz ein: Die Blair-Regierung hat auf die terroristischen Aktionen mit einem Großangriff auf die Bürgerrechte (die seit Jahren schon schleichend ausgehöhlt werden, etwa durch 2 Millionen Überwachungskameras, die in Großbritannien installiert sind) reagiert. Wer als "Feind der nationalen Sicherheit" eingestuft wird, kann 14 Tage (die Frist soll bis auf 3 Monate erweitert werden) ohne richterliche Anordnung und Überprüfung eingesperrt werden. Auch sollen Terror-Geheimgerichte installiert werden.

Die als "Sicherheitskonzepte" kaschierten autoritären Formierungstendenzen sind überall mehrheitsfähig: Die Menschen reagieren mit ihrer Zustimmung nicht nur auf die faktische Bedrohungslage; es wächst auch die Bereitschaft, sich einer "starken Hand" zu unterwerfen, die verspricht, wieder "Ordnung" in das durcheinander geratene Leben zu bringen.

Imperialismus und Fundamentalismus

Durch den Einfluss fundamentalistischer "Schulungen" öffnet sich auch für die jungen Menschen in den kapitalistischen Metropolenländern, die in den islamistischen Traditionskontexten aufwachsen, eine Vorstellung von der imperialistischen Überformung der Welt. Alle Paradoxien der Modernisierungs- und Anpassungsentwicklungen, die in den peripheren Ländern stattfinden (die natürlich auch etwas mit der "Globalisierung", aber nicht weniger auch mit den sehr häufig patriarchalisch-autoritären Regimen zu tun haben), werden dem zu einem abstrakten Symbol des "Bösen" verdichteten Gegner zugeschrieben. In diesem Sinne ist "der Dschihad ... eine blindwütige Reaktion auf Kolonialismus und Imperialismus und deren ökonomische Abkömmlinge Kapitalismus und Modernität". (10)

Dieses Reaktionsmuster ist verkürzt, weil es die Rolle der Eliten in den von ihnen repräsentierten vorbürgerlichen (und in der Tendenz damit auch vor-aufklärerischen) Gesellschaften ausblendet. Dennoch ist es eine - wenn auch verzerrte - Reaktion auf den globalen Prozess der Fremdbestimmung, der für die Muslime seinen besonders provokanten Ausdruck in der militärischen Präsenz der USA in den arabischen Ländern findet. Der Weg einer "Selbstbestimmung" qua Rückbesinnung auf eine vermeintliche religiöse "Authentizität" ist natürlich illusionär, aber dennoch überzeugungsfähig, weil sie auf überlieferte Dogmen und kulturell vermittelte Rituale der Unterwerfung aufbaut.

Fortschritt und Barbarei

Den abhängigen Regionen werden Formen des ökonomischen Handelns, gesellschaftliche Entwicklungsstrategien und Kulturmuster aufgezwungen, die schon in den kapitalistischen Kernländern ein fragwürdiges Doppelgesicht gezeigt haben. Zivilisierung und Barbarei sind nur die beiden Seiten der gleichen Medaille. Denn "Kapitalismus" ist mehr als nur Ökonomie: Er ist ein Funktionszusammenhang, der sich "universal" zur Geltung bringt und auch das Denken und Fühlen der Menschen, ihre Wahrnehmungsmuster und Reaktionsweisen prägt. Er steigert ihre formale Handlungskompetenz, instrumentalisiert die Menschen aber auch im Sinne effektiver Kapitalverwertung. (11)

Analytisch muss zwar zwischen antizivilisatorischen Entwicklungen in den "Zentren" und den abhängigen Regionen unterschieden werden, dennoch relativieren sich in der "globalisierten" Welt die Unterschiede. Die Zonen des ökonomischen Elends und/oder des zivilisatorischen Zerfalls dehnen sich mit großer Geschwindigkeit aus. Staatliche Strukturen erodieren und werden immer häufiger durch bandenmäßige Organisationszusammenhänge ersetzt. (12) Auch dort, wo die Vereinnahmung durch den "Weltmarkt" nicht zur Massenverelendung geführt hat, werden die Menschen durch die Bedrohung und Zerstörung traditioneller Subsistenzstrukturen verunsichert. Die kapitalistisch determinierte Auflösung aller "festen, eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen" (13) bildet die Basis von Radikalisierungsprozessen. Der fundamentalistischen Indoktrinierung steht ein Millionenheer von arbeitslosen Jugendlichen, aber auch der um seine Existenz gebrachte Kleinhändler zur ideologischen "Bearbeitung" zur Verfügung.

In vielen Teilen der Welt hat sich als Konsequenz der Verelendungs- und Entwurzelungstendenzen eine "Kultur der Gewalt" verallgemeinert. Sie ist ein weiterer Ausdruck der von den Eliten des Metropolenkapitalismus geführten Kampfes gegen alternative Entwicklungen, die fast auf dem ganzen afrikanischen Kontinent und in vielen Teilen Südamerikas zum zivilisatorischen Zusammenbruch, im arabischen Raum zur Festigung vormoderner, absolutistisch-autokratischer Herrschaftsverhältnisse geführt haben. "In aller Kürze lässt sich sagen, dass der ‹Terrorismus› ... das ist, was auftaucht, nachdem sowohl die kommunistische Linke als auch der säkulare antinationale Nationalismus besiegt worden sind., während das Problem des Imperialismus ungelöst geblieben und wichtiger denn je geworden ist. Hass tritt an die Stelle revolutionärer Weltanschauung." (14)

Durch "die alternativlose Durchsetzung eines Flexibilisierungszwanges, der beispielsweise eingelebte soziale Lebens- und sozialisatorische Entwicklungsrhythmen zerstört" (15) , wird das Bedürfnis nach irrationalistischen Weltbildern gefördert. (16) Es duplizieren sich in den "Zentren" und der Peripherie die Entwicklungen: Wir erleben hier wie dort eine Renaissance rückwärtsgewandter Orientierungen und verschiedener Spielarten des "Fundamentalismus". Denn es sind nicht nur die islamischen "Gotteskrieger", die auf die tiefgreifenden Veränderungen ihrer Lebensverhältnisse mit "fundamentalistischen" Einstellungen reagieren. Die Sehnsucht nach tröstenden Gewissheiten (verstärkt auch wieder in religiöser Hülle) hat auch in den Industriegesellschaften zugenommen, denn eine Mehrheit der Menschen in den Wohlstandszonen reagiert nicht nur mit Unbehagen, sondern mit zunehmender Angst auf die krisenhaften Veränderungen.

Inszenierung des Ausnahmezustands

Es ist kein Ausdruck der Stärke, dass der gegenwärtige Imperialismus den permanenten Ausnahmezustand inszenieren muss, um global im Sinne seiner tatsächlichen oder vermeintlichen Interessen agieren zu können. Seine Machtposition ist (ironischerweise im Moment ihrer scheinbar höchsten Entfaltung) jedoch nicht nur aus strukturellen Gründen fragil, denn auch sozio-kulturell ist der Hegemon ausgehöhlt. Er hat weder ein zivilisatorisches noch ein überzeugendes Sozialmodell anzubieten und seine Eliten sind ebenso verunsichert wie ratlos.

Die Intensität der Konflikte zwischen neo-imperialistischen Protagonisten und der "Peripherie" ist selbst Ausdruck einer fundamentalen Krise des kapitalistischen Weltsystems. Da der Neo-Imperialismus kaum in der Lage ist, durch sein "Vorbild" zu wirken, muss er den militärischen Aktivismus ("Kampf gegen den Terror") verabsolutieren.

Bei der Beschäftigung mit der sozialen "Erlebniswelt" der Londoner Terroristen und der Entwicklung ihrer Frustrationssyndrome sollte nicht unberücksichtigt bleiben, dass die herrschende Klasse Großbritanniens als erste (auf den Spuren des transatlantischen "Vorbildes") den "Klassenkampf von oben" forcierte und die Vergrößerung der sozialen Ungleichheit zum politischen Programm erhob. Die Präkarisierung ist in der Arbeitswelt weit vorangeschritten: Nur jeder sechste Beschäftige hatte 2001 einen Vollarbeitsplatz. Mit Privatisierungsstrategien nach US-amerikanischen Konzepten wurden große Teile der Infrastruktur an den Rand der Funktionsfähigkeit manövriert (Eisenbahn, Wasser- und Stromversorgung) und kulturelle Einrichtungen sozialen Privilegierungsrastern (Schulen und Universitäten) oder kommerziell motivierten Primitivisierungsstrategien (Medienunterhaltung) unterworfen. Für die Mehrheit der Bevölkerung blieb in allen Fällen nur das Minderwertige übrig.

Durch die Privatisierungsoffensiven konnte die kommerzialisierte, nach dem Schema des kultur-industriellen Komplexes Nordamerikas geprägte Massen-"Kultur" der Belanglosigkeit und Infantilisierung (bei einer gleichzeitigen Tendenz zur Gewaltverherrlichung und Obszönität) sich global verbreiten.

Gewalt aus der "Mitte" der Gesellschaft

Unmittelbar ist die Eskalation des Terrors aus den zivilisatorischen Verfallstendenzen im Herrschaftsbereich des Hegemons nicht "abzuleiten"; jedoch nur, wenn sie als wesentliche Momente mit in Rechnung gestellt werden, wird der Zerstörungsdrang (und die an ihm gekoppelte Obsession der Selbstvernichtung) der vom Gesellschafts- und Kultursystem einer kapitalistischen "Moderne" abgestoßenen Aktivisten verständlich - auch wenn er dadurch nicht legitimiert wird! Natürlich besitzt darüber hinaus der religiös motivierte Fundamentalismus eine verstärkende Rolle. Es greift diese Ablehnung auf und lenkt sie in die Form einer "regressiv-aktivistischen Krisenbewältigung" (H. Krauss) um.

Die durch die Erfahrungen imperialer Fremdbestimmung fundierten Reaktionen sind äußerst heterogen: In vielen Fällen ist der Islam nur ein äußerlich identitätsstiftendes Band. Seine Aggressivität ist immer nur potentiell: Zur sozialen Destruktionskraft wird er als unreflektierte Reaktion auf den "Fundamentalismus" der Kapitalakkumulation, der in alle Nischen einzudringen versucht und auch noch die letzten Reservate kulturellen Eigensinns bedroht; stimuliert wird der selbstdestruktive Widerstand durch eine globale Kahlschlagpolitik und ein blindes imperiales Agieren, das mit jedem Versuch, ein Problem zu beseitigen, nur unzählige neue schafft.

In diesem Beziehungsgeflecht von Gewalt und Verdrängung, Existenzängsten und Lebenslügen, Entwurzelungserfahrungen und rückwärtsgewandten Erlösungshoffnungen ist Terror nicht ein die "normalen" Lebensprinzipien negierendes Gegenprinzip, sondern "der übersteigerte Ausdruck einer auf Gewalt beruhenden Gesellschaft und zugleich die Antwort auf sie". (17) Die Selbsttötungsbereitschaft ist ja nicht auf die Attentate in Madrid, London und New York beschränkt. Sie ist zu einem "normalen" Mittel des Widerstands im Irak oder im Palästina-Konflikt geworden. Jenseits individualpsychologischer Erklärungen (die versuchen müssten, begreiflich zu machen, welche psychischen Verarbeitungswege der Bereitschaft zur Selbsttötung zugrunde liegen) kann als strukturelle Gemeinsamkeit ein Gefühl der Machtlosigkeit unterstellt werden. Diese Unterlegenheitsvorstellung kann durch die terroristische Selbstmordbereitschaft kompensiert werden, denn "wer bereit ist zu sterben, erlangt eine außergewöhnliche Art von Macht". (18)

In der terroristischen Aktion spiegelt sich die dem kapitalistischen Weltsystem inhärente Gewalt: In der Gestalt der zur Selbstzerstörung bereiten Täter schlägt sie auf den ursächlichen Zusammenhang zurück.

Anmerkungen

1 Vgl.: W. Seppmann, Hegemonie und Barbarei, in: Marxistische Blätter, H. 6/2001, Sonderheft "Globalisierung der Barbarei. Die Welt nach Manhattan"
2 H. Krauss, Faschismus und Fundamentalismus. Varianten totalitärer Bewegung im Spannungsfeld zwischen ‹prämoderner› Herrschaftskultur und kapitalistischer ‹Moderne›, Osnabrück 2003, S. 215
3 Vgl.: L. Boltanski/E. Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz 2003
4 J. Ziegler, Die neuen Herrscher der Welt und ihre globalen Widersacher, München 52003, S. 85
5 Ebd., S. 104
6 J. Jessen, Fegefeuer des Marktes, in: Die Zeit, Nr. 30, 2005, S. 33 f.
7 Th. Metscher, Europa und die Gewalt, in: N. Peach u.a. (Hg.), Völkerrecht statt Machtpolitik. Beiträge für Gerhard Stuby, Hamburg 2004, S. 204
8 Vgl.: M Chossudowsky, Global brutal. Der entfesselte Welthandel, die Armut, der Krieg, Frankfurt/M. 52002
9 H. Krauss, Globale Krisenverschärfung, interkulturelle Herrschaftsdialektik und der zunehmende Verfall einer fortschrittlichen Gegenbewegung, in: Hintergrund. Zeitschrift für kritische Gesellschaftstheorie und Politik, Nr. II/2005, S. 43
10 B. R. Barber., Coca Cola und Heiliger Krieg. Der grundlegende Konflikt unserer Zeit, Bern, München und Wien 2001, S. 15
11 Vgl.: W. Seppmann, Die Aktualität der Kapitalismuskritik, Essen 2003
12 Der beschränkte Horizont eines herrschaftskonformen Denkens zeigt sich regelmäßig in der Unfähigkeit Ursache und Wirkung auseinander zu halten. So will aktuell Münkler, den Teufel mit Belzebub austreibend, im US-amerikanischen Neo-Imperialismus ein geeignetes Mittel sehen, um der globalen Destabilisierung, dem Staatenzerfall und der "Bedrohung des Westens" Einhalt zu bieten (vgl.: H. Münkler, Imperien. Die Logik der Weltherrschaft - vom alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten, Berlin 2005).
13 Marx-Engels-Werke, Bd. 4, S. 465
14 A. Ahmad, "Eine Aufgabe, die niemals endet". Bush empfiehlt den permanenten Krieg, in: Marxistische Blätter 6/2001, S. 34
15 W. Heitmeyer, Autoritärer Kapitalismus, Demokratieentleerung und Rechtspopolismus, in: D. Loch/W. Heitmeyer (Hg.), Schattenseiten der Globalisierung, Frankfurt/M. 2001, S. 2001
16 Vgl. meinen Beitrag "Zur ‹Logik› irrationalistischer Weltbilder" in diesem Heft.
17 T. Rothschild, Die Ordnung des Terrors, in: Freitag,
Nr. 18, 1995
18 P. Páramo-Ortega, Das Unbehagen an der Kultur, München 1985, S. 119


 

Editorische Anmerkungen

Dieser Artikel erschien in MARXISTISCHE BLÄTTER 5-05 ist eine Spiegelung von http://marxblaetter.placerouge.org/2005/05-5-18.html