Eine „Rückkehr zu einer normalen Verkehrssituation“ wurde am gestrigen
Donnerstag bei der französischen Bahngesellschaft SNCF bekannt gegeben. Der
landesweite Ausstand der Eisenbahner/innen, der am Montag dieser Woche um 20 Uhr
(als „unbefristeter und alle 24 Stunden per Votum in den Streikversammlungen
verlängerbarer“ Streik) begonnen hatte, war im Laufe des Mittwoch zunehmend
abgebröckelt. In den jeweiligen Vollversammlungen hatte ein Bahndepot nach dem
anderen für die Wiederaufnahme der Arbeit gestimmt: Toulouse, der
Bahnknotenpunkt Villeneuve-Saint-Georges (südöstlich bei Paris), ...
Die „heibe
Phase“ des landesweiten Arbeitskampfs der Bahnbeschäftigten hat also nur 24
Stunden, im Laufe des Dienstag, angedauert. Die verhältnismäbig
schnelle Beendigung des Streiks hängt unmittelbar mit zwei Faktoren zusammen:
der mäbigen
bis relativ geringen aktiven Teilnahme an ihm einerseits, und den am Dienstag
durch die Bahndirektion vorgenommenen Zugeständnissen andererseits.
Die
Verhandlungsergebnisse
Fangen wir bei
den Zugeständnissen an. Als Ergebnis eines fünfstündigen Treffens zwischen
SNCF-Vertretern und den Gewerkschaften am Dienstag wurde in den Radionachrichten
und anderen Medien zunächst vor allem berichtet, die Direktion habe 0,3 %
Lohnerhöhung (ab dem 1. Januar 2006) sowie die Zahlung einer
Einmal-Sonderzahlung in Höhe von 120 Euro eingeräumt. Ferner werden für das
kommende Jahr 700 Neueinstellungen bei der Bahngesellschaft SNCF zugesagt.
Die 120 Euro
an einmalig auszuschüttender Prämie kommen zu den (für zwei Jahre
zusammenkommenden) Lohnprämie von 400 Euro für die beiden Jahre 2004 (160 E) und
2005 (240 E) hinzu. Es handelt sich um eine Gewinnbeteiligung für die abhängig
Beschäftigten, welche die Direktion bereits vor Beginn des Streiks angeboten
hatte, aber die durch die Mehrheitsgewerkschaft CGT in dieser Form oder Höhe
abgelehnt worden war. Unklarheit entsteht allerdings durch eine Äuberung von
SNCF-Präsidednt Louis Gallois, der am Donnerstag im öffentlichen Fernsehsender
France 2 erklärte: „Es handelt sich nicht um eine neue (zusätzliche)
Ausgabe gegenüber dem, was wir (ohnehin) hätten tun müssen, da ein Abkommen über
Lohnanreize durch Prämien/Gewinnbeteiligung in Kraft ist“. Gleichzeitig stellt
die SNCF-Direktion jetzt Neuverhandlungen über die Lohnzulagen in Aussicht,
freilich ohne nähere Präzisierung.
Den Lokführern
werden ihrerseits „Neuverhandlungen“ zum Thema der Nachtarbeit zugesichert. Die
Abwehr des Vorhabens der Bahndirektion, in Bälde die Nachtschicht der
Lokführer/innen von 4 auf 6 Stunden zu verlängern, hatte die Hauptforderung
ihrer Berufsgruppengewerkschaft FGAAC gebildet. (Die FGAAC hatte sieben
spezifische Forderungen für ihre Berufsgruppe aufgestellt, neben den 16
allgemeinen und alle Bahnbeschäftigten betreffenden Punkten, die im
Forderungskatalog der zum Streik aufrufenden Gewerkschaften standen.) Die
näheren Konturen und Ergebnisse dieser Verhandlungen muss man nun abwarten.
Von einem Punkt der Zugeständnisse der
Direktion war in den Medienberichten nicht so viel die Rede: Während im Vorfeld
des Streiks relativ viel darüber berichtet wurde, die Gewerkschaften wehrten
sich gegen eine „schleichende Privatisierung“ (obwohl vielerorts in den Medien
gleichzeitig auch behauptet wurde, es gebe keine Privatisierungsdrohung), war
von diesem Thema im Nachhinein kaum noch die Rede. Die Medieninformationen
beschränkten sich weitgehend auf die lohnpolitischen Zugeständnisse. Dabei gibt
es zumindest eine nicht unwichtige Neuerung in Sachen Filialisierung und (sektorenweiser)
Privatisierung zumindest der Rechtsformen bei der Bahngesellschaft: Die
bisherige Filiale iD TGV, die für den Internet-Verkauf der Tickets für die
Hochgeschwindigkeitszüge (TGV) verantwortlich war und deren Beschäftigte nicht
unter dem Eisenbahner-Statut, sondern ausschlieblich
mit privatrechtlichen Verträgen eingestellt waren, wird nun aufgelöst. Ihre
Beschäftigten müssen in die allgemeinen Strukturen der Bahngesellschaft
integriert werden. Damit wird die Tendenz hin zur Filialisierung und Auslagerung
von Tätigkeiten aus dem „Kerngeschäft“ der SNCF nicht beendet sein. Der
Internet-Verkauf der Tickets muss aber vorläufig wieder durch die
Bahngesellschaft selbst übernommen werden, was vielen GewerkschafterInnen
zumindest als wichtige symbolischer Sieg gilt.
In der Gesamtschau sehen die Ergebnisse des
Streiks, jedenfalls so wie sie in den Medien präsentiert werden (mit einer
Konzentration auf die rein lohnpolitischen Aspekte), eher mager aus. Hingegen
meint Annick Coupé, die Sprecherin des Dachverbands der linken
Basisgewerkschaften SUD-Solidaires, im Gespräch mit dem Autor dieser Zeilen (am
Donnerstag), diese Ergebnisse seien nicht so schlecht. Jedenfalls, wenn man die
relativ schwache Streikbeteiligung berücksichtige, sei das mutmabliche
Maximum an Zugeständnissen herausgeholt worden: Angesichts einer nicht
sonderlich gut angelaufenen Streikbewegung hätte bei einer Fortführung des
Ausstands über mehrere Tage hinweg die reale Gefahr bestanden, dann mit einer
totalen Niederlage und entsprechenden Frustrationen und Enttäuschungen zu enden.
Die Garantie der Neueinstellung von 700 Beschäftigten und die Auflösung der
Filiale iD TGV sind für Annick Coupé die wichtigsten Zugeständnisse, die
herausgeholt werden konnten.
Streikbeteiligung: eher schwach
Der entscheidende Knackpunkt liegt
selbstverständlich darin, dass der Arbeitskampf (auf Beschäftigtenseite) nicht
sonderlich gut anlief. Am Dienstag gab die SNCF-Direktion eine Streikbeteiligung
von „22,8 Prozent“ an. Die Eisenbahner-CGT bestritt diese Angaben der Direktion
(wie oftmals) und nannte andere, jedoch nicht so präzise Zahlen; sie sprach von
einer Teilnahmequote von „rund 30 Prozent“. Bei jedem gröberen
Eisenbahnerstreik gibt es diesen Streit um die Beteiligungszahlen. Es scheint
aber, dass die Auswertung durch die Pariser Abendzeitung „Le Monde“ kaum
bestritten werden kann, derzufolge es sich um drittniedrigste Beteiligung an
einer Streikbewegung bei der französischen Bahn in den letzten 10 Jahren
handelt; während dieses Zeitraums wurden insgesamt 22 Streikbewegungen bei der
SNCF verzeichnet.
Am Mittwoch sprach die Direktion noch von 10
Prozent Streikbeteiligung, während der Ausstand allgemein abbröckelte.
Abweichende Zahlenangaben sind jedenfalls dem Autor nicht bekannt.
Die Gründe für dieses relativ schwache Anlaufen
des Arbeitskampfs müssen analysiert werden. Neben einer möglichen gewissen
Ermüdung der Beschäftigten (es handelte sich um den sechsten Streikaufruf in
diesem Jahr 2005 bei der SNCF) spielt sicherlich der eiskalte Wind, der diesem
Ausstand aus dem Grobteil
der Medien und mindestens einem relevanten Teil der – wahrnehmbaren –
öffentlichen Meinung entgegen schlug, eine wichtige Rolle. Ein gewisses
Misstrauen hinsichtlich der („politisch motivierten“) Taktiken, die durch die
Gewerkschaftsapparate aus Eigeninteresse verfolgt würden, konnte bis hinein in
Teile des SNCF-Personals verankert werden.
Die Mehrheitsgewerkschaft CGT muss im März 2006
die Personalratswahlen überstehen (und will deswegen dem kämpferischen
Konkurrenten SUD Rail – SUD Schienenverkehr – nicht allein das Feld überlassen,
so hieb
es vielerorts), und im April 2006 steht der Kongress des Dachverbands CGT auf
der Tagesordnung. Die Führung des Dachverbands benötigt für eine Wiederwahl
sicherlich ein halbwegs sichtbares Symbol (wie ein erfolgreicher Streik bei der
SNCF es wohl gewesen wäre), vor allem nach ihrem offenkundigen Looser-Kurs in
Sachen Privatisierung von Electricité de France, die jüngst erfolgte.
Paradoxerweise kann das Ausbleiben des sichtbaren Erfolgs bei diesem Streik
jedoch eher noch die aktuelle Führung unter CGT-Generalsekretär (und
Ex-Eisenbahner) Bernard Thibault stärken. Dies deswegen, weil viele
Eisenbahner-Sektionen, namentlich die starken Verbände im Raum Marseille und in
Seine-Saint-Denis (Pariser Vorstädte), der radikaleren oder auch
traditionskommunistischen Opposition innerhalb des Dachverbands CGT nahe
stehen.
Insofern hatte vor allem die CGT sicherlich auch
eigene, in ihrer Apparatlogik begründete Interessen mit dem Streik verbunden.
Dies erklärt jedoch nicht hinreichend, warum der Arbeitskampf auch durch andere
Gewerkschaften unterstützt, bei der Bahngesellschaft SNCF trugen ihn immerhin
vier gröbere
Gewerkschaften (CGT, SUD-Rail, Force Ouvrière und die Berufsgruppengewerkschaft
der Lokführer FGAAC). Es gab auch wichtige inhaltliche Gründe für den Streik,
namentlich im Hinblick auf die drohende „schleichende Privatisierung“. Auch wenn
dies relativ schwer vermittelbar erschien, nachdem SNCF-Präsident Louis Gallois
und führende Politiker „schriftliche Garantien“ gegen eine Privatisierung der
SNCF (welche für deren Kerngeschäft aber ohnehin nicht erwartet worden wäre)
abgegeben hatten. Der aktuelle Bahnchef Louis Gallois, der persönlich ein
Anhänger des republikanischen Linksnationalisten Jean-Pierre Chevènement und
damit sicherlich eher ein Freund von Staatsintervention ist, mag als
Privatperson sogar dabei glaubwürdig sein: Er dürfte sich höchstwahrscheinlich
auch nicht für eine klare Privatisierung begeistern. Am sukzessiven Eindringen
privatkapitalistischer Interessen in diesen Sektor, und damit auch in die
Bahngesellschaft selbst (insbesondere im Zuge ihrer Filialisierung), vor dem
europaweiten Kontext im Transportsektor dürfte dies aber nichts ändern.
Eine Schlüsselrolle für die gedämpfte
Mobilisierung bei dem Streik spielte sicherlich auch die Furcht vieler
Beschäftigten, in einen Konflikt hineingezogen zu werden, dessen (erfolgreiches)
Ende nicht abzusehen ist. Die gröberen
Streikbewegungen der letzten Monate haben doch gezeigt, so hat es jedenfalls den
Anschein, dass die Ausstände entweder mit einer bitteren Niederlage nach
längerem Kampf enden (wie bei der Marseiller Schifffahrtsgesellschaft SNCM).
Oder aber dass die Gegenseite wochenlange Konfliktsituationen, ohne jegliche
substanziellen Zugeständnisse, einfach „vor sich hin modern“ lässt und
„aussitzt“ (wie derzeit noch bei den Marseiller städtischen Verkehrsbetrieben
RTM, nach über 45 Streiktagen). In einen solchen scheinbaren Konflikt ohne Ende
und ohne positives Resultat hinein gezogen zu werden, war sicherlich eine grobe
Furcht bei vielen Bahnbeschäftigten. In diesem Sinne äubert
sich auch Didier Le Reste, der Generalsekretär der Eisenbahner-CGT, in den
Spalten von „Le Monde“.
Der „Service minimum“, Hobbythema der Rechten
Zumindest einen Vorzug hatte die verhältnismäbig
schnelle Beendigung dieses Bahnstreiks: Die konservative Rechte hat nicht die
Zeit gefunden, das Thema des (durch Dienstverpflichtungen zu garantierenden)
obligatorischen „Service minimum“ auf die Tagesordnung zu setzen. Besonders im
Kontext eines eher unpopulären Transportstreiks hätte die regierende Rechte zu
diesem ihrem Lieblingsthema, das sie seit 2002 immer wieder aus der Kiste hervor
holte, eine breite Kampagne entfachen können.
Seit dem 17. Juni 2005 besteht im Großraum
Paris jetzt erstmals auch eine Bestimmung zum „Service minimum“, der aber
lediglich in Verträgen zwischen dem Staat und der Bahngesellschaft SNCF (33 %
des Verkehrs sollen auch bei Streikzeiten gewährleistet werden) sowie dem
Pariser Metro- und Busbetreiber RATP (eine Regelung über 50 % des Verkehrs)
festgeschrieben ist. Eine ähnliche Bestimmung existiert seit dem 18. Juli 2005
jetzt auch im Elsass. Wird die Selbstverpflichtung durch die beiden
Transportbetreiber SNCF / RATP nicht eingehalten, dann ist die jeweilige
Verkehrsgesellschaft dem Staat eine Geldstrafe schuldig. Die Gewerkschaften und
die Lohnabhängigen sind jedoch nicht Partei dieses Vertrages und daher auch
nicht selbst an ihn gebunden. Beim Streik vom Wochenanfang wurde die Bestimmung
über die 33 % zu garantierenden Verkehrs in der Hauptstadtregion de facto gröbtenteils
eingehalten (dort verkehrten 34,5 % der Züge), mit Ausnahme des Vor-Ort-Zuges
RER B auf der Nord-Süd-Linie quer durch Paris, der nur zu 24 Prozent fuhr. Die
SNCF, die diese Linie betreibt, wird dafür voraussichtlich (laut „Le Monde“ vom
Freitag) rund 360.000 Euros blechen müssen.
Metro- und Busstreik in Paris
Am Mittwoch streikte in Paris auch ein Teil der
Beschäftigten des Bus- und Metrobetreibers RATP, auf einen Aufruf der
Mehrheitsgewerkschaft CGT hin. Am Donnerstag war es dagegen SUD, die (ohne die
CGT) die Beschäftigten der Pariser Verkehrsbetriebe zum Ausstand aufrief, und
für den Freitag gab es einen erneuten Aufruf der CGT.
Der RATP-Streik war, gelinde ausgedrückt, nicht
von besonderer Effizienz. Am Mittwoch verkehrten alle Métro-Linien mit Ausnahme
der (in west-östlicher Richtung verkehrenden) Linie 9 normal. Am Donnerstag
wurden nicht extra Streikmeldungen durch die Verkehrsbetriebe herausgegeben, die
Verkehrsdichte wirkte aber so gut wie normal.
Editorische Anmerkungen:
Der Artikel wurde
uns vom Autor am 25.11.2005 zur Veröffentlichung gegeben.
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