Frankreich nach den Unruhen
Hochkonjunktur für die Ethnisierung  sozialer Konfliktursachen: „Die Tabus stürzen ein“

von Bernhard Schmid
12/05

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Die politische Atmosphäre nach den jüngsten Unruhen ist offenkundig günstig für die politische Rechte, um alle möglichen Vorhaben aus den Schubladen zu holen, von denen sie längst träumte. Exemplarisch kommt dies auf einem Titelblatt des konservativ-reaktionären Wochenmagazins „Valeurs actuelles“ vom 25. November zum Ausdruck. (Dies Zeitschrift, die vor allem Wirtschafts- und militärpolitische Themen behandelt, gehört dem Rüstungsfabrikanten und Medienmogul Serge Dassault. Laut einer Leserumfrage vom vorigen Jahr wählen 65 Prozent ihrer Leser konservativ und weitere 25 Prozent rechtsextrem.) Vor dem Bild einstürzender Plattenbauten, die vor einigen Jahren im Zuge einer „Stadterneuerungs“operation gesprengt wurden, liest man die Überschrift „Die Tabus werden niedergeschlagen“. Die Unterüberschrift, die erklären soll, welche Tabus anvisiert sind, lautet: „Einwanderung... Familienzusammenführung... Automatische Einbürgerung der zweiten und dritten Generation... Sozialleistungen... (...)“ Die politisch moderate Boulevardzeitung „Le Parisien“ übertitelte ihrerseits, vor ähnlichem Hintergrund, ihre Sonntagsausgabe vom 20. November mit den Worten: „Frankreich wendet sich nach rechts“.

 Tatsächlich wittert der aktive Teil der konservativen Rechten bei all diesen Themen nunmehr Morgenluft. So entbrannten ab Mitte November erneut Debatten über die alte Forderung, Eltern aus „sozial schwachen“ Familien die Kindergeld- und Sozialleistungen zu entziehen, wenn sie ihre Kinder nicht zu kontrollieren vermögen. Der Bürgermeister der Pariser Trabantenstadt Draveil, Georges Tron (Mitglied der konservativen Regierungspartei UMP), beschloss bereits, solchen Familien kommunale Sozialleistungen zu streichen, deren Zöglinge für eine Beteiligung an den Unruhen verurteilt wurden. Diese Familien verlieren damit etwa die Beihilfe zur Zahlung von teuren Stromrechnungen oder die Unterstützung für den Besuch der Schulkantine, wovon nicht nur die verurteilten „Randalierer“, sondern auch ihre Brüder und Schwestern betroffen sein werden. Nach Angaben des Rathauses von Draveil sollen rund 10 dort ansässige Familien von diesem Beschluss betroffen sein.

Ein konservativer Hinterbänkler (Jean-Paul Garaud) legte Mitte November im Parlament einen Gesetzesvorschlag vor, der Einwandererkindern aus der zweiten und dritten Generation ihre französische Staatsbürgerschaft entziehen soll, falls sie an den Riots teilgenommen haben. Nachträgliche Entzüge der französischen Staatsangehörigkeit existierten zuletzt unter dem Vichy-Regime. Juristisch dürfte dies freilich eher schwer durchsetzbar sein.

Mehrere bürgerliche Spitzenpolitiker trugen gleichzeitig erheblich zu einer Ethnisierung, ja rassistischen Verzerrung in der Wahrnehmung der jüngsten Riots und ihrer gesellschaftlichen Ursachen bei. So sprach der Staatssekretär im Arbeits- und Sozialministerium, Gérard Larcher, am 16. November davon, die Polygamie afrikanischer Familien (eine „gesellschaftsschädliche, asoziale Lebensweise“) sei eine Hauptursache für die Verwahrlosung von deren Kindern, und letztere wiederum einer der mabgeblichen Gründe für die Strabenunruhen. In ähnlichem Sinne äuberte sich der Vorsitzende der Parlamentsfraktion der konservativen Regierungspartei UMP in der Nationalversammlung, Bernard Accoyer. Accoyer sprach sich daneben am 16. November bei RTL, die Bedingungen für den Familiennachzug von Einwandererfamilien „zu überdenken,“ d.h. zwecks Verschärfung auf den Prüfstand zu stellen.

Die Polygamie ist in Frankreich seit langem gesetzlich verboten, das Bestehen polygamer Familien wurde jedoch bis vor etwa 15 Jahren noch durch die französischen Behörden faktisch toleriert, solange die Eheschlüsse im Ausland vorgenommen worden war (im Namen der Anerkennung ausländischen Rechts). In den letzten 15 bis 20 Jahren haben sich jedoch die französische Gesetzgebung und das Vorgehen der Behörden verändert, und es wird nicht weiterhin Toleranz in diesen Belangen geübt. Nunmehr geht man auf juristischer Ebene davon aus, dass entsprechende polygame Heiraten, auch wenn sie im Ausland vorgenommen wurden, gegen grundlegenden Bestimmungen französischen Rechts verstoben und daher keine Anerkennung finden können. Die Polygamie befindet sich auf dem Rückzug und soll nach Schätzungen noch circa 20.000 Familien (besonders schwarzafrikanischer Herkunft) betreffen. Sie dürfte kaum geeignet sein, auch nur ansatzweise eine Erklärung für die Banlieue-Problematik zu liefern. Es dürfte erheblich mehr gebürtige Franzosen weiber Hautfarbe geben, die juristisch mit einer Dame verheiratet sind und faktisch mehrere schwängern, als im klassischen Sinne polygam lebende Einwanderer. Die aktuelle Agitation bürgerlicher Spitzenpolitiker war im übrigen sogar der rechten Boulevardzeitung „France Soir“ zu viel, die ihre Titelseite vom Donnerstag (17. November) übertitelte: „Polygamie, Unruhen: Die absurde Erklärung“.

Das Strickmuster ist übrigens bereits alt: Schon als politische Reaktion auf die schweren Unruhen, die 1991 in der westlich von Paris gelegenen Trabantenstadt Mantes-la-Jolie ausbrachen, nachdem zwei Jugendliche (bei einem Polizeieinsatz sowie im Gewahrsam auf der Polizeiwache) zu Tode gekommen waren, hatte damals Jacques Chirac vom angeblich so wichtigen Problem der Polygamie gesprochen. Gleichzeitig tat er, es war im Frühjahr 1991, seinen berühmt-berüchtigten Aussprach über „le bruit et l’odeur“ („den Lärm und den Gestank“, nämlich der Immigranten in den Sozialwohnungen). Seine Behauptung, es gebe in der Stadt Paris polygame Familien „mit 3 bis 4 Ehefrauen und um die 20 Kindern“, deren Mitglieder umgerechnet 7.500 Euro an Kindergeld kassierten und deshalb nicht arbeiteten, wurde jedoch bei anschliebenden Untersuchungen als Falschbehauptung widerlegt. Die Pariser Stadtverwaltung, die damals dem Oberbürgemeister Chirac (1977 bis 95) unterstand und die von ihm mit einer Überprüfung beauftragt wurde, konnte einen einzigen Strabenkehrer finden, der zwei Ehefrauen hatte. Der allerdings erheblich weniger Familienunterstützung erhielt und keinesfalls vom Kindergeld leben konnte (wie Chirac wörtlich behauptet hatte), sondern sein Geld auf dem Pariser Asphalt verdiente. Im Moment spielt Präsident Chirac, nach den Unruhen des Herbsts 2005, allerdings selbst nicht erneut diese Partitur vor, sondern gibt eher den „altersweisen“ und gütigen Papa der Nation, der um die „Integration aller Kinder der Nation“ bemüht ist. In den letzten 14 Tagen sprach Chirac von der Notwendigkeit, über Mabnahmen „positiver Diskriminierung“ zugunsten unterrepräsentierter Minderheit und namentlich über die Präsenz „sichtbarer Minderheiten“ (etwa von Schwarzen) im Fernsehen und anderen Medien nachzudenken. Den Part des rassistischen Einpeitschers und repressiven Wadenbeibers haben heute im bürgerlichen Lager Andere übernommen. 

Von den Nachteilen der Polygamie und den Vorzügen der Sklaverei

Die berüchtigte reaktionäre Historikerin und „Sowjetunion- sowie Russland-Expertin“ Hélène Carrère d’Encausse, Sekretärin der altehrwürdigen Académie française auf Lebenszeit, lieb sich in ähnlicher Weise in russischen Medien aus. Im russischen Fernsehsender NTV erklärte sie: „Diese Leute kommen direkt aus afrikanischen Dörfern. Paris und andere Städte Europas sind aber keine afrikanischen Dörfer. (...) In einer Wohnung sind 3 oder 4 Ehefrauen und 25 Kinder. Sie sind derart überfüllt, dass es keine Wohnungen mehr sind, sondern Gott weib was! Man versteht, dass diese Kinder auf der Strabe herumlaufen.“ Die, ähem, vornehme Dame muss es ja genau wissen, da sie ganz bestimmt viel Ahnung von den realen Lebensbedingungen von Immigranten hat. In einem anderen Interview erklärte sie der Wochenzeitung „Moskowskie Nowosti“: „Wir haben (in Frankreich) Gesetze, die durch Stalin hätten erfunden werden können. Sie kommen ins Gefängnis, wenn Sie sagen, dass fünf Juden oder zehn Schwarze im Fernsehen sind. Die Leute können nicht ihre Meinung über die ethnischen Gruppen, über den Zweiten Weltkrieg und über viele andere Dinge ausdrücken. Man verurteilt Sie sofort für dieses Vergehen.“

Der berüchtigte französische Quatschphilosoph Alain Finkielkraut, in den 1970er Jahren einmal Maoist und heute neo-reaktionärer „Neuer Philosoph“, ging wohl am weitesten in Sachen ethnisierender Äuberungen. Seit längerem nie um groteske Vergleiche verlegen, hatte Finkielkraut im ganzseitigen Interview mit der konservativen Tageszeitung „Le Figaro“ unter anderem behauptet: „Es handelt sich nicht um eine Revolte gegen den Rassismus der Republik, sondern um ein gigantisches antirepublikanisches Pogrom.“ Bisher hatte der Autor dieser Zeilen naiverweise angenommen, ein Pogrom bestehe in der Verfolgung von Menschen, nicht des armen Staates...

In einem Interview mit der israelischen Tageszeitung „Haaretz“, das in ihrer Ausgabe vom 18. November publiziert wurde, ging Finkielkraut noch weiter. (Finkielkraut gehört auch zu den führenden Rechtszionisten des – politisch breit ausgefächterten – französischen Judentums und beispielsweise zu den kritiklosen Verteidigern des iraelischen Mauerbaus quer durch das palästinensische Westjordanland. Er vertritt diese Positionen mit der antiuniversalistischen Begründung, er werde Mabnahmen der israelischen Regierung nicht kritisieren, „um den Unseren nicht in den Rücken zu fallen“. Der redaktionelle Vorspann von „Haaretz“ zu dem Interview enthält durchaus implizite Kritik, an einer Stelle werden die Auslassungen Finkielkrauts indirekt in die Nähe derer Le Pens gerückt.) In den Spalten von „Haaretz“ äubert Finkielkraut unter anderem: „Das Problem ist, dass diese jugendlichen Randalierer fast alle Araber und Schwarze sowie mit einer islamischen Identität ausgestattet sind. (...) Heutzutage gibt man der Demagogie nach und ändert die Geschichtsschreibung bezüglich des Kolonialismus und der Sklaverei. Man stellt diese (Anm.: den Kolonialismus und die Sklaverei) so dar, als seien sie rein negative Erscheinungen gewesen. Anstatt zu sagen, dass das koloniale Projekt erziehen, den Wilden die Zivilisation bringen wollte. (...) Was hat Frankreich den Afrikaner getan? Nur Gutes.“ Ferner führt Finkielkraut aus, „wenn diese jungen Migranten meinen, man behandele sie in Frankreich schlecht, ihre wirtschaftliche Situation sei nicht gut: Wir halten sie hier nicht fest.“ Sollen sie doch nach drüben gehen!

Hätte der Mann ausnahmsweise geschwiegen, hätte man ihn – vielleicht – weiterhin für einen Philosophen halten können. Ansonsten kann man vernünftigeren Menschen als Finkielkraut nur raten, einmal den „Code Noir“ zu lesen, das „Schwarzen-Gesetzbuch“, das unter der Monarchie haarklein den französischen Sklavenhandel regelte, eine wirklich haarsträubende Lektüre. Die Sklaverei wurde in Frankreich erst 1848 abgeschafft.

Abschiebepolitik

Bereits in der zweiten Novemberwoche hat Innenminister Nicolas Sarkozy seinerseits angekündigt, an den Unruhen beteiligte Immigranten ohne französische Staatsbürgerschaft aus dem Land abzuschieben. Rasch wurde eine „Rückkehr der Doppelstrafe“ kritisiert: Minister Sarkozy selbst hatte im Jahr 2003 die so genannte „double peine“ weitgehend abgeschafft, die daraus bestand, dass ein gerichtlich sanktionierter Ausländer sowohl – wie jeder verurteilte Franzose – seine Strafe absitzen musste als auch anschliebend abgeschoben werden konnte. Diese „Doppelstrafe“ war seit langem durch Menschenrechtsgruppen als rechtliche Diskriminierung angegriffen worden. Sarkozy schaffte sie ab, um seinen politischen Voluntarismus im Sinne des Mottos „hart aber gerecht“ zu demonstrieren, während die regierenden Sozialdemokraten davor jahrelang untätig geblieben waren.

Sarkozy hat’s gegeben, Sarkozy hat’s genommen? Auf die Vorwürfe, der Minister revidiere seinen eigenen Beschluss, die „Doppelstrafe“ sei als diskriminierend zu betrachten, antwortete dessen Umgebung mit einem wirklich frappierenden Argument. „Le Monde“ zitierte Berater des Innenministers mit den Worten, es gehe gar nicht um eine Doppelstrafe, denn diese betreffe ja strafrechtlich verurteilte Ausländer. Dagegen plane man jetzt, an den Unruhen beteiligte Ausländer auch ohne jedes Urteil abzuschieben...

Von 2.200 Personen, die bis Mitte November im Zusammenhang mit den Unruhen festgenommen worden waren (insgesamt sind es knapp 3.000), waren insgesamt 120 Personen ohne französische Staatsbürgerschaft. In der Nationalversammlung präzisierte Sarkozy am 15. November, gegen bisher 10 Personen seien unmittelbare konkrete Vorbereitungen zur Abschiebung eingeleitet, Minderjährige würden jedoch ausgenommen. Das hätte sonst auch ziemliche juristische Komplikationen hervorgerufen.

 

Editorische Anmerkungen:

Der Artikel wurde uns vom Autor am 27.11.2005 zur Veröffentlichung gegeben.