Die
politische Atmosphäre nach den jüngsten Unruhen ist offenkundig günstig für die
politische Rechte, um alle möglichen Vorhaben aus den Schubladen zu holen, von
denen sie längst träumte. Exemplarisch kommt dies auf einem Titelblatt des
konservativ-reaktionären Wochenmagazins „Valeurs actuelles“ vom 25. November zum
Ausdruck. (Dies Zeitschrift, die vor allem Wirtschafts- und militärpolitische
Themen behandelt, gehört dem Rüstungsfabrikanten und Medienmogul Serge Dassault.
Laut einer Leserumfrage vom vorigen Jahr wählen 65 Prozent ihrer Leser
konservativ und weitere 25 Prozent rechtsextrem.) Vor dem Bild einstürzender
Plattenbauten, die vor einigen Jahren im Zuge einer „Stadterneuerungs“operation
gesprengt wurden, liest man die Überschrift „Die Tabus werden niedergeschlagen“.
Die Unterüberschrift, die erklären soll, welche Tabus anvisiert sind, lautet:
„Einwanderung... Familienzusammenführung... Automatische Einbürgerung der
zweiten und dritten Generation... Sozialleistungen... (...)“ Die politisch
moderate Boulevardzeitung „Le Parisien“ übertitelte ihrerseits, vor ähnlichem
Hintergrund, ihre Sonntagsausgabe vom 20. November mit den Worten: „Frankreich
wendet sich nach rechts“.
Tatsächlich wittert der
aktive Teil der konservativen Rechten bei all diesen Themen nunmehr Morgenluft.
So entbrannten ab Mitte November erneut Debatten über die alte Forderung, Eltern
aus „sozial schwachen“ Familien die Kindergeld- und Sozialleistungen zu
entziehen, wenn sie ihre Kinder nicht zu kontrollieren vermögen. Der
Bürgermeister der Pariser Trabantenstadt Draveil, Georges Tron (Mitglied der
konservativen Regierungspartei UMP), beschloss bereits, solchen Familien
kommunale Sozialleistungen zu streichen, deren Zöglinge für eine Beteiligung an
den Unruhen verurteilt wurden. Diese Familien verlieren damit etwa die Beihilfe
zur Zahlung von teuren Stromrechnungen oder die Unterstützung für den Besuch der
Schulkantine, wovon nicht nur die verurteilten „Randalierer“, sondern auch ihre
Brüder und Schwestern betroffen sein werden. Nach Angaben des Rathauses von
Draveil sollen rund 10 dort ansässige Familien von diesem Beschluss betroffen
sein.
Ein konservativer
Hinterbänkler (Jean-Paul Garaud) legte Mitte November im Parlament einen
Gesetzesvorschlag vor, der Einwandererkindern aus der zweiten und dritten
Generation ihre französische Staatsbürgerschaft entziehen soll, falls sie an den
Riots teilgenommen haben. Nachträgliche Entzüge der französischen
Staatsangehörigkeit existierten zuletzt unter dem Vichy-Regime. Juristisch
dürfte dies freilich eher schwer durchsetzbar sein.
Mehrere bürgerliche
Spitzenpolitiker trugen gleichzeitig erheblich zu einer Ethnisierung, ja
rassistischen Verzerrung in der Wahrnehmung der jüngsten Riots und ihrer
gesellschaftlichen Ursachen bei. So sprach der Staatssekretär im Arbeits- und
Sozialministerium, Gérard Larcher, am 16. November davon, die Polygamie
afrikanischer Familien (eine „gesellschaftsschädliche, asoziale Lebensweise“)
sei eine Hauptursache für die Verwahrlosung von deren Kindern, und letztere
wiederum einer der mabgeblichen
Gründe für die Strabenunruhen.
In ähnlichem Sinne äuberte
sich der Vorsitzende der Parlamentsfraktion der konservativen Regierungspartei
UMP in der Nationalversammlung, Bernard Accoyer. Accoyer sprach sich daneben am
16. November bei RTL, die Bedingungen für den Familiennachzug von
Einwandererfamilien „zu überdenken,“ d.h. zwecks Verschärfung auf den Prüfstand
zu stellen.
Die Polygamie ist in
Frankreich seit langem gesetzlich verboten, das Bestehen polygamer Familien
wurde jedoch bis vor etwa 15 Jahren noch durch die französischen Behörden
faktisch toleriert, solange die Eheschlüsse im Ausland vorgenommen worden war
(im Namen der Anerkennung ausländischen Rechts). In den letzten 15 bis 20 Jahren
haben sich jedoch die französische Gesetzgebung und das Vorgehen der Behörden
verändert, und es wird nicht weiterhin Toleranz in diesen Belangen geübt.
Nunmehr geht man auf juristischer Ebene davon aus, dass entsprechende polygame
Heiraten, auch wenn sie im Ausland vorgenommen wurden, gegen grundlegenden
Bestimmungen französischen Rechts verstoben
und daher keine Anerkennung finden können. Die Polygamie befindet sich auf dem
Rückzug und soll nach Schätzungen noch circa 20.000 Familien (besonders
schwarzafrikanischer Herkunft) betreffen. Sie dürfte kaum geeignet sein, auch
nur ansatzweise eine Erklärung für die Banlieue-Problematik zu liefern. Es
dürfte erheblich mehr gebürtige Franzosen weiber
Hautfarbe geben, die juristisch mit einer Dame verheiratet sind und faktisch
mehrere schwängern, als im klassischen Sinne polygam lebende Einwanderer. Die
aktuelle Agitation bürgerlicher Spitzenpolitiker war im übrigen sogar der
rechten Boulevardzeitung „France Soir“ zu viel, die ihre Titelseite vom
Donnerstag (17. November) übertitelte: „Polygamie, Unruhen: Die absurde
Erklärung“.
Das Strickmuster ist
übrigens bereits alt: Schon als politische Reaktion auf die schweren Unruhen,
die 1991 in der westlich von Paris gelegenen Trabantenstadt Mantes-la-Jolie
ausbrachen, nachdem zwei Jugendliche (bei einem Polizeieinsatz sowie im
Gewahrsam auf der Polizeiwache) zu Tode gekommen waren, hatte damals Jacques
Chirac vom angeblich so wichtigen Problem der Polygamie gesprochen. Gleichzeitig
tat er, es war im Frühjahr 1991, seinen berühmt-berüchtigten Aussprach über „le
bruit et l’odeur“ („den Lärm und den Gestank“, nämlich der Immigranten in
den Sozialwohnungen). Seine Behauptung, es gebe in der Stadt Paris polygame
Familien „mit 3 bis 4 Ehefrauen und um die 20 Kindern“, deren Mitglieder
umgerechnet 7.500 Euro an Kindergeld kassierten und deshalb nicht arbeiteten,
wurde jedoch bei anschliebenden
Untersuchungen als Falschbehauptung widerlegt. Die Pariser Stadtverwaltung, die
damals dem Oberbürgemeister Chirac (1977 bis 95) unterstand und die von ihm mit
einer Überprüfung beauftragt wurde, konnte einen einzigen Strabenkehrer
finden, der zwei Ehefrauen hatte. Der allerdings erheblich weniger
Familienunterstützung erhielt und keinesfalls vom Kindergeld leben konnte (wie
Chirac wörtlich behauptet hatte), sondern sein Geld auf dem Pariser Asphalt
verdiente. Im Moment spielt Präsident Chirac, nach den Unruhen des Herbsts 2005,
allerdings selbst nicht erneut diese Partitur vor, sondern gibt eher den „altersweisen“
und gütigen Papa der Nation, der um die „Integration aller Kinder der Nation“
bemüht ist. In den letzten 14 Tagen sprach Chirac von der Notwendigkeit, über Mabnahmen
„positiver Diskriminierung“ zugunsten unterrepräsentierter Minderheit und
namentlich über die Präsenz „sichtbarer Minderheiten“ (etwa von Schwarzen) im
Fernsehen und anderen Medien nachzudenken. Den Part des rassistischen
Einpeitschers und repressiven Wadenbeibers
haben heute im bürgerlichen Lager Andere übernommen.
Von den Nachteilen der
Polygamie und den Vorzügen der Sklaverei
Die berüchtigte reaktionäre
Historikerin und „Sowjetunion- sowie Russland-Expertin“ Hélène Carrère
d’Encausse, Sekretärin der altehrwürdigen Académie française auf Lebenszeit, lieb
sich in ähnlicher Weise in russischen Medien aus. Im russischen Fernsehsender
NTV erklärte sie: „Diese Leute kommen direkt aus afrikanischen Dörfern. Paris
und andere Städte Europas sind aber keine afrikanischen Dörfer. (...) In einer
Wohnung sind 3 oder 4 Ehefrauen und 25 Kinder. Sie sind derart überfüllt, dass
es keine Wohnungen mehr sind, sondern Gott weib
was! Man versteht, dass diese Kinder auf der Strabe
herumlaufen.“ Die, ähem, vornehme Dame muss es ja genau wissen, da sie ganz
bestimmt viel Ahnung von den realen Lebensbedingungen von Immigranten hat. In
einem anderen Interview erklärte sie der Wochenzeitung „Moskowskie Nowosti“:
„Wir haben (in Frankreich) Gesetze, die durch Stalin hätten erfunden werden
können. Sie kommen ins Gefängnis, wenn Sie sagen, dass fünf Juden oder zehn
Schwarze im Fernsehen sind. Die Leute können nicht ihre Meinung über die
ethnischen Gruppen, über den Zweiten Weltkrieg und über viele andere Dinge
ausdrücken. Man verurteilt Sie sofort für dieses Vergehen.“
Der berüchtigte französische
Quatschphilosoph Alain Finkielkraut, in den 1970er Jahren einmal Maoist und
heute neo-reaktionärer „Neuer Philosoph“, ging wohl am weitesten in Sachen
ethnisierender Äuberungen.
Seit längerem nie um groteske Vergleiche verlegen, hatte Finkielkraut im
ganzseitigen Interview mit der konservativen Tageszeitung „Le Figaro“ unter
anderem behauptet: „Es handelt sich nicht um eine Revolte gegen den Rassismus
der Republik, sondern um ein gigantisches antirepublikanisches Pogrom.“ Bisher
hatte der Autor dieser Zeilen naiverweise angenommen, ein Pogrom bestehe in der
Verfolgung von Menschen, nicht des armen Staates...
In einem Interview mit der
israelischen Tageszeitung „Haaretz“, das in ihrer Ausgabe vom 18. November
publiziert wurde, ging Finkielkraut noch weiter. (Finkielkraut gehört auch zu
den führenden Rechtszionisten des – politisch breit ausgefächterten –
französischen Judentums und beispielsweise zu den kritiklosen Verteidigern des
iraelischen Mauerbaus quer durch das palästinensische Westjordanland. Er
vertritt diese Positionen mit der antiuniversalistischen Begründung, er werde Mabnahmen
der israelischen Regierung nicht kritisieren, „um den Unseren nicht in den
Rücken zu fallen“. Der redaktionelle Vorspann von „Haaretz“ zu dem Interview
enthält durchaus implizite Kritik, an einer Stelle werden die Auslassungen
Finkielkrauts indirekt in die Nähe derer Le Pens gerückt.) In den Spalten von „Haaretz“
äubert
Finkielkraut unter anderem: „Das Problem ist, dass diese jugendlichen
Randalierer fast alle Araber und Schwarze sowie mit einer islamischen Identität
ausgestattet sind. (...) Heutzutage gibt man der Demagogie nach und ändert die
Geschichtsschreibung bezüglich des Kolonialismus und der Sklaverei. Man stellt
diese (Anm.: den Kolonialismus und die Sklaverei) so dar, als seien sie rein
negative Erscheinungen gewesen. Anstatt zu sagen, dass das koloniale Projekt
erziehen, den Wilden die Zivilisation bringen wollte. (...) Was hat Frankreich
den Afrikaner getan? Nur Gutes.“ Ferner führt Finkielkraut aus, „wenn diese
jungen Migranten meinen, man behandele sie in Frankreich schlecht, ihre
wirtschaftliche Situation sei nicht gut: Wir halten sie hier nicht fest.“ Sollen
sie doch nach drüben gehen!
Hätte der Mann ausnahmsweise
geschwiegen, hätte man ihn – vielleicht – weiterhin für einen Philosophen halten
können. Ansonsten kann man vernünftigeren Menschen als Finkielkraut nur raten,
einmal den „Code Noir“ zu lesen, das „Schwarzen-Gesetzbuch“, das unter der
Monarchie haarklein den französischen Sklavenhandel regelte, eine wirklich
haarsträubende Lektüre. Die Sklaverei wurde in Frankreich erst 1848 abgeschafft.
Abschiebepolitik
Bereits in der zweiten
Novemberwoche hat Innenminister Nicolas Sarkozy seinerseits angekündigt, an den
Unruhen beteiligte Immigranten ohne französische Staatsbürgerschaft aus dem Land
abzuschieben. Rasch wurde eine „Rückkehr der Doppelstrafe“ kritisiert: Minister
Sarkozy selbst hatte im Jahr 2003 die so genannte „double peine“
weitgehend abgeschafft, die daraus bestand, dass ein gerichtlich sanktionierter
Ausländer sowohl – wie jeder verurteilte Franzose – seine Strafe absitzen musste
als auch anschliebend
abgeschoben werden konnte. Diese „Doppelstrafe“ war seit langem durch
Menschenrechtsgruppen als rechtliche Diskriminierung angegriffen worden. Sarkozy
schaffte sie ab, um seinen politischen Voluntarismus im Sinne des Mottos „hart
aber gerecht“ zu demonstrieren, während die regierenden Sozialdemokraten davor
jahrelang untätig geblieben waren.
Sarkozy hat’s gegeben,
Sarkozy hat’s genommen? Auf die Vorwürfe, der Minister revidiere seinen eigenen
Beschluss, die „Doppelstrafe“ sei als diskriminierend zu betrachten, antwortete
dessen Umgebung mit einem wirklich frappierenden Argument. „Le Monde“
zitierte Berater des Innenministers mit den Worten, es gehe gar nicht um eine
Doppelstrafe, denn diese betreffe ja strafrechtlich verurteilte Ausländer.
Dagegen plane man jetzt, an den Unruhen beteiligte Ausländer auch ohne jedes
Urteil abzuschieben...
Von 2.200 Personen, die bis
Mitte November im Zusammenhang mit den Unruhen festgenommen worden waren
(insgesamt sind es knapp 3.000), waren insgesamt 120 Personen ohne französische
Staatsbürgerschaft. In der Nationalversammlung präzisierte Sarkozy am 15.
November, gegen bisher 10 Personen seien unmittelbare konkrete Vorbereitungen
zur Abschiebung eingeleitet, Minderjährige würden jedoch ausgenommen. Das hätte
sonst auch ziemliche juristische Komplikationen hervorgerufen.
Editorische Anmerkungen:
Der Artikel wurde
uns vom Autor am 27.11.2005 zur Veröffentlichung gegeben.
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