‚Zurück in
die 70er Jahre!’ lautet das Motto. Nein, Frankreichs Innenminister Nicolas
Sarkozy (50) möchte nicht die Hippy-Szene wiederbeleben oder lange Haare wieder
in Mode kommen lassen. Der Law and Order-Politiker denkt vielmehr an eine
Reaktivierung der so genannten loi anti-casseurs (ungefähr:
Anti-Chaoten-Gesetz), die im Jahr 1970 durch die damalige gaullistische
Regierung verabschiedet worden war, um den linken Demonstrationen im Gefolge des
Mai 68 ein Ende zu bereiten. Der Gesetzestext sah das Prinzip der so genannten
„kollektiven Verantwortung“ vor, das ziemlich wenig mit rechtsstaatlichen
Prinzipien zu tun hat: Kam es am Rande von Demonstrationen zu Sachschaden oder
Rangeleien mit der Polizei, so konnte egal welcher Teilnehmer dafür zur
strafrechtlichen Verantwortung gezogen werden. Ohne dass ihm eine individuelle
Tatbeteiligung nachgewiesen zu werden brauchte. Das Gesetz wurde 1981, nach dem
Regierungsantritt der Sozialisten, abgeschafft.
Am Dienstag (29. November)
zitiert die Tageszeitung Libération Minister Sarkozy mit den Worten, eine
Neuauflage „im Zusammenhang mit der Vorstadtgewalt“ sei in Vorbereitung: „Die
Debatte verdient es, vor das Parlament getragen zu werden“. Bei einer
60prozentigen Sitzemehrheit für die konservative Rechte im Nationalversammlung
(dem Mehrheitswahlrecht sei Dank!) und 80 Prozent im Senat bestünden am Ausgang
einer solchen Debatten wenig Zweifel.
Neue
Anti-Terror-Gesetzgebung
Auf einer anderen Ebene
wurde bereits am selben Dienstag für mehr Sicherheit, aus staatlicher
Perspektive, gesorgt. „In einem Klima des Konsenses“ zwischen den groben
staatstragenden Parteien, so lautet der Tenor sämtlicher Medienberichte, wurden
am Abend die Bestimmungen des neuen Antiterrorismus-Gesetzes in erster Lesung
durch die Nationalversammlung angenommen. 373 Abgeordnete der konservativen
Regierungspartei UMP und der halboppositionellen christdemokratischen UDF
stimmten dafür, die sozialdemokratischen Abgeordneten enthielten sich der
Stimme. 27 Parlamentarier der Grünen und der KP votierten dagegen.
Die herausragendste
Bestimmung des neuen „antiterroristischen“ Arsenals bildet die Verpflichtung für
die Server und Betreiber von Internetcafés, alle Verbindungsdaten im Internet
über ein Jahr hinweg aufzubewahren; die Ermittlungsbehörden sollen freien Zugang
zu diesen Daten erhalten. Dadurch soll eine eventuelle Benutzung des Internet
oder der Mailkommunikation zu terroristischen Zwecken aufgespürt werden können.
Gleichzeitig tut sich dabei eine Goldgrube für die Datensammelwut der
Sicherheitsapparate auf. Diese Passage des Anti-Terrorismus-Gesetzes hatte
erhebliche Bedenken bei der nationalen Datenschutzbehörde CNIL (Commission
nationale informatique et libertés) hervorgerufen. Der Conseil d’Etat - das
oberste französische Verwaltungsgericht, das im Vorfeld der Verabschiedung eines
Gesetzes bezüglich seiner Rechtskonformität zu Rate gezogen werden kann – hatte
ihm allerdings seinerseits Unbedenklichkeit bescheinigt. Anwaltsvereinigungen
und Bürgerrechtsorganisationen wie die traditionsreiche Liga für Menschenrechte
(LDH) waren gegenteiliger Auffassung.
Ansonsten sieht das künftige
Gesetz, das noch vor Jahresende 2005 definitiv verabschiedet werden soll, die
Ausweitung der Videoüberwachung in den öffentlichen Verkehrsmitteln und
Bahnhöfen, aber auch an anderen öffentlich zugänglichen Stellen vor. Dabei
beruft sich die Regierung auf die Erfahrungen von London nach den Attentaten vom
7. Juli – dort hatte die Videoüberwachung zwar mitnichten zur Verhinderung der
Bombenanschläge, wohl aber zur raschen Identifikation der Terroristen nach der
Tat beitragen können. Ferner sieht die Gesetzesvorlage vor, dass die
Luftfahrtgesellschaften und andere Transportfirmen im Eisenbahn- und
Schiffsverkehr persönliche Daten über ihre Passagiere erheben und an die
Polizeibehörden weitergeben sollen.
Weniger umstritten war die
Anhebung der Strafdrohungen für die Mitglieder von terroristischen Vereinigungen
(von 10 auf 20 Jahre) und ihre Anführer (von 20 auf 30 Jahre). Diese
Bestimmungen können zwar insofern Bedenken hervorrufen, als es sich um ein
Organisationsdelikt handelt, das keine individuelle Tatverantwortung über die
Tatsache der Mitgliedschaft hinaus erfordert. Sie riefen aber insofern weniger
starke Bedenken hervor, als die Beobachter in der Regel an Gruppen denken, die
durch Bombenanschläge und andere „blinde“ Gewalt gegen Zivilisten agieren.
Kritikwürdiger aus Sicht der linken und liberaler Kritiker wiederum erschien die
Anhebung der Höchstdauer des polizeilichen Gewahrsams – ohne Einschaltung eines
Untersuchungsrichters – von vier auf sechs Tage, sofern „eine terroristische
Aktion unmittelbar bevor steht“, wie der Gesetzestext formuliert. Auf Grundlage
einer Prognose für die nahe Zukunft könnten so die Spielräume für polizeiliche
Ermittlungen, die – zumindest im ersten Zeitraum - keiner Justizkontrolle
unterliegen, ausgeweitet werden.
Strafverfolgungen nach
den Unruhen vom November
Noch erlaubt die geltende
Gesetzgebung es nicht, nach dem Muster einer kollektiven Strafbarkeit
durchzugreifen, die allem Anschein nach wieder in der Gesetzgebung verankert
werden soll. Vieles deutet aber darauf hin, dass die insgesamt 3.000 Personen,
die während der dreiwöchigen Riots in den französischen Banlieues im November
festgenommen wurden, oft recht wahllos herausgegriffen worden sind.
Auch in öffentlichen
Radiosendern wie France Info sprechen Berichte davon, man habe einfach alle
Umstehenden mitgenommen und erst hinterher, im Polizeigewahrsam, zwischen „mutmablichen
Straftätern“ und Anderen sortiert. Dies hängt sicherlich auch mit der
Polizeitaktik während der Unruhen zusammen. Damals wurde Innenminister Nicolas
Sarkozy – glaubt man der Wochenzeitung Le Canard enchaîné vom 9. November
– durch die Angst geplagt, es könne zu einer „neuen Affäre Malik Oussekine“
kommen. Der Student dieses Namens war im Dezember 1986, am Rande einer
Demonstration von Oberschülern und Studenten, durch Polizisten zu Tode geprügelt
worden. Daraufhin waren die Proteste gegen den damaligen Innenminister Charles
Pasqua und den seinerzeitigen Premier – einen gewissen Jacques Chirac – erst
recht aufgeflammt, nachdem es ein offenkundig unschuldiges Opfer gegeben hatte.
Um Tote bei Zusammenstöben
zwischen der Polizei und Jugendlichen, die auf seiner politischen Karriere
hätten lasten können, zu vermeiden, hatte Sarkozy den ihm unterstellten
Polizeieinheiten eine entsprechende Strategie verordnet: Direkte Konfrontationen
sollten möglichst vermieden werden, stattdessen sollten bei Vorfällen –
brennenden Autos, Anzünden von Gebäuden – im Nachhinein die mutmablich
Beteiligten eingesammelt werden. Deshalb auch kam es zu verhältnismäbig
wenigen Strabenkämpfen
zwischen Ordnungskräften und Jugendlichen, jedenfalls auberhalb
von Clichy-sous-Bois, dem Ausgangsort der Unruhen. Kleine Gruppen von jungen
Leuten handelten stattdessen nach dem hit-and-run-Prinzip, und die
Polizei ihrerseits nach der Devise, dass an bestimmten Orten am besten alle
verdächtig Aussehenden hinterher einzusammeln seien.
Die folgenden Anklagen
stützen sich oftmals auf fragwürdige oder vage Aussagen von Polizeizeugen, ohne
weitere Beweismittel. 729 Volljährige wurden in Schnellverfahren dem
Strafrichter vorgeführt, weitere 577 Jüngere erschienen vor dem Jugendrichter.
Nach einer Zählung der Boulevardzeitung Le Parisien waren bis zur letzten
Novemberwoche bereits 422 Volljährige rechtskräftig verurteilt, oft in
Blitzprozssen. In vier Fünfteln der Fälle handelt es sich um Haftstrafen ohne
Aussetzung zur Bewährung. Justizminister Pascal Clément gibt an, systematisch
von dem ihn unterstehenden Staatsanwälten Urteile ohne Bewährung verlangt zu
haben.
Die Zusammensetzung der
Angeklagten und Verurteilten widerlegt dabei einige vorgefasste Urteile und
Behauptungen. So stimmt die während der Riots durch Sarkozy und den nationalen
Polizeidirektor Michel Gaudin (in Le Monde vom 16. 11.) aufgestellte
Behauptung, „80 Prozent“ der Teilnehmer seien vorbestraft – weshalb man es mit
„kriminellen Strukturen“ zu tun habe – offenkundig nicht. Die Staatsanwälte der
Pariser Trabantenstädte Bobigny und Créteil, wo allein über ein Drittel der
Prozess stattfanden, geben den Anteil der Vorbestraften mit nur 15 Prozent bei
den Volljährigen an. Unter den Minderjährigen ist ein etwas gröberer
Anteil (25 Prozent) „polizeibekannt“ – aber oft als Opfer in
Misshandlungsprozessen, so berichtet ein Jugendrichter in Libération. Wie
Staatsanwalt François Molets in Bobigny erklärt, sprechen die bisherigen
Erkenntnisse aus den Prozessen im Übrigen gegen jede Organisierung der Riots,
weder durch Islamisten noch durch „Mafiagruppen“, wie vielfach behauptet worden
war:
„Fast alle
Verurteilten haben unmittelbar an ihrem Wohnort gezündelt. Die Wohnorte und die
Örtlichkeiten, wo die jungen Straftäter aufgegriffen wurden, liegen dicht
beieinander. In jenen Stadtteilen, wo es verfestigte Strukturen – organisierte
Kriminelle oder Islamisten – gibt, ist es im Übrigen während der Riots zumeist
ruhig geblieben“.
Denn diese hatten natürlich
kein Interesse daran, die Polizei in die entsprechenden Quartiere zu locken. Der
ursprünglich in einigen Medien, wie der Boulevardzeitung France Soir und
dem rechtsauben
stehenden Wochenmagazin Valeurs actuelles, aufgestellten Mutmabung,
islamistische Gruppen hätten im Hintergrund die Riots organisiert, fehlt
offenkundig jede Grundlage. Inzwischen wurde diese Behauptung auch durch den
Chef des Inlandsgeheimdienst DST (Direction de surveillance du territoire),
Pierre de Bousquet, im Interview mit Valeurs actuelles vom 18. November
klar dementiert:
„Ich kann Ihnen mit
Bestimmtheit sagen, dass wir zu keinem Zeitpunkt eine Beteiligung religiöser
Fundamentalisten an diesen Störungen der Ordnung bemerkt haben. (...) Man muss
sich davor hüten, die aktuellen Unruhen durch ein konfessionnelles Raster zu
interpretieren.“
In ähnlicher Weise äuberte
sich der Leiter der Renseignements Généraux (RG), der
Staatsschutzabteilung der französischen Polizei, Pascal Mailhos, im Interview
mit Le Monde vom 25. November.
Die Verurteilungsstatistiken
widerlegen ferner auch die Annahme, dass es allein oder hauptsächlich
Immigranten(kinder) gewesen seien, die an den Riots beteiligt waren. Im Grobraum
Paris waren es zwar überwiegend Einwandererkinder der zweiten und dritten
Generation – aber nicht überall sieht es so aus. Am Gericht der
nordfranzösischen Regionalhauptstadt Lille waren, einem ausführlichen Bericht in
Libération vom 18. November zufolge, mindestens zwei Drittel der
Angeklagten „weib“
und trugen französische oder flämische Familiennamen.
Die höchste Strafe im
Zusammenhang mit den Riots wurde gegen einen jungen Mann aus dem
nordfranzösischen Arras verhängt, der mit Namen Jérémy Van Gendt heibt
und aus einer – wenn man so möchte – Einwandererfamilie aus dem unmittelbar
benachbarten Belgien stammt. Er wurde, obwohl nicht vorbestraft, wegen der von
ihm verursachten Inbrandsetzung eines Möbellagers (ohne Gefahr von
Personenschaden) zu weit überdurchschnittlichen vier Jahren ohne Bewährung
verdonnert. Offenkundig wird jedenfalls einmal mehr, dass die Riots mitnichten
ein „ethnisches“, sondern ein soziales Problem ausdrückten. So sind zwar im Grobraum
Einwandererfamilien weit überdurchschnittlich von den sozialen Krisenphänomenen
– wie Zerrüttung der Familien, Ghettoisierungstendenzen und Jugendgewalt –
betroffen, da die Migranten im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts als „Puffer
auf dem Arbeitsmarkt“ (so eine 1999 publizierte Studie des
Wirtschaftsforschungsinstituts CSERC) benutzt wurden. Das bedeutet, dass sie
zeitlich als Erste von Massenentlassungen und einer extremen Prekarisierung der
Arbeitsverhältnisse getroffen wurden, um die französischen Arbeitskräfte noch
ein paar Jahre länger schützen zu können. Im nordfranzösischen
Ex-Industrierevier beispielsweise stellen sich die Verhältnisse aber anders dar,
da hier noch im späten 20. Jahrhundert ein geschlossenes Arbeitermilieu – das
aus „Weiben“
und Einwanderern aus den früheren Kolonien gleichermaben
bestand – existierte, dessen Angehörige, unabhängig von ihrer Herkunft, in die
soziale Krise abrutschten. Dies machte sich dann auch bei den jüngsten
Jugendunruhen bemerkbar.
Verschärfung der
Ausländergesetze
Seitens der konservativen
Politik bevorzugt man jedoch eindeutig eher eine „ethnisierende“ Interpretation
der Unruhen und ihrer Konfliktursachen. In diesem Zusammenhang wird nunmehr eine
erneute Verschärfung der Ausländergesetzgebung angestrebt. Bereits am 16.
November hatte der Vorsitzende der UMP-Parlamentsfraktion, Bernard Accoyer, als
Antwort auf die Unruhen angeregt, das bestehende Recht auf
Familienzusammenführung für (legal in Frankreich) lebende Immigranten auf den
Prüfstand zu stellen.
Am Dienstag, 29. November
stellten die führenden Regierungsmitglieder im Rahmen des, in dieser
Legislaturperiode eingerichteten, „interministeriellen (ressortübergreifenden)
Ausschusses zur Kontrolle der Einwanderung“ (CICI) neue Mabnahmen
zur Verschärfung der Gesetzgebung gegenüber in Frankreich lebenden Ausländern
vor.
So sollen mit Franzosen oder
Französinnen verheiratete Ausländer/innen erst nach vier Jahren den Erwerb der
französischen Staatsbürgerschaft beantragen können. Dieses Recht auf Übernahme
der französischen Staatsangehörigkeit war dereinst automatisch gewesen, die
konservative Rechte hatte es unter dem einstigen Innenminister Charles Pasqua
mit einer Mindestfrist von zwei Jahren versehen. Diese Frist wird jetzt von zwei
auf vier Jahre verlängert - wenn die Gesetzesvorschläge durch die
Regierungspartei UMP umgesetzt werden – seitens der Regierung ist bereits
angekündigt, entsprechende Gesetzesbestimmungen sollten noch im Laufe der ersten
Jahreshälfte 2006 verabschiedet werden.
Natürlich darf die Ehe nach
diesen vier Jahren noch nicht in die Brüche gegangen sein, was staatsanwaltlich
überprüft werden wird. Seit dem neuen Einwanderungsgesetz, das Innenminister
Sarkozy im November 2002 verabschieden lieb,
können die Staatsanwälte bereits „gemischte“ Eheschlüsse zwischen französischen
und nicht-französischen Staatsangehörigen überprüfen und vorab, falls in ihren
Augen der Verdacht auf eine „Scheinehe“ besteht, hinauszögern. Doch parallel
dazu stieg die Anzahl der „gemischte“ Eheschlüsse im Ausland an, die der
französische Staat – kraft der Anerkennung der Gesetze anderer Staate – bisher
respektieren musste. Zukünftig soll den französischen Konsularbehörden im
Ausland in diesem Zusammenhang ebenfalls eine Kontrollfunktion zugesprochen
werden. Der Konsul soll die zukünftigen Ehegatten „anhören“ können, und im Falle
eines Zweifels seitens der französischen Behörden wird die Staatsanwaltschaft im
westfranzösischen Nantes – wo viele ausländerpolizeiliche Funktionen behördlich
konzentriert worden sind – Einspruch gegen die Anerkennung des Eheschlusses auf
französischem Boden erheben können. In diesem Falle kann nur ein durch die
frisch Verheirateten erzwungener Entscheid eines französisches Richters dafür
sorgen, dass ihre Ehe im Inland als rechtmäbig
gilt.
Auch die Bedingungen für die
Familienzusammenfährung werden restriktiver ausgestaltet. Bisher konnte ein
legal in Frankreich niedergelassener Einwanderer, sofern er bestimmte
gesetzliche Bedingungen erfüllte - er muss etwa über hinreichenden Wohnraum und
ein ausreichendes Einkommen zur Versorgung der Familienangehörigen verfügen –
nach zwei Jahren den Ehepartner oder die Ehepartnerin sowie die gemeinsamen
Kinder an seinen Wohnort nachziehen lassen. Diese Frist soll jetzt auf zwei
Jahre verlängert werden.
Premierminister Dominique de
Villepin kündigte daneben an, „die Einhaltung des gesetzlichen Verbots der
Polygamie“ solle durch die Behörden streng überprüft werden. Das ist ohnehin
seit 15 Jahren der Fall, aber das Scheinproblem der Polygamie war während der
jüngsten Unruhen durch konservative Spitzenpolitiker zur angeblichen
Hauptursache der Riots hochstilisiert worden. Die Mehrehe ist in Frankreich seit
langem gesetzlich verboten, das Bestehen polygamer Familien wurde jedoch bis vor
etwa 15 Jahren noch durch die französischen Behörden faktisch toleriert, solange
die Eheschlüsse im Ausland vorgenommen worden war (im Namen der Anerkennung
ausländischen Rechts). In den letzten 15 bis 20 Jahren haben sich jedoch die
französische Gesetzgebung und das Vorgehen der Behörden verändert, und es wird
nicht weiterhin Toleranz in diesen Belangen geübt. Nunmehr geht man auf
juristischer Ebene davon aus, dass entsprechende polygame Heiraten, auch wenn
sie im Ausland vorgenommen wurden, gegen grundlegenden Bestimmungen
französischen Rechts verstoben
und daher keine Anerkennung finden können. Die Polygamie befindet sich auf dem
Rückzug und soll nach amtlichen Schätzungen noch circa 20.000 Familien
(besonders schwarzafrikanischer Herkunft) betreffen. Sie dürfte kaum geeignet
sein, auch nur ansatzweise eine Erklärung für die Banlieue-Problematik zu
liefern. Es dürfte erheblich mehr gebürtige Franzosen weiber
Hautfarbe geben, die juristisch mit einer Dame verheiratet sind und faktisch
mehrere schwängern, als im klassischen Sinne polygam lebende Einwanderer. Der
französische Starkoch Paul Bocuse brüstet sich in einem längeren Interview mit
dem konservativen Wochenmagazin L’Express (vom 17. 11.) selbst damit,
sein ganzes Erwachsenenleben hindurch mit drei Frauen zusammen gelebt zu haben,
seiner Gattin und zwei festen Geliebten – und der Mann wird in der Zeitschrift
als toller Hecht behandelt, nicht als barbarischer Frauenunterdrücker. Aber
wehe, wenn er Senegalese gewesen wäre.
Die aktuelle Agitation
bürgerlicher Spitzenpolitiker war im übrigen sogar der rechten Boulevardzeitung
France Soir zu viel, die ihre Titelseite vom 17. November übertitelte:
„Polygamie, Unruhen:
Die absurde Erklärung“.
Schlieblich
sollen weiterhin ausländische Studierende in Frankreich aufgenommen werden; das
Land ist derzeit, mit rund 50.000 Studenten aus dem Ausland pro Jahr, nach den
USA und Grobbritannien,
das drittgröbte
Aufnahmeland für Akademiker im Zuge ihrer Ausbildung. Aber künftig soll noch
stärker darauf geachtet werden, dass nur die Allerbesten kommen, die Elite. Die
Kandidaten für ein Studium in Frankreich sollen bereits im Ausland, in sechs neu
zu eröffnenden Zentren, nach Noten und „ihrem Projekt“ ausgewählt werden. Bisher
erhielten Bewerber für eine Ausbildung an einer französischen Universität eine
Chance in Frankreich, sofern sie durch die Hochschulen akzeptiert wurden - aber
soweit sie keine Erfolge in ihrem Studium vorweisen konnten, wurden ihre
einjährigen Aufenthaltstitel nicht verlängert und sie selbst auber
Landes gewiesen.
Als generelle Philosophie
der künftigen Gesetze in diesem Bereich benannte Sarkozy am Dienstag in der
Nationalversammlung den Gedanken: „Wir wollen jene nicht mehr, die man nirgendwo
anders auf der Welt haben will“ - also die Kategorie der Überflüssigen. Vor
allem aber zog er am Nachmittag desselben Tages im Senat, dem parlamentarischen
„Oberhaus“, einen direkten Zusammenhang zu den jüngsten Ereignissen: Die
illegale oder unkontrollierte Einwanderung „schafft eine zerrissene,
ghettoisierte Gesellschaft. Sie trägt so dazu bei, Hass und Gewalt auf unserem
Staatsgebiet zu produzieren. Die Vorstadtgewalt, die wir einige Wochen lang
erlebt haben, sind eine traurige Illustration dafür.“ Dabei zitiert die
linksliberale Tageszeitung Libération vom Mittwoch einen Berater von
Premierminister Dominique de Villepin mit den Worten:
„Unter den Personen,
die infolge dieser Ereignisse (der Unruhen) festgenommen worden sind, sind 7,5
Prozent Ausländer, und ein winziger Anteil unter ihnen hat keinen gültigen
Aufenthaltstitel.“
Anders ausgedrückt: 92,5
Prozent der Beteiligten sind Kinder der französischen Gesellschaft und ihrer
Probleme, ob ihre Vorfahren nun aus der Auvergne oder aus Algerien eingewandert
sein mögen.
„Positive Rolle des
Kolonialismus“: Die regierende Rechte lässt nicht locker
Noch im Zusammenhang mit
einem weiteren Gesetz haben Mitglieder der regierenden Konservativen das
Gespenst der Vorstadtgewalt beschworen.
Am Dienstag, 29. November
(wiederum) debattierte die französische Nationalversammlung auch über einen
Antrag der Sozialdemokraten, der forderte, eine Passage in einem Gesetzestext
vom 23. Februar 2005 nachträglich zu entschärfen. Das damals verabschiedete
Gesetz hat die Regelung der Interessen von ehemaligen Kolonialfranzosen und
Teilnehmern an den Kolonialkriegen, sofern sie im Zuge der Entkolonialisierung
geschädigt wurden, zum Gegenstand. Zunächst hatte die Vorlage kein gröberes
Aufsehen hervorgerufen, da sie eher rein materielle Entschädigungsfragen zu
behandeln schien, die kaum zu Polemiken führten. Wie die Öffentlichkeit erst im
Nachhinein bemerkte, hatten Teile der regierenden Konservativen – vor allem ihr
kolonialnostalgischer Flügel – im Laufe der Parlamentsdebatte weitaus brisantere
Bestimmungen im Nachhinein in den Text eingefügt.
Besonders umstritten war und
ist der Artikel 4 des Gesetzes, der die Forscher und die Lehrer in ihrem
Unterricht dazu verpflichtet, „den positiven Beitrag der französischen
Anwesenheit in Übersee, insbesondere in Nordafrika, zu würdigen“. Diese
„Anwesenheit“ in Nordafrika bezeichnet vor allem den französischen
Siedlungskolonialismus in Algerien (von 1830 bis 1962), wo in der Schlussphase
eine Million Europäer und acht bis neun Millionen Araber und Berber in einem
konfessionnel überformten, brutalen Apartheidsystem lebten, unter dem sich die
Rechtsstellung der Personen je nach ihrer Religionszugehörigkeit richtete.
Dieses konfessionnelle Apartheidsystem räumte den Christen die vollen
Staatsbürgerrechte ein, den algerischen Juden ab 1870 annähernd so viele Rechte,
aber zwang hingegen den „musulmans d’Algérie“ einen weitgehend rechtlosen Status
als „Eingeborene“ (indigènes) auf. Am Ende kamen im Kolonialkrieg von 1954 bis
zur Unabhängigkeit des Landes, am 5. Juli 1962, anderthalb Millionen Algerier
und – nach offiziellen französischen Zahlen – 30.000 Franzosen, unter ihnen über
27.000 Soldaten, um’s Leben. Allein schon dieses Zahlenverhältnis widerspiegelt
die extreme Ungleichheit zwischen Kolonisierenden und Unterworfenen.
Knapp eine Million
kolonialer Europäer, die so genannten Pieds Noirs („Schwarzfübe“,
mutmablich
so genannt, weil sie „die Fübe
in Afrika und den Kopf in Europa“ hatten), verlieben
ab 1962 das nordafrikanische Land. Dort blieben aber zunächst auch rund 200.000
Europäer freiwillig zurück, die keineswegs massakriert wurden, wie die
Ausreisenden ihrerseits befürchteten; ihre Zahl hat sich aber später, unter
anderem aufgrund der massiven wirtschaftlichen Probleme des unabhängigen
Algerien, nach und nach verringert. Diese „Pieds Noirs“ leben heute vor allem in
Südfrankreich, von Perpignan und Nizza, und bilden dort eine einflussreiche
politische Lobby. Ihre Stimmen teilten sich traditionell vorwiegend zwischen der
bürgerlichen Rechten und dem rechtsextremen Front National auf. In jüngerer Zeit
ist allerdings erstmals eine Entideologisierung dieses Milieus, und eine
spürbare Entkrampfung im Verhältnis zu Algerien – wohin eine wachsende Zahl
ehemaliger Algerienfranzosen seit kurzem reist – zu verzeichnen. Den Hardlinern
innerhalb dieses „Vertriebenenmilieus“, um deren Zustimmung Konservative und
Rechtsextreme wetteifern, zwar zweifellos die Verabschiedung des Gesetzes vom
23. Februar mitsamt seinem Artikel 4 zugedacht. Um ihn gab es auch bereits
zwischenstaatliche Spannungen im französisch-algerischen Verhältnis. Algeriens
Präsident Abdelaziz Bouteflika kritisierte ihn am 8. Mai dieses Jahres (dem
Jahrestag des Zehntausenden Algeriern vom 8/ Mai 1945 in Sétif, Kherrata und
Guelma) in scharfen Worten, und drohte mit einer Verschiebung der Unterzeichnung
des umfassenden Freundschaftsvertrages, der zwischen beiden Ländern geplant ist.
Am 29. 11. weigerte sich
die UMP-Mehrheit der Abgeordneten in der Nationalversammlung, den umstrittenen
Artikel 4 des Gesetzes wieder abzuschaffen – auch wenn die konservativen
Parlamentarier zugleich eifrig und entgegen dem Wortlaut versicherten, es könne
sicherlich nicht darum gehen, „eine staatlich fixierte Geschichtsschreibung“ zu
definieren. Dabei fiel auch das Argument, das der konservative Abgeordnete von
Nizza – einer Hochburg der Pieds Noirs -, Lionnel Luca, so formulierte:
„Dieses Gesetz
abzuschaffen, ist unmöglich und undenkbar. Sie würden die Glut wieder anheizen“.
Damit meinte er, das Feuer
der Unruhen, die er vor allem mit Immigrantenkindern in Zusammenhang bringt,
werde wieder entzündet. Verschiedene Abgeordnete der Sozialdemokraten, der KP
und der christdemokratischen UDF hatten das Argument allerdings genau umgekehrt
benützt: Ein Eingeständnis, der Kolonialismus habe für die ihm unterworfenen
Bevölkerungen auch – und vor allem – negative Aspekte gehabt, setze „ein Zeichen
der Beruhigung“.
Am Ende votierten 183
konservative Abgeordnete für Nichtbefassung mit dem sozialdemokratischen Antrag
und damit gegen die Abschaffung des Artikels 4, und 94 Parlamentarier
unterschiedlicher Couleur votierten im gegenläufigen Sinne. Die linksliberale
Tageszeitung Libération titelt am 30. November provozierend: „Y’a bon
colonies“ (ungefähr: „Kolonien viel gut“), unter Anlehnung an eine frühere
rassistische Werbung für ein Schokogetränk, in der eine Karikatur eines
Afrikaners mit den Worten abgebildet ist „Y’a bon, Banania“. In einem
Leitartikel unter der Überschrift „Dumm und frech“ ist zu lesen:
„Die französische
Kolonisierung war, genau wie jede andere auch, eine Mischung aus militärischer
Aggressivität, brutaler wirtschaftlicher Expansion, religiösem Missionseifer,
kriminellem Abenteurertum und dem Bestreben nach juristischer Normalisierung
(des Kolonialverhältnisses). Die Herrschaft des Rechts, und die Geltung der
Menschenrechte, schloss die Eingeborenen aus.“
Über das Gesetz vom 23.
Februar 2005 dürfte das letzte Wort noch nicht gesprochen sein, da seit dem
Frühjahr zahlreiche Lehrer und Wissenschaftler gegen die „Vorschriften in Sachen
Forschung und Geschichtsschreibung“ Sturm liefen. Aber das Klima scheint derzeit
günstig genug für die konservative Rechte, solcherlei Widerspruch von berufener
Seite vorläufig zu ignorieren.
Editorische Anmerkungen:
Der Artikel wurde
uns vom Autor am 30.11.2005 zur Veröffentlichung gegeben. Die
Erstveröffentlichung erfolgte bei TELEPOLIS.
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