Mitte Oktober
1980 las Mark David Chapman, ein dicker, bebrillter,
pausbäckiger Wachmann in einer Ferienwohnungsanlage am Strand
von Waikiki, im Esquire einen Artikel mit der Überschrift
«John Lennon, wo bist du?» Der Bericht hatte den Untertitel:
«Auf der Suche nach dem Beatle, der zwei Jahrzehnte lang wahre
Liebe und Seelenfrieden suchte, aber nur Kühe,
Frühstücksfernsehen und Immobilien in Palm Beach fand.» Der
respektlose Autor, Laurence Shames, hatte den heiklen Auftrag
bekommen, den bekanntesten Eremiten des Showgeschäfts seit Greta
Garbo ausfindig zu machen. Da die Lennons sich hinter ihren
Barrikaden verschanzten, hatte er die Festung des Stars
umgangen, indem er die Farmen, Rinder, Villen und Geschäfte -
also den Besitz - unter die Lupe nahm. Lennon aus dieser
finanziellen Perspektive zu betrachten, brachte ein
überraschendes Ergebnis. Der Mann, in dem Millionen das
«Gewissen seiner Generation» sahen, erwies sich als typisches
Produkt der siebziger Jahre: «...ein vierzigjähriger
Geschäftsmann mit 150 Millionen Dollar... und guten Anwälten,
die ihn durch Steuerschlupflöcher quetschen ... Der aufgehört
hat, Fehler zu machen, wie er aufgehört hat, Musik zu machen.»
Im Grunde beschrieb Shames eher Yoko Ono als John Lennon, aber
John hatte zu solchen Attacken herausgefordert, indem er Yoko
sein Leben anvertraute. Nun sollte er für diese Verwechslung
zahlen, denn Mark David Chapman war auf der Suche nach einem
berühmten Opfer. Als er den Artikel im Esquire gelesen
hatte, wußte er, wen er töten mußte.
Chapman gab ein klassisches Beispiel für einen «Mord aus
Frustration», er war ein zu kurz Gekommener, der jeden Preis für
Ruhm zu zahlen bereit war; kaum saß er im Mördertrakt des
Zuchthauses von Attica, als er auch schon begann, Verträge über
Bücher, Filme und Zeitschriftenserien abzuschließen. Er wollte
auf der Leinwand von Timothy Hutton gespielt werden, und Rupert
Murdoch sollte ihn veröffentlichen.
Das Bemerkenswerte an Chapman war nicht seine Persönlichkeit,
sondern die Tatsache, wie gut er sie bis zu seinem
fünfundzwanzigsten Lebensjahr verborgen hatte. Den
psychologischen Standardtests zufolge war er extrem feindselig
und aggressiv, aber bis zu dem Jahr, in dem er John Lennon
ermordete, war all der Zorn, der seit seiner Kindheit in ihm
gebrodelt hatte, buchstäblich unsichtbar geblieben.
«Mark war ein Junge, der nicht wußte, was "Haß"
bedeutete», erinnerte sich einer seiner früheren Vorgesetzten
beim YMCA, wo Chapman jahrelang außerordentlich beliebter
Mitarbeiter bei Ferienlagern gewesen war. Mark war nicht nur ein
guter Jugendleiter, sondern auch ein überzeugter Wiedergeborener
Christ, der seinem Hippieleben (und dem Gebrauch von
Amphetaminen, Barbituraten, Marihuana und LSD) als
Siebzehnjähriger entsagt hatte, nachdem Christus ihm in seinem
Zimmer erschienen war. Der Heiland hatte unmittelbar neben
seinem linken Knie gestanden, und Mark hatte ein «Kribbeln von
den Zehenspitzen bis zum Scheitel» gespürt und sich über Nacht
in einen musterhaften jungen Christen verwandelt. Er trug fortan
schwarze Hosen und ein weißes Oberhemd mit Krawatte, er ließ
sich die Haare kurz schneiden und hängte sich ein Holzkreuz um
den Hals. Er zog ein Jahr durchs Land, schwang die Bibel und
versuchte, andere zu bekehren. Er spielte in der Kirche seiner
Auferstehungssekte Gitarre, sprach in Zungen und tanzte im
Geiste. Zuletzt träumte er davon, als Missionar in ferne Länder
zu gehen. Er ging aber nur mit einer YMCA-Gruppe nach Beirut und
mußte unmittelbar nach dem Ausbruch des Bürgerkriegs
zurückkehren. Kein Wunder, daß Chapmans Freunde, Kollegen und
Angehörige sprachlos waren, als sie von seinem Verbrechen
hörten. Wie konnte der kleine Mark die furchtbare Sünde des
Mordes begangen haben?
Chapman wurde von nicht weniger als neun Psychiatern und
Psychologen untersucht, die zu dem Ergebnis kamen, daß er unter
krankhaftem Narzißmus litt, der als «enorme Selbstüberschätzung,
Phantasien von Erfolg, Macht und idealer Liebe, Gleichgültigkeit
gegenüber den Gefühlen anderer und einem Bedürfnis nach
fortwährender Aufmerksamkeit und Bewunderung» beschrieben wurde.
Er habe mit «Gefühlen der Wut, Scham, Demütigung und
Minderwertigkeit auf Kritik reagiert, für sich selbst
Sonderrechte beansprucht» und zu «erpresserischen
Selbstmordgesten» geneigt.
Das Hauptmotiv des Mordes war schneller Ruhm, aber Chapman
hatte noch eine ganze Reihe anderer Beweggründe. Ein sehr
wichtiger Faktor bei der Auswahl, Ausspähung und Ermordung John
Lennons bestand darin, daß Chapman sich mit Holden Caul-field
identifizierte, dem Helden von John D. Salingers Der Fänger
im Roggen. Als Chapman sein Opfer getötet hatte, legte er
die Waffe hin und griff zum Fänger. Er stand gelassen in
der Einfahrt des Dakota, las in dem Buch und bot ganz das Bild
eines bibellesenden jungen Missionars, der gefaßt seinem
Märtyrertod im Kannibalenkessel entgegensieht. Wie Thomas von
Kempen seinem berühmten frommen Werk den Titel Nachfolge
Christi gab, so hätte Mark David Chapman seine Autobiografie
Nachfolge des Fängers nennen können, denn seit er als
Achtzehnjähriger auf den berühmten Prototyp des modernen jungen
Mannes gestoßen war, hatte er zwischen seinem eigenen Leben und
dem Holden Caulfields eine Parallele nach der anderen entdeckt.
Die Ähnlichkeiten zwischen dem fiktiven Internatszögling, der
einer wohlhabenden Familie aus dem feinen Manhattan entstammt,
und dem in einem Vorort in den Südstaaten aufgewachsenen Sohn
eines ehemaligen Armeeangehörigen und einer früheren
Krankenschwester sind auf den ersten Blick nicht ersichtlich.
Wenn man jedoch den Lack abkratzt und sich auf den Kern ihrer
Persönlichkeit und die wichtigsten Episoden ihres Lebens
konzentriert, sieht man rasch, warum dieses Buch Chapmans
ureigene Bibel wurde. Holden und Mark David stehen beide an den
kritischen Polen von Liebe (für Kinder und die Idee der
Kindheit) und Haß (auf die ganze Welt der Erwachsenen und
insbesondere die großen Tiere und Aufsteiger, die für Holden
allesamt Heuchler sind). Chapman, der sich zuletzt
als den «Fänger im Roggen dieser Generation» sah,
beschloß in «Erfüllung einer Mission von höchster Bedeutung»,
John Lennon als Symbol der Heuchler dieser Welt zu töten und die
Massen auf den Fänger hinzuweisen, «dieses
außergewöhnliche Buch, das viele Antworten enthält».
Die letzte Zutat des Hexengebräus, das Mark David Chapman
antrieb, war seine primitive manichäistische Überzeugung, daß
die Welt ein Schlachtfeld für die Mächte des Lichts und der
Finsternis sei, ein Glaubenssatz, der für ihn um so konkreter
war, als er sein Gehirn für eine Empfangsstation hielt, die die
Befehle Gottes und des Teufels registrierte.
Befehlshalluzinationen spielten für Chapman eine große
Rolle, sowohl bei Lennons Ermordung («mein Geist sagte
immerfort: "Tu es! Tu es!")
als auch bei seinem Entschluß, sich vor Gericht schuldig zu
bekennen. («Gott besuchte mich in meiner Zelle, [er sprach] mit
einer sehr leisen Männerstimme, [er] befahl mir, mich schuldig
zu bekennen.») Dementsprechend glaubte Chapman, daß er nie die
Kraft haben würde, seine Mission allein durchzuführen, so daß er
am Vorabend der Tat zu Satan betete, der dafür sorgte, daß seine
Hand nicht zitterte, und ihm ermöglichte, den Antichrist zu
töten.
Chapmans Leben läßt sich in zwei Abschnitte einteilen - vor
und nach dem Nervenzusammenbruch, den er mit einundzwanzig
Jahren hatte. Vorher war Mark David ein Junge mit einer
strahlenden Zukunft, der Liebling der YMCA-Lagerleiter, der
Freund eines reizenden jungen Mädchens namens Jessica
Blankenship und der bevorzugte Helfer von Dutzenden von Kindern,
die ihn Kapitän Nemo nannten. Dann ging er mit Jessica aufs
Convent College in Tennessee, um sich für eine Dauerstellung
beim YMCA und damit für eine Tätigkeit im Ausland zu
qualifizieren. Aber er konnte dem Druck des Studiums nicht
standhalten. Schon im ersten Semester brach er zusammen, verließ
das College - und seine Freundin! -, nicht ohne den Ort zuvor
als Nest voller Heuchler zu verdammen.
Von seinen Eltern, zu denen er schon als Kind ein schlechtes
Verhältnis gehabt hatte, bekam er keinen Trost. Der einzige
Mensch, der ihm wirklich zur Seite stand, war sein guter alter
Kumpel Dana Reeves, der gerade in den Polizeidienst eingetreten
war. Er riet ihm, Wachmann zu werden. Man müsse dafür nur einen
kurzen Kurs absolvieren und auf dem Schießstand üben. Chapman
erwies sich als guter Schütze. Mit einer Kanone herumzulaufen,
war jedoch ein schlechter Ersatz für den Schutz unschuldiger
Kinder, die eigentliche Aufgabe des Fängers im Roggen, und so
beschloß Chapman, es noch einmal mit dem College zu versuchen.
Er scheiterte erneut. Diesmal war er so gedemütigt, daß er
ernsthaft an Selbstmord dachte. Vor seinem Tod wollte er sich
jedoch eine letzte Freude gönnen. Er wollte Hawaii besuchen, das
man ihm als ein wahres Paradies geschildert hatte.
Nach einem halben Jahr auf den Hawaii-Inseln, im Juni 1977,
versuchte Chapman, sich mit Auspuffgasen zu vergiften. Wie schon
so oft bei anderen Dingen scheiterte er auch beim Selbstmord. Er
wurde ins Castle Memorial Hospital eingeliefert, wo man ihn zwei
Wochen auf Grund seines «schwer neurotisch-depressiven
Verhaltens» behandelte. Als ambulanter Patient entlassen,
klammerte er sich an das Krankenhaus, indem er sich um eine
Anstellung in der Wirtschaftsabteilung bemühte und freiwillig in
der Psychiatrie arbeitete. Dann beschloß er plötzlich, eine
Reise um die Welt zu machen.
Mit Hilfe der jungen Japanerin Gloria Abe, die bei dem
Reisebüro Waters World Travel arbeitete, plante er das
Unternehmen vier Monate lang in allen Einzelheiten. Am 6. Juli
1978 flog er nach Westen, zuerst nach Tokio, wo er etwa zur
selben Zeit war wie John und Yoko. Als er am 2.0. August —
ungefähr einen Monat vor Lennons Ankunft in Honolulu —
zurückkehrte, hatten viele Leute den Eindruck, er sei ein
anderer Mensch geworden. Er war optimistisch, locker und plante
einen neuen Start in einem sozialen Beruf. Er hatte Gloria eine
ganze Reihe Ansichtskarten und Briefe geschrieben, und nun
fingen sie an, zusammen auszugehen. Sie waren ein sonderbares
Paar: Er, ein Jesusfreak aus den amerikanischen Südstaaten, war
vier Jahre jünger als sie, die Tochter eines wohlhabenden
japanischen Bäckers, eine Buddhistin, die an Kartenlegen,
Astrologie und Okkultismus glaubte. Nachdem sie im Juni
geheiratet hatten, zeigte Chapman neue Seiten seines Charakters.
Der früher so fügsame Krankenhausangestellte wurde auf einmal
rechthaberisch und herrisch und quälte seine Frau mit absurden
Forderungen und Verboten, während er ihr Geld bedenkenlos für
seine neueste Obsession, Kunst, ausgab.
Er wollte unbedingt eine vergoldete Wandplakette von Salvador
Dalis «Lincoln in Dalivision» haben, die die Ermordung Abraham
Lincolns vexierbildartig mit der Kreuzigung Jesu kombiniert. Sie
kostete 5000 Dollar. Der Händler, der das Stück ausgestellt
hatte, das Mark mit dem Geld seines Schwiegervaters kaufen
wollte, berichtete später, daß Chapman sich häufig in der
Galerie aufgehalten und über Mord und Kreuzigung schwadroniert
hatte — die beiden Themen waren für ihn inzwischen genauso eng
miteinander verknüpft wie für John Lennon.
Im Dezember 1979 kündigte Mark seine Stelle im
Krankenhauskiosk, weil er nicht befördert worden war, und
arbeitete wieder als Wachmann, allerdings unbewaffnet. Dieser
Rückschritt wurde von einem ungewöhnlichen Verhalten begleitet.
Ein Bekannter schilderte den Chapman jener Periode als einen
«beängstigenden Typen, einen negativen, kalten und abstoßenden
Menschen». Ein Angestellter der Scientologischen Kirche, deren
Gemeindehaus gegenüber von der Wohnanlage war, wo Chapman
arbeitete, bezeichnete den jungen Wächter als einen «klassischen
Fall von verdeckter Feindseligkeit. Er pflegte vor unserem Haus
auf und ab zu gehen und trat dabei nach Kieselsteinen und
murmelte Drohungen vor sich hin. Wir bekamen drei Monate lang
bis zu vierzig Drohanrufe am Tag. Eine Stimme flüsterte: <Peng!
Peng! Du bist tot!>» Chapman gestand später, daß er der Anrufer
gewesen war.
Nachdem er den Esquire-Artikel über John Lennon
gelesen hatte, ging er am 17. Oktober zur Bücherei und entlieh
Anthony Fawcetts Biographie John Lennon: One Day at a Time.
Er las ein paar Seiten, wurde dann zornig und sagte, Lennon
sei ein Heuchler, der fortwährend Frieden und Liebe predige und
dabei das Leben eines Millionärs führe. Mark fing auch an, die
Songs der Beatles auf Kassette aufzunehmen und zu verzerren,
indem er die Bänder schneller abspielte. Wenn er sie Gloria
vorspielte, meinte sie die Stimmen von Kobolden zu hören. Mark
hörte sich die Kassetten am liebsten in einem dunklen Zimmer an,
wo er nackt in der Lotosposition dasaß und vor sich hin sang:
«John Lennon, ich werde dich töten, du falscher Hund!»
Am 23.Oktober verließ Chapman seine Arbeitsstelle zum
letztenmal. Statt seinen eigenen Namen zu schreiben,
unterzeichnete er seine Arbeitskarte mit einem gekritzelten
«John Lennon», das er dann mit kurzen, heftigen Linien
durchstrich. Im August hatte er einem Bekannten in Italien einen
Brief geschrieben und das Dakota als Absenderadresse angegeben.
Er hatte in dem Brief erklärt, er wolle demnächst auf eine
Mission nach New York gehen. Möglicherweise dachte Chapman also
schon vor der Lektüre des Esquire-Artikels daran, Lennon
zu töten, und der Bericht bestärkte ihn nur in seinem Entschluß,
weil er ihm ein noch stichhaltigeres Motiv lieferte, die
Menschheit von diesem Antichrist, der für ihn alle großen
Heuchler dieser Welt verkörperte, zu befreien. Die Ankündigung
von Double Fantasy war sicher ein weiterer Grund, denn
sie bedeutete, daß der große Jugendverderber erneut im Begriff
war, die Kinder auf Abwege zu locken, genau wie er es früher
getan hatte, als er verkündete, die Beatles seien beliebter als
Jesus.
Chapman hatte schon viele andere Berühmtheiten umbringen
wollen, darunter Ronald Reagan, Jacqueline Onassis, Elizabeth
Taylor, George C. Scott, Johnny Carson, David Bowie und Eddie
Albert, ja selbst seinen eigenen Vater, aber sobald er John
Lennon ins Visier genommen hatte, handelte er rasch und
zielstrebig.
Vier Tage nachdem er seine Stelle aufgegeben hatte, betrat
Chapman ein Waffengeschäft im Zentrum von Honolulu. Es hieß J
and S Sales, und sein Werbeslogan lautete: «Kauf eine Kanone und
mach mal einen richtigen Knall!» Von einem Angestellten, der Ono
hieß, kaufte er einen Charter Arms Special vom Kaliber .38,
einen fünf-schüssigen Kurzlaufrevolver, den Detektive gern
benutzen, weil er leicht unter der Kleidung zu verbergen ist.
Außerdem kaufte er ein paar Hanteln, um seine Armmuskeln zu
stärken und sicherer zielen zu können. Als eine
Stellenvermittlung anrief und fragte, ob er an einem neuen Job
interessiert sei, antwortete er: «Nein, ich hab schon einen Job
zu erledigen.»
Am 27. Oktober kaufte er mit einer Visa-Kreditkarte ein
einfaches Flugticket nach Newark. Am 29. verabschiedete er sich
von Gloria mit den Worten: «Ich gehe nach New York, um alles zu
ändern.» Am 30.
kam er an und stieg für eine Nacht (wie Holden) in einem teuren
Hotel ab, ehe er in das Vanderbilt-YMCA in der East 47th Street
zog. Als er ausgepackt hatte, begann er sofort, Holden
Caulfields Leidensweg nachzuvollziehen.
Er besuchte den See am Südrand des Central Park, wo die Frage
nach dem Verbleib der Enten den Helden des Fänger so
verwirrt hatte. Er sah zu, wie die Kinder Karussell fuhren und
die Statue von Alice im Wunderland hochkletterten. Dann ging er
in nördlicher und anschließend in westlicher Richtung durch den
Park und kam zu dem Museum, wo Holden sich mit seiner geliebten
Schwester Phoebe getroffen hatte.
Das Museum liegt nur fünf Häuserblocks nördlich vom Dakota,
und Chapman las hier eine Geschichte des Gebäudes, die er
faszinierend fand. Um seinem Ziel näher zu sein, zog er in das
einen halben Block vom Dakota entfernte Olcott-Hotel.
Eines Tages lernte er ein Mädchen namens Anne kennen, das im
Dairy in the Park arbeitete. Er sagte, er hätte gern
Gesellschaft, und schlug vor, zusammen ins Theater zu gehen und
sich den Elefantenmenschen mit David Bowie anzusehen. Am
nächsten Tag traf er Anne im Arsenal und schenkte ihr einen
Blumenstrauß. Sie machten eine Fahrt mit einer Pferdedroschke,
sahen das Stück und fuhren zur Aussichtsplattform des Empire
State Building hoch. Als sie später über den Times Square
zurückgingen, bezeichnete Chapman das Viertel als eine Zuflucht
von «Tunten», Drogendealern und Prostituierten. Er zeigte
dagegen viel Mitgefühl für «Freaks», als sie über den
gleichnamigen Film sprachen. Und er äußerte sich abfällig über
das Waffengesetz des Bundesstaates New York.
Er hatte nämlich feststellen müssen, daß er ohne einen schwer
zu bekommenden Waffenschein keine Munition für seine Waffe
kaufen konnte. Um sie zu besorgen, flog er am S.November nach
Atlanta, wo er sich mit Dana Reeves in Verbindung setzte, der in
dem Provinznest Decatur als stellvertretender Sheriff arbeitete.
Der Hüter des Gesetzes sorgte dafür, daß Mark seine Kugeln
bekam: fünf Hohlmantelgeschosse, die beim Aufprall zerbersten
und ihr Ziel buchstäblich zerfetzen.
Als Chapman am 9. November nach New York zurückkam, war er
soweit. Er hatte seine Vorbereitungen beendet, seine Beute ausgespäht
und war mit ausreichend Munition versehen. Dann fanden die Engel
Gottes plötzlich ihre Stimme und übertönten die Dämonen der
Hölle. Am u.November rief er Gloria an und sagte, es sei ein
Fehler gewesen, nach New York zu gehen. Er teilte ihr zum
erstenmal mit, daß er es getan habe, um John Lennon zu
erschießen, und erklärte, nur seine Liebe zu ihr habe ihn daran
gehindert. «Ich habe einen großen Sieg errungen», sagte er. «Ich
komme wieder nach Hause.».....
PENG! PENG! DU BIST TOT!
Als Mark Chapman wieder in Hawaii war,
zeigte er Gloria seinen Revolver und bestand sogar darauf, daß
sie den Abzug betätigte. Er wollte ihr unbedingt begreiflich
machen, daß er in der Lage war, John Lennon das Leben zu nehmen.
Gleichzeitig behauptete er nachdrücklich, die ganze Episode sei
ein böser Traum gewesen, und er hätte den Mord nicht einmal dann
ausgeführt, wenn er eine gute Gelegenheit dazu gehabt hätte. Die
nächsten drei Wochen hockte er ständig vor dem Fernseher. Er
hatte in dieser Zeit zwei Halluzinationen, die er als göttliche
Botschaften deutete. Als er an einer an der Wand hängenden Tafel
mit den zehn Geboten vorbeiging, glaubte er zu sehen, wie sich
das sechste Gebot - Du sollst nicht töten! - von den anderen
löste und immer größer wurde. Einige Tage später sah er einen
Zeichentrickfilm und machte plötzlich dieselben Worte auf dem
Bildschirm aus.
Ende November sagte er zu Gloria, es sei höchste Zeit,
endlich erwachsen zu werden. Er sei nun ein verheirateter Mann
und müßte in der Lage sein, eine Familie zu ernähren. Vorher
müsse er jedoch eine Weile allein verreisen, um über alles
nachzudenken. Er habe beschlossen, wieder nach New York zu
fliegen. Sie brauche keine Angst zu haben, daß er etwas
Schlimmes tun würde. Er habe den Revolver und die Munition ins
Meer geworfen.
Etwa um die gleiche Zeit rief er die Waikiki Counseling
Clinic an, die er schon einmal aufgesucht hatte, als er vom
Gedanken an Selbstmord verfolgt worden war. Er vereinbarte einen
Termin mit dem Psychologen, hielt ihn aber nicht ein. Statt
dessen verließ er Hawaii am Freitag, dem 5. Dezember, und traf
am Samstag nachmittag in New York ein. Nachdem er ein Zimmer im
YMCA in der 63rd Street, zwischen Broadway und Central Park
West, genommen hatte, suchte er das nahegelegene Dakota auf.
Dann fuhr er in die Stadt. Ein Taxifahrer namens Mark Snyder
(ein Jurastudent, der nebenbei jobbte) ließ ihn Ecke 55th Street
und Eighth Avenue einsteigen.
Der Fahrer erinnerte sich später, daß Chapman eine schwere
Aktentasche bei sich gehabt habe und «sehr aufgeregt» gewesen
sei. Er habe ihm fünf Dollar und etwas Kokain angeboten, wenn er
an einigen Adressen halten und kurz warten würde. Die erste
Adresse war das Century, ein luxuriöses Art-deco-Apartmenthaus
in Central Park West, dessen Seiteneingang gegenüber vom
Haupteingang des YMCA in der 63rd Street liegt. Chapman betrat
das Gebäude durch diesen Eingang, der von einem Portier bewacht
wird. Fünf Minuten später kam er zurück, stieg wieder ein und
nannte eine Adresse an der East Side, Ecke 65th Street und
Second Avenue.
Diesmal brauchte Chapman nur zwei Minuten. Als er wieder
eingestiegen war, platzte er los: «Ich muß es einfach erzählen.
Ich habe eben die Bänder für eine neue LP abgegeben, die John
Lennon und Paul McCartney heute gemacht haben. Ich war der
Toningenieur, und sie haben drei Stunden lang zusammen
gespielt.» Der Fahrer erinnerte sich, daß Chapman «anfing, wie
ein Irrer den Kopf zu schütteln und vor sich hin zu lächeln, als
flöge er in Gedanken ins All hinaus». Als sie die letzte
Station, Ecke Bleecker Street und Sixth Avenue, erreichten, wo
es einige große Schallplattengeschäfte gibt, war Chapman nicht
mehr so guter Laune. Er explodierte «vor Neid auf Leute, die
Erfolg hatten, zum Beispiel Rockstars»....
.....Am nächsten Tag, dem Jahrestag
von Pearl Harbor, stand Mark Chapman um halb elf Uhr morgens vor
dem Dakota und wartete darauf, daß John Lennon aus dem Haus kam.
Er war jedoch ungeduldig, so daß er, nachdem er dem Türsteher
angeboten hatte, Kaffee zu holen, um die Mittagszeit ging und
nicht wiederkam. Statt dessen verbrachte er den Sonntag
nachmittag damit, seine Sachen zu packen und in das Sheraton
Ecke Seventh Avenue und 5znd Street zu ziehen. Er hatte
beschlossen, in ein Hotel zu gehen, weil sein Zimmer im YMCA
sehr klein war und er dort einen Homosexuellen gesehen hatte,
der ihn an die «Husche» erinnerte, von der Holden Caulfield
belästigt worden war. Er buchte für eine Woche Zimmer 1730 zum
Preis von 82 Dollar pro Tag, bezahlte mit seiner Visa-Karte,
ging aufs Zimmer und packte seine Kleidungsstücke, seine Bibel,
seinen Paß und die Kassetten von den Beatles und Todd Rundgren
aus. Er aß im Hotelrestaurant und vollzog dann die dramatischste
Episode des Fängers nach, indem er eine Prostituierte
kommen ließ.
Chapman tat mit der Frau genau das gleiche wie der Held des
Romans. Er verwickelte sie in ein Gespräch (ließ sich sogar von
ihr massieren und massierte sie), vollzog aber keinen
Geschlechtsverkehr. Als sie um drei Uhr morgens das Zimmer
verlassen hatte, stand Mark an der Schwelle des denkwürdigsten
Augenblicks im Buch: Holdens Zusammenstoß mit dem schmierigen
Fahrstuhlführer, der eine Hure besorgt und dann das Doppelte des
vereinbarten Preises verlangt. Als Holden endlich mit dem Geld
herausrückt, tritt der Fahrstuhlführer ihm verächtlich zwischen
die Beine. Holden drischt los, zieht jedoch den kürzeren. Dann
hat er eine Rachephantasie und malt sich aus, er sei ein
Hollywoodgangster und schleppe sich verwundet, aber mit einer
Waffe in der Hand die Treppe zum nächsten Stock hinunter, um
nach dem Fahrstuhl zu klingeln. Beim Öffnen der Tür «sähe er
mich mit dem Revolver in der Hand dastehen und finge mit einer
hohen angsterfüllten Stimme an zu schreien, daß ich ihn
verschonen möge. Aber ich schösse trotzdem auf ihn. Sechs Kugeln
in seinen fetten behaarten Bauch. Dann würde ich den Revolver in
den Liftschacht werfen, nachdem ich alle Fingerabdrücke entfernt
hätte.»
Die Fahrstuhlszene konnte jetzt nicht nachvollzogen werden.
Sie würde bis zum nächsten Abend warten müssen.
Am Montag wachte Chapman gegen elf Uhr auf und zog sich warm
an: lange Unterhosen, Hemd, Pullover, Jacke, Schal, Mantel
und Kunstpelzmütze. Ehe er das Zimmer verließ, gruppierte
er all seine Lieblingsobjekte zu einem Arrangement auf einem
Tisch: ein Bild von Dorothy aus The Wizard of Oz, eine
Kassette mit acht Songs von Todd Rundgren, ein Neues Testament
(er hatte darin «Holden Caulfield» als Eigentümer vermerkt und
in der Überschrift «Das Evangelium nach Johannes» den Namen
durch «Lennon» ergänzt), seinen abgelaufenen Paß, einen
Empfehlungsbrief von einem YMCA-Angestellten und Fotos von sich,
die aufgenommen worden waren, als er in Fort Chaffee gearbeitet
hatte. Ehe er endgültig ging, betrat er das Zimmer noch ein
paarmal, um die Wirkung des Arrangements zu prüfen. Nach einigen
letzten Verbesserungen ging er hinunter und kaufte den Fänger
im Roggen. Auf den Innentitel schrieb er: «Dies ist meine
Aussage.» (Er hatte die Absicht, nach dem Mord zu schweigen und
das Buch zu seinem Sprecher zu machen.) Er ging mit dem roten
Taschentuch und dem Exemplar von Double Fantasy, das er
Samstag abend gekauft hatte, zum Dakota und fragte den Portier,
ob John Lennon an dem Morgen gesehen worden sei. Dann lud er
Jude Stein und eine andere Frau - Fans, die immer an der
Einfahrt standen - zum Lunch in den Dakota Coffee Shop ein, wo
er bei einem Hamburger und zwei Glas Bier von seinem langen Flug
nach Tokio und seiner Reise um die Welt erzählte.
Nach dem Essen nahm er wieder seinen Posten ein und fing ein
Gespräch mit Paul Goresh an, einem Amateurfotografen aus New
Jersey, der im Lennonkreis als Fat Dave bekannt war. Goresh
bemerkte später, Chapman sei kein waschechter Beatlesfan
gewesen, denn als Allen Klein, sein Gesicht hinter einer Hand
versteckend, das Dakota betreten habe, habe dieser den berühmten
Manager nicht erkannt.(1) Goresh
demonstrierte seine Vertrautheit mit den
Lennons, indem er Helen Seaman und Scan
begrüßte, als sie aus einem blauen Chevrolet-Kombi stiegen. Er
stellte ihnen Chapman vor und sagte, er sei ein Fan, der «extra
den weiten Weg von Hawaii» gekommen sei. Chapman freute sich wie
ein Schneekönig und bezeichnete Scan als den «niedlichsten
kleinen Jungen, den ich je gesehen habe».
John Lennon hatte im Dakota einen wichtigen Tag. In Erwartung
der großen Rockfotografin Annie Leibovitz, die ein Titelfoto für
die Zeitschrift Rolling Stone machen wollte, war er am
Morgen zu Veez a Veez in der West 72nd
Street hinübergegangen, um seine Haare schneiden zu lassen:
vorne kurz, fast ein Pony, und hinten lang. Annie Leibovitz, die
ihre Stars gern entblößt, hatte gehört, daß John und Yoko bei
einem simulierten Koitus gefilmt worden waren. Sie hatte eine
Zeichnung mitgebracht, die sie nackt und eng umschlungen zeigte.
Als John sah, was gewünscht wurde, erklärte er: «Sehr schön,
kein Problem», und zog sich sofort aus. Yoko weigerte sich, mehr
als ihr schwarzes Oberteil abzulegen. Leibovitz sagte ihr, sie
könnte ihr Hemd anbehalten, weil sie den Kontrast einer
bekleideten und einer splitternackten Gestalt sehr reizvoll
finde. Dann legte John sich auf Yoko, die mit den Händen hinter
dem Kopf dalag und ins Leere starrte, als bemerke sie den
verrückt wirkenden nackten Mann nicht einmal, der sich in einer
fötalen Stellung auf ihr zusammengerollt hatte und sie mit
geschlossenen Augen leidenschaftlich auf die teilnahmslose Wange
küßte. Als die Fotografin ihm die Polaroidaufnahme zeigte, war
er begeistert: «Fabelhaft! Das ist wirklich unsere Beziehung.
Versprechen Sie, daß es das Titelfoto wird.» Als das Bild in der
nächsten Woche auf dem Umschlag von Rolling Stone
erschien, löste es eine Sensation aus, weil es die Ehe des
berühmtesten Paares der Rockwelt auf das Verhältnis einer
gleichgültigen Hündin und ihres blind saugenden Welpen
reduzierte.
Mittags um eins gab John sein letztes Interview. Er hatte ein
rotes T-Shirt, einen blauen Pullover und seine «Schlägerjacke»
aus schwarzem Leder an und sprach in Studio One mit Dave Sholin,
einem Discjockey aus San Francisco. Er klang wie auf einem
Kokaintrip, als er zum letztenmal die altbekannte Nummer abzog,
und seine Begeisterung war gelegentlich so gezwungen, daß er
schrill wurde. Er war immer noch voll auf Touren, als ihm um
fünf Uhr klar wurde, daß es Zeit war, zur Record Plant zu
fahren. Da die Limousine der Lennons nicht verfügbar war, bot
Sholin ihnen an, sie in seinem Wagen mitzunehmen. Als sie vor
dem Dakota auf den Bürgersteig traten, kam Paul Goresh mit Mark
Chapman im Schlepptau herbeigeeilt.
Der dicke Fan mit der Hornbrille hielt dem großen Star
wortlos seine LP für ein Autogramm hin. John beugte sich ernst
darüber und schrieb «John Lennon 1980». Während er schrieb,
fotografierte Goresh das berühmte Profil und hielt im
Hintergrund das dümmlich lächelnde Mondgesicht von Chapman fest.
«Hier, ist es so richtig?» sagte John und gab das Album
zurück.
Chapman, den Lennons Anwesenheit zunächst sprachlos machte,
wandte sich einen Augenblick später an den Toningenieur und
fragte: «Habt ihr Jungs ein Interview mit Lennon gemacht?»
Als der Wagen anfuhr, fragte er Goresh: «Hatte ich meine
Mütze auf dem Bild auf oder nicht? Ich wollte sie nicht auf
haben.» Dann überlegte er kurz und rief aus: «Das werden sie mir
in Hawaii nicht glauben!»
Es wurde dunkel, und die Fans gingen. Doch Chapman und Goresh
blieben vor dem Dakota und unterhielten sich. Als Fred Sea-man
mit einer Schachtel mit herausgeschnittenen Sequenzen von den
Sitzungen, die Yoko 1974 mit Spinozza gemacht hatte, aus dem
Haus kam, hielt Goresh ihn auf und sagte: «Das ist Dave Chapman.
Er hat gerade einen Treffer gelandet!» Chapman hielt grinsend
seine LP hoch.
«Gratuliere», sagte Fred und eilte weiter zur Garage unter
dem Gebäude nebenan, dem Mayfair.
Als Fred das Haus betrat, in dem die Record Plant war, traf
er David Geffen, der unten auf den
Fahrstuhl wartete. Er sagte, Yoko habe ihn kommen lassen.
Während sie zum neunten Stock fuhren, bemerkte er, als dächte er
laut: «Sie ist ein harter Knochen. Man weiß nie, was sie
wirklich vorhat.» Was sie an jenem Abend vorhatte, wurde klar,
als Geffen im Studio war. Lennon gab dem im Aufnahmeraum
sitzenden Jack Douglas ein Los-geht's-Zeichen, und aus den
Lautsprechern dröhnte «Walking on Thin Ice». Während der ganze
Raum von dem Discobeat, Johns seufzender Gitarre und Yokos
fledermaushaften Quiektönen vibrierte, wandte sich Lennon, der
Verkäufer, an Geffen, den Kunden. «Es ist phantastisch! Super!»
sagte er begeistert. «Es ist besser als alles, was wir
auf Double Fantasy gemacht haben», fügte er aufrichtig
hinzu. Dann kam er zum springenden Punkt: «Bringen wir es vor
Weihnachten raus!»
Geffen lächelte und erwiderte: «Bringen wir es nach
Weihnachten raus, damit nichts schiefgehen kann. Geben wir eine
Anzeige auf.»
«Eine Anzeiget wiederholte Lennon mit gespieltem
Staunen. «Hör dir das an, Mutter, du sollst eine Anzeige
kriegen!»
Geffen wechselte geschickt das Thema, indem er berichtete,
daß das Album Double Fantasy in Großbritannien gerade in
Gold verwandelt worden war. Dabei warf Yoko ihm einen Blick zu,
der seiner Meinung nach bedeutete: «Hoffen wir, daß es in
England erfolgreich ist, denn John wünscht es sich so sehr.»
(Yoko hatte vor, Sam Havadtoy nach London zu schicken und für
100000 Dollar Exemplare der LP kaufen zu lassen, um sie auf den
ersten Platz zu hieven. Ironischerweise hatte Brian Epstein bei
«Love Me Do» das gleiche gemacht. John Lennon fing buchstäblich
wieder von vorn an.)
Als Yoko das Studio vor dem Ende der Sitzung für einige
Minuten verlassen hatte, lehnte John sich an die
Aufnahmemaschine, wo er in den letzten vier Monaten so viele
Monologe gehalten hatte, und sagte zu Jack: «Sag Yoko auf keinen
Fall, was ich dir jetzt erzählen werde.» Dann eröffnete er ihm
sinngemäß das gleiche wie Fred in jener Nacht auf den Bermudas,
als er die LP konzipierte. Er erklärte, seine Tage seien
gezählt, und er lebe von geborgter Zeit. Er sprach nicht von
Mord, aber er schien sich total mit seinem Tod abgefunden zu
haben. Er redete sogar darüber, was danach mit seiner Legende
geschehen würde, und prahlte, er werde viel berühmter
werden als Elvis. Jack hatte ihn vorher schon vom Sterben
reden hören — aber noch nie mit dieser Gewißheit, daß das Ende
unmittelbar bevorstehe.
Als Yoko zurückgekommen war und die Lennons anfingen, über
ihre Dinnerpläne zu diskutieren, wirkte John wieder ganz normal.
Sie erklärten, sie würden zum Imbiß an der Ecke gehen und dort
eine Kleinigkeit essen, und John versicherte Jack, daß er am
nächsten Morgen um neun wieder im Studio sein würde, um die neue
Single fertigzustellen. Normalerweise wäre Jack mit den Lennons
nach Hause gefahren, aber heute abend blieb er im Studio, da er
noch an einer anderen Schallplatte arbeiten mußte. Er brachte
John zum Fahrstuhl, wo sie sich voneinander verabschiedeten.
Seine letzten Erinnerungen an Lennon sind ein Lächeln, ein
Winken und ein aufgekratztes: «Bis morgen früh, in alter
Frische!»
Die Limousine brachte die Lennons auf dem kürzesten Weg nach
Hause. Sie fuhr die Eighth Avenue bis zum Columbus Circle hoch
und rollte dann den Central Park West hinauf bis zur yznd
Street, wo sie scharf nach links abbog und am Dakota hielt.
Mark David Chapman war immer noch vor dem Gebäude. Er stand
vor dem Wachhäuschen. Paul Goresh hatte ihm bis halb neun
Gesellschaft geleistet und dann gesagt, er werde heimfahren.
Chapman drängte ihn zu bleiben. «Man kann nie wissen», warnte
er. «Es könnte ja was passieren. Vielleicht fährt er heute abend
nach Spanien oder so - und du würdest ihn unter Umständen nie
wiedersehen!»
Nachdem Goresh gegangen war, hatte Chapman ein Gespräch mit
dem Portier, Jose Perdomo, angeknüpft, einem leutseligen,
rotgesich-tigen und weißhaarigen Kubaner. Sie hatten über Kuba,
die Schweinebucht und die Ermordung Kennedys geredet. Während
des Gesprächs kam ein Penner vorbei und bettelte sie an. Chapman
gab ihm zehn Dollar. Später drängte er dem Portier fünfzig
Dollar auf. Perdomo fand ihn ruhig und vernünftig. Nach dem Mord
sagte er zu Fred Seaman: «Chapman war nicht verrückt.»
Als die Limousine neben dem Gebäude hielt, war es zehn vor
elf. Yoko sprang zuerst hinaus, dann John, der ein Tonbandgerät
und einige Kassetten trug. Als Yoko an Chapman vorbeiging, sagte
dieser: «Hallo.» John sah ihn im Vorbeigehen durchdringend an.
Wie Chapman später bemerkte: «Er prägte sich mein Bild ein.»
Chapman hatte den ganzen Tag abwechselnd zu Gott und zu Satan
gebetet - zu ersterem, er möge ihn aus der Versuchung führen,
und zu letzterem, er möge ihm die Kraft geben, seine Mission zu
erfüllen. Jetzt, im entscheidenden Augenblick, hörte er eine
innere Stimme, die sagte: «Tu es... tu es... tu es!»
Er trat zwei Schritte in die Einfahrt, zog den kurzläufigen
Revolver aus der Tasche und ging in Schußposition, gebeugte
Knie, den Arm mit der Waffe ausgestreckt und mit der anderen
Hand am Gelenk abstützend. Er sprach kein Wort. Sein Revolver
sprach.
Die ersten beiden Schüsse trafen Lennon in den Rücken und
rissen ihn herum. Zwei der nächsten drei Geschosse trafen ihn in
die Schulter. Eine Kugel ging daneben. Das Knallen der Schüsse
wurde vom Geräusch zersplitternden Glases begleitet, denn die
Geschosse durchschlugen Lennons Körper und zerschmetterten die
Scheiben des Windfangs. Als Chapman das Magazin geleert hatte,
starrte er die Einfahrt hinunter und erwartete, John Lennons
Leichnam dort liegen zu sehen. Er sah nichts.
Chapman war beim Schießen so entrückt gewesen, daß er nicht
gemerkt hatte, wie sein Opfer die Windfangtür öffnete und die
fünf Stufen zur Pförtnerloge hinaufwankte, um dort
zusammenzubrechen und mit dem Gesicht nach unten hinzufallen.
Jay Hastings, der langhaarige junge Nachtportier, las gerade
eine Illustrierte, als er das Splittern von Glas und dann die
Schritte hörte. «John Lennon taumelte herein, mit einem
schrecklichen verwirrten Ausdruck im Gesicht», berichtete er
später. Yoko folgte und schrie gellend: «John ist
angeschossen!» Einen irren Moment lang glaubte Hastings, es
sei ein schlechter Scherz, aber dann sah er, wie Lennon
zusammenbrach und wie das Tonbandgerät und die Kassetten den
Boden entlang rutschten.
Hastings drückte einen Alarmknopf unter der
Schreibtischplatte, der die Beamten des nahegelegenen 2.0.
Reviers alarmierte. Dann eilte er an Johns Seite, um ihm die
zersplitterte Brille, deren Scherben in seine Nasenflügel
drangen, abzunehmen und ihn mit seiner Uniformjacke zuzudecken.
Als er seine Krawatte abband, um sie als Aderpresse zu benutzen,
wurde ihm klar, wie ernst Johns Verletzungen waren. Aus seinem
Mund und seiner Brust strömte Blut. «Seine Augen waren offen,
fixierten aber nichts», berichtete er. «Er gurgelte einmal und
erbrach Blut und fleischige Substanz.» Yoko schrie nach einem
Arzt. Hastings sprang auf und hämmerte 911 in die Wahltasten des
Telefons. Dann kehrte er an Lennons Seite zurück und sagte:
«Alles okay, John, Sie kommen wieder in Ordnung!»
Jose Perdomo war wie betäubt von dem, was er mit angesehen
hatte. Während ihm Tränen die Wangen hinunterliefen, schrie er
Chapman an: «Einen solchen Mann haben Sie erschossen!»
Mark nahm instinktiv die Haltung eines in die Enge
getriebenen Jugendlichen an und antwortete: «Keine Sorge, Jose.»
Dem Portier kam plötzlich der Gedanke, daß Chapman verrückt
sein könnte. «Wissen Sie eigentlich, was Sie tun?» fragte er.
«Keine Sorge!» wiederholte Chapman. Dann ließ er die
leergeschossene Waffe fallen - wie Holden Caulfield.
Jose trat die Pistole sofort ein Stück fort und flehte
Chapman an: «Bitte! Gehen Sie!»
Mark sah den Portier verzagt an. «Jose, es tut mir leid!»
sagte er leise. «Wohin soll ich denn gehen?»
In diesem Augenblick drehte er sich um und sah ein Mädchen in
der Einfahrt stehen. Nina Rosen war an John und Yoko
vorbeigekommen, als sie aus ihrer Limousine stiegen; dann hatte
sie Schüsse gehört und war umgekehrt, um festzustellen, was
geschehen war. Als sie Chapman fragte, was los sei, antwortete
er: «Ich an Ihrer Stelle würde machen, daß ich hier wegkomme!»
Nachdem er die Warnung einigemal wiederholt hatte, ging Nina.
Die einzigen anderen Zeugen des Geschehens, zwei Männer in einem
Taxi, das vorgefahren war, als die Lennons aus der Limousine
stiegen, waren bei den Schüssen wieder ins Taxi gesprungen, das
dann mit kreischenden Reifen in der yxnd Street gewendet hatte
und Richtung Central Park West verschwunden war. Inzwischen war
Jose Perdomo gebückt ins Büro geeilt, um zu berichten, daß der
Killer seine Waffe weggeworfen hatte. Jay Hastings ging sofort
hinaus, um Chapman im Auge zu behalten. Er erblickte einen
dicken jungen Mann ohne Kopfbedeckung und Mantel, der im grellen
Licht der Einfahrtlampe stand und ein Taschenbuch las.
Nun ertönten überall in der yznd Street Sirenen. Zwei
blauweiße Streifenwagen rasten mit rotweiß blitzenden
Einsatzlichtern zum Dakota. Chapman hatte
seinen Mantel ausgezogen und seine Mütze abgenommen, um zu
zeigen, daß er keine versteckte Waffe trug. Jetzt hob er die
Hände so, daß die Ellbogen sein Gesicht schützten. Von der
knappen Nachricht «Schüsse West yznd Street Nummer eins»
alarmiert, trafen Officer Tony Palma und sein Partner Herb
Frauenberger im selben Augenblick am Dakota ein wie Officer
Steve Spiro mit seinem Kollegen Pete Cullen. Die
Streifenpolizisten sprangen aus den Wangen, und der Portier rief
ihnen zu: «Das ist der Mann, der geschossen hat.» Er zeigte
dabei auf Chapman, der neben dem Tor im Halbdunkel stand.
Spiro zog seinen Revolver und rief: «Nicht bewegen! Hände an
die Wand!» Er wiederholte den Befehl, bis er den neunzig Kilo
schweren Chapman mit dem linken Arm packen und herumdrehen
konnte, um ihn für den Fall, daß irgendwo in der Nähe ein
zweiter Schütze lauerte, als Schild zu benutzen.
Sobald Chapman gefaßt worden war, fing er an zu wimmern: «Tun
Sie mir bitte nichts! Bitte!» Spiro blickte sich zum Eingang des
Gebäudes um und sah drei Einschußlöcher in den Glasscheiben des
Windfangs. In diesem Moment rief der Portier, daß Chapman allein
sei. Spiro drückte ihn wieder an die Mauer der Einfahrt. Der
Mörder fing an zu jammern und schluchzte: «Ich habe es allein
gemacht! Tun Sie mir bitte nichts!»
Jay Hastings steckte den Kopf aus dem Windfang, und Tony
Palma rief: «Ist da drin jemand angeschossen?» Sofort danach
lief er, gefolgt von Frauenberger, die Stufen hoch. Er sah einen
Mann mit dem Gesicht nach unten am Boden liegen und eine
orientalisch aussehende Frau, die weinend neben ihm stand.
Palma, der keine Ahnung von der Identität des Opfers hatte,
drehte den Mann um und sah, daß er schwer verwundet war. «Alles,
was ich sah, war Blut», erinnerte er sich später. Er blickte zu
seinem Partner hoch und sagte: «Nimm seine Beine, damit wir ihn
hier rausbringen können!» Sie nahmen Lennon sofort auf ihre
Schultern und brachten ihn aus dem Büro.
Jay Hastings begleitete sie und versuchte zu helfen. Er
erinnerte sich später, daß er hören konnte, wie Johns Knochen
knackten. Während die Polizeibeamten Lennon auf den Rücksitz
eines dritten Streifenwagens bugsierten, der eben vorgefahren
war, bemerkte Hastings, daß der Angeschossene vollkommen schlaff
war, mit unnatürlich baumelnden Gliedmaßen.
Palma sagte zu Officer James Moran, dem Beifahrer des dritten
Wagens: «Bringt ihn sofort zum Krankenhaus!»
Während das Fahrzeug sich in Bewegung setzte, drehte Moran
sich um und schrie Lennon an: «Können Sie mir sagen, wer Sie
sind?» John konnte nicht sprechen. «Er stöhnte und nickte, als
ob er <Ja> sagen wollte.» Moran stellte die Sirene an, während
der Fahrer, Officer William Gamble, bei Rot in die Columbus
Avenue einbog und dann quer durch Manhattan und die Ninth Avenue
hinunter zur 5§th Street raste, wo er die Einfahrt zur
Notaufnahme vom Roosevelt Hospital hineinfuhr. Tony Palma hatte
inzwischen per Funk das Krankenhaus alarmiert.
Steve Spiro hatte den mit Handschellen gefesselten Mark
Chap-man derweil auf den Rücksitz seines Wagens geschoben. Als
er sich ans Steuer gesetzt hatte, verlor er die Beherrschung und
schrie ihn an: «Ist Ihnen eigentlich klar, was Sie getan
haben? Ja?»
Chapman antwortete ernst: «Hören Sie, es tut mir leid. Ich
habe nicht gewußt, daß er ein Freund von Ihnen war.»
Spiro brüllte: «Du tickst ja nicht richtig!» Er änderte seine
Meinung, als er Chapman zum zo. Revier gebracht hatte. Ihn
beeindruckte vor allem der geschäftsmäßige Ton, den Mark
anschlug, als er mit Gloria in Honolulu telefonierte. Was
Chapman betrifft, klingt das (von der Polizei mitgeschnittene)
Gespräch ganz wie der Anruf eines x-beliebigen Ehemanns, der
sich nach einem unangenehmen Erlebnis mit seiner Frau in
Verbindung setzt, um sie vor den Folgen zu schützen, während er
die Gefahr, in der er selbst geschwebt hat oder schwebt, als
belanglos hinstellt.
mark: Hi
gloria: Hi,
Mark. Ich liebe dich.
mark:: Ich
weiß. Ich liebe dich auch. Ist die Polizei da gewesen?
gloria: :
Nein, als erstes kam ein Reporter.
mark: O
nein! Bist du zu Hause?
gloria: Ja,
deine Ma und dein Pa sind auch da.
mark: Okay.
Hm, ich möchte mit niemand anderem reden.
gloria: Ich
weiß.
mark: Aber
ich möchte nicht, daß du weinst. Ich möchte, daß du mir gut
zuhörst.
Nachdem er ihr eine Weile mit seiner typischen Sturheit
eingebleut hatte, wie wichtig es sei, die Polizei zu holen, um
sich vor der Presse schützen zu lassen, geriet er plötzlich aus
dem Konzept, da die schüchterne Gloria ihn unterbrach und
fragte: «Ist dir eigentlich klar, was du wirklich getan hast?»
Er entgegnete ohne Zögern: «Oh, ich muß jetzt gehen.»
Als Lennon in die Notaufnahme gebracht wurde, hatte er
praktisch keinen Puls mehr. Die beiden Kugeln, die ihn in den
Rücken getroffen hatten, hatten die Lunge durchschlagen und
waren aus der Brust ausgetreten. (Eine von ihnen wurde später in
seiner schwarzen Lederjacke gefunden.) Eine dritte Kugel hatte
sein linkes Schulterblatt zerschmettert. Eine vierte hatte
dieselbe Schulter getroffen, war aber vom Knochen in die Brust
gelenkt worden und hatte dort die Hauptschlagader durchtrennt
und die Luftröhre aufgerissen.
Ein Team von sieben Medizinern mühte sich, Lennon mit allen
verfügbaren Geräten und Methoden zu retten. «Es war nicht
möglich, ihn durch irgendein Mittel wiederzubeleben», erinnerte
sich Dr. Stephen Lynn, der Leiter der Notstation des
Krankenhauses. «Er hatte drei Löcher in der Brust, zwei im
Rücken und zwei in der linken Schulter. Er hatte drei Liter Blut
aus seinen Schußwunden verloren, also rund achtzig Prozent
seines gesamten Bluts.»
Die offizielle Todesursache lautete Schock durch großen
Blutverlust. Inoffiziell erklärten einige Ärzte des Teams, die
Chancen wären vielleicht besser gewesen, wenn man Lennon nicht
angerührt und einen Krankenwagen geholt hätte, dessen Besatzung
sofort Wiederbelebungsversuche hätte durchführen können. Sie
drückten auch Staunen über Lennons katastrophalen körperlichen
Zustand aus.
Yoko war von Tony Palma zum Krankenhaus gefahren worden. Der
Beamte erfuhr erst jetzt, daß der Schwerverletzte, den er
gefunden hatte, kein anderer als John Lennon war. Er berichtete
später, er habe Yoko in ein kleines Zimmer geführt, wo sie
telefonieren konnte. Sie rief David Geffen an, der kurz danach
eintraf. Als er sie sah, nahm er sie hoch wie ein kleines Kind.
«Jemand hat auf John geschossen!» stammelte sie. «Kannst du
es fassen? Jemand hat auf ihn geschossen!»
In diesem Moment betrat Dr. Lynn den Raum.
Yoko fragte: «Wo ist mein Mann? Ich möchte bei ihm sein. Er
will bestimmt, daß ich bei ihm bin. Wo ist er?»
Lynn wappnete sich und teilte mit: «Wir haben leider eine
sehr schlechte Nachricht. Trotz umfassender Bemühungen ist Ihr
Mann gestorben. Er hat nicht leiden müssen.»
Yoko erwiderte: «Wollen Sie sagen, er schläft?»
Palma und Frauenberger brachten Yoko zurück zum Dakota und
hielten unterwegs am Hotel Pierre, wo Geffen wohnte. Als sie
beim Dakota waren, stahlen sie sich durch den Hintereingang ins
Gebäude. Sobald Yoko in der Wohnung war, griff sie zum Hörer und
fing an zu telefonieren. Später behauptete sie, sie hätte die
drei Menschen angerufen, «von denen John gewollt hätte, daß sie
es erführen: Julian, Tante Mimi und Paul McCartney». Es gibt
keinen Beweis, daß einer von ihnen einen solchen Anruf bekam.
Fußnote 1)