Vor 25 Jahren wurde John Lennon ermordet

MORDFRUST
12/05

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Mitte Oktober 1980 las Mark David Chapman, ein dicker, bebrillter, pausbäckiger Wachmann in einer Ferienwohnungsanlage am Strand von Waikiki, im Esquire einen Artikel mit der Überschrift «John Lennon, wo bist du?» Der Bericht hatte den Untertitel: «Auf der Suche nach dem Beatle, der zwei Jahrzehnte lang wahre Liebe und Seelenfrieden suchte, aber nur Kühe, Frühstücksfernsehen und Immobilien in Palm Beach fand.» Der respektlose Autor, Laurence Shames, hatte den heiklen Auftrag bekommen, den bekanntesten Eremiten des Showgeschäfts seit Greta Garbo ausfindig zu machen. Da die Lennons sich hinter ihren Barrikaden verschanzten, hatte er die Festung des Stars umgangen, indem er die Farmen, Rinder, Villen und Geschäfte - also den Besitz - unter die Lupe nahm. Lennon aus dieser finanziellen Perspektive zu betrachten, brachte ein überraschendes Ergebnis. Der Mann, in dem Millionen das «Gewissen seiner Generation» sahen, erwies sich als typisches Produkt der siebziger Jahre: «...ein vierzigjähriger Geschäftsmann mit 150 Millionen Dollar... und guten Anwälten, die ihn durch Steuerschlupflöcher quetschen ... Der aufgehört hat, Fehler zu machen, wie er aufgehört hat, Musik zu machen.»

Im Grunde beschrieb Shames eher Yoko Ono als John Lennon, aber John hatte zu solchen Attacken herausgefordert, indem er Yoko sein Leben anvertraute. Nun sollte er für diese Verwechslung zahlen, denn Mark David Chapman war auf der Suche nach einem berühmten Opfer. Als er den Artikel im Esquire gelesen hatte, wußte er, wen er töten mußte.

Chapman gab ein klassisches Beispiel für einen «Mord aus Frustration», er war ein zu kurz Gekommener, der jeden Preis für Ruhm zu zahlen bereit war; kaum saß er im Mördertrakt des Zuchthauses von Attica, als er auch schon begann, Verträge über Bücher, Filme und Zeitschriftenserien abzuschließen. Er wollte auf der Leinwand von Timothy Hutton gespielt werden, und Rupert Murdoch sollte ihn veröffentlichen.

Das Bemerkenswerte an Chapman war nicht seine Persönlichkeit, sondern die Tatsache, wie gut er sie bis zu seinem fünfundzwanzigsten Lebensjahr verborgen hatte. Den psychologischen Standardtests zufolge war er extrem feindselig und aggressiv, aber bis zu dem Jahr, in dem er John Lennon ermordete, war all der Zorn, der seit seiner Kindheit in ihm gebrodelt hatte, buchstäblich unsichtbar geblieben.

«Mark war ein Junge, der nicht wußte, was "Haß" bedeutete», erinnerte sich einer seiner früheren Vorgesetzten beim YMCA, wo Chapman jahrelang außerordentlich beliebter Mitarbeiter bei Ferienlagern gewesen war. Mark war nicht nur ein guter Jugendleiter, sondern auch ein überzeugter Wiedergeborener Christ, der seinem Hippieleben (und dem Gebrauch von Amphetaminen, Barbituraten, Marihuana und LSD) als Siebzehnjähriger entsagt hatte, nachdem Christus ihm in seinem Zimmer erschienen war. Der Heiland hatte unmittelbar neben seinem linken Knie gestanden, und Mark hatte ein «Kribbeln von den Zehenspitzen bis zum Scheitel» gespürt und sich über Nacht in einen musterhaften jungen Christen verwandelt. Er trug fortan schwarze Hosen und ein weißes Oberhemd mit Krawatte, er ließ sich die Haare kurz schneiden und hängte sich ein Holzkreuz um den Hals. Er zog ein Jahr durchs Land, schwang die Bibel und versuchte, andere zu bekehren. Er spielte in der Kirche seiner Auferstehungssekte Gitarre, sprach in Zungen und tanzte im Geiste. Zuletzt träumte er davon, als Missionar in ferne Länder zu gehen. Er ging aber nur mit einer YMCA-Gruppe nach Beirut und mußte unmittelbar nach dem Ausbruch des Bürgerkriegs zurückkehren. Kein Wunder, daß Chapmans Freunde, Kollegen und Angehörige sprachlos waren, als sie von seinem Verbrechen hörten. Wie konnte der kleine Mark die furchtbare Sünde des Mordes begangen haben?

Chapman wurde von nicht weniger als neun Psychiatern und Psychologen untersucht, die zu dem Ergebnis kamen, daß er unter krankhaftem Narzißmus litt, der als «enorme Selbstüberschätzung, Phantasien von Erfolg, Macht und idealer Liebe, Gleichgültigkeit gegenüber den Gefühlen anderer und einem Bedürfnis nach fortwährender Aufmerksamkeit und Bewunderung» beschrieben wurde. Er habe mit «Gefühlen der Wut, Scham, Demütigung und Minderwertigkeit auf Kritik reagiert, für sich selbst Sonderrechte beansprucht» und zu «erpresserischen Selbstmordgesten» geneigt.

Das Hauptmotiv des Mordes war schneller Ruhm, aber Chapman hatte noch eine ganze Reihe anderer Beweggründe. Ein sehr wichtiger Faktor bei der Auswahl, Ausspähung und Ermordung John Lennons bestand darin, daß Chapman sich mit Holden Caul-field identifizierte, dem Helden von John D. Salingers Der Fänger im Roggen. Als Chapman sein Opfer getötet hatte, legte er die Waffe hin und griff zum Fänger. Er stand gelassen in der Einfahrt des Dakota, las in dem Buch und bot ganz das Bild eines bibellesenden jungen Missionars, der gefaßt seinem Märtyrertod im Kannibalenkessel entgegensieht. Wie Thomas von Kempen seinem berühmten frommen Werk den Titel Nachfolge Christi gab, so hätte Mark David Chapman seine Autobiografie Nachfolge des Fängers nennen können, denn seit er als Achtzehnjähriger auf den berühmten Prototyp des modernen jungen Mannes gestoßen war, hatte er zwischen seinem eigenen Leben und dem Holden Caulfields eine Parallele nach der anderen entdeckt.

Die Ähnlichkeiten zwischen dem fiktiven Internatszögling, der einer wohlhabenden Familie aus dem feinen Manhattan entstammt, und dem in einem Vorort in den Südstaaten aufgewachsenen Sohn eines ehemaligen Armeeangehörigen und einer früheren Krankenschwester sind auf den ersten Blick nicht ersichtlich. Wenn man jedoch den Lack abkratzt und sich auf den Kern ihrer Persönlichkeit und die wichtigsten Episoden ihres Lebens konzentriert, sieht man rasch, warum dieses Buch Chapmans ureigene Bibel wurde. Holden und Mark David stehen beide an den kritischen Polen von Liebe (für Kinder und die Idee der Kindheit) und Haß (auf die ganze Welt der Erwachsenen und insbesondere die großen Tiere und Aufsteiger, die für Holden allesamt Heuchler sind). Chapman, der sich zuletzt als den «Fänger im Roggen dieser Generation» sah, beschloß in «Erfüllung einer Mission von höchster Bedeutung», John Lennon als Symbol der Heuchler dieser Welt zu töten und die Massen auf den Fänger hinzuweisen, «dieses außergewöhnliche Buch, das viele Antworten enthält».

Die letzte Zutat des Hexengebräus, das Mark David Chapman antrieb, war seine primitive manichäistische Überzeugung, daß die Welt ein Schlachtfeld für die Mächte des Lichts und der Finsternis sei, ein Glaubenssatz, der für ihn um so konkreter war, als er sein Gehirn für eine Empfangsstation hielt, die die Befehle Gottes und des Teufels registrierte. Befehlshalluzinationen spielten für Chapman eine große Rolle, sowohl bei Lennons Ermordung («mein Geist sagte immerfort: "Tu es! Tu es!") als auch bei seinem Entschluß, sich vor Gericht schuldig zu bekennen. («Gott besuchte mich in meiner Zelle, [er sprach] mit einer sehr leisen Männerstimme, [er] befahl mir, mich schuldig zu bekennen.») Dementsprechend glaubte Chapman, daß er nie die Kraft haben würde, seine Mission allein durchzuführen, so daß er am Vorabend der Tat zu Satan betete, der dafür sorgte, daß seine Hand nicht zitterte, und ihm ermöglichte, den Antichrist zu töten.

Chapmans Leben läßt sich in zwei Abschnitte einteilen - vor und nach dem Nervenzusammenbruch, den er mit einundzwanzig Jahren hatte. Vorher war Mark David ein Junge mit einer strahlenden Zukunft, der Liebling der YMCA-Lagerleiter, der Freund eines reizenden jungen Mädchens namens Jessica Blankenship und der bevorzugte Helfer von Dutzenden von Kindern, die ihn Kapitän Nemo nannten. Dann ging er mit Jessica aufs Convent College in Tennessee, um sich für eine Dauerstellung beim YMCA und damit für eine Tätigkeit im Ausland zu qualifizieren. Aber er konnte dem Druck des Studiums nicht standhalten. Schon im ersten Semester brach er zusammen, verließ das College - und seine Freundin! -, nicht ohne den Ort zuvor als Nest voller Heuchler zu verdammen.

Von seinen Eltern, zu denen er schon als Kind ein schlechtes Verhältnis gehabt hatte, bekam er keinen Trost. Der einzige Mensch, der ihm wirklich zur Seite stand, war sein guter alter Kumpel Dana Reeves, der gerade in den Polizeidienst eingetreten war. Er riet ihm, Wachmann zu werden. Man müsse dafür nur einen kurzen Kurs absolvieren und auf dem Schießstand üben. Chapman erwies sich als guter Schütze. Mit einer Kanone herumzulaufen, war jedoch ein schlechter Ersatz für den Schutz unschuldiger Kinder, die eigentliche Aufgabe des Fängers im Roggen, und so beschloß Chapman, es noch einmal mit dem College zu versuchen. Er scheiterte erneut. Diesmal war er so gedemütigt, daß er ernsthaft an Selbstmord dachte. Vor seinem Tod wollte er sich jedoch eine letzte Freude gönnen. Er wollte Hawaii besuchen, das man ihm als ein wahres Paradies geschildert hatte.

Nach einem halben Jahr auf den Hawaii-Inseln, im Juni 1977, versuchte Chapman, sich mit Auspuffgasen zu vergiften. Wie schon so oft bei anderen Dingen scheiterte er auch beim Selbstmord. Er wurde ins Castle Memorial Hospital eingeliefert, wo man ihn zwei Wochen auf Grund seines «schwer neurotisch-depressiven Verhaltens» behandelte. Als ambulanter Patient entlassen, klammerte er sich an das Krankenhaus, indem er sich um eine Anstellung in der Wirtschaftsabteilung bemühte und freiwillig in der Psychiatrie arbeitete. Dann beschloß er plötzlich, eine Reise um die Welt zu machen.

Mit Hilfe der jungen Japanerin Gloria Abe, die bei dem Reisebüro Waters World Travel arbeitete, plante er das Unternehmen vier Monate lang in allen Einzelheiten. Am 6. Juli 1978 flog er nach Westen, zuerst nach Tokio, wo er etwa zur selben Zeit war wie John und Yoko. Als er am 2.0. August — ungefähr einen Monat vor Lennons Ankunft in Honolulu — zurückkehrte, hatten viele Leute den Eindruck, er sei ein anderer Mensch geworden. Er war optimistisch, locker und plante einen neuen Start in einem sozialen Beruf. Er hatte Gloria eine ganze Reihe Ansichtskarten und Briefe geschrieben, und nun fingen sie an, zusammen auszugehen. Sie waren ein sonderbares Paar: Er, ein Jesusfreak aus den amerikanischen Südstaaten, war vier Jahre jünger als sie, die Tochter eines wohlhabenden japanischen Bäckers, eine Buddhistin, die an Kartenlegen, Astrologie und Okkultismus glaubte. Nachdem sie im Juni geheiratet hatten, zeigte Chapman neue Seiten seines Charakters. Der früher so fügsame Krankenhausangestellte wurde auf einmal rechthaberisch und herrisch und quälte seine Frau mit absurden Forderungen und Verboten, während er ihr Geld bedenkenlos für seine neueste Obsession, Kunst, ausgab.

Er wollte unbedingt eine vergoldete Wandplakette von Salvador Dalis «Lincoln in Dalivision» haben, die die Ermordung Abraham Lincolns vexierbildartig mit der Kreuzigung Jesu kombiniert. Sie kostete 5000 Dollar. Der Händler, der das Stück ausgestellt hatte, das Mark mit dem Geld seines Schwiegervaters kaufen wollte, berichtete später, daß Chapman sich häufig in der Galerie aufgehalten und über Mord und Kreuzigung schwadroniert hatte — die beiden Themen waren für ihn inzwischen genauso eng miteinander verknüpft wie für John Lennon.

Im Dezember 1979 kündigte Mark seine Stelle im Krankenhauskiosk, weil er nicht befördert worden war, und arbeitete wieder als Wachmann, allerdings unbewaffnet. Dieser Rückschritt wurde von einem ungewöhnlichen Verhalten begleitet. Ein Bekannter schilderte den Chapman jener Periode als einen «beängstigenden Typen, einen negativen, kalten und abstoßenden Menschen». Ein Angestellter der Scientologischen Kirche, deren Gemeindehaus gegenüber von der Wohnanlage war, wo Chapman arbeitete, bezeichnete den jungen Wächter als einen «klassischen Fall von verdeckter Feindseligkeit. Er pflegte vor unserem Haus auf und ab zu gehen und trat dabei nach Kieselsteinen und murmelte Drohungen vor sich hin. Wir bekamen drei Monate lang bis zu vierzig Drohanrufe am Tag. Eine Stimme flüsterte: <Peng! Peng! Du bist tot!>» Chapman gestand später, daß er der Anrufer gewesen war.

Nachdem er den Esquire-Artikel über John Lennon gelesen hatte, ging er am 17. Oktober zur Bücherei und entlieh Anthony Fawcetts Biographie John Lennon: One Day at a Time. Er las ein paar Seiten, wurde dann zornig und sagte, Lennon sei ein Heuchler, der fortwährend Frieden und Liebe predige und dabei das Leben eines Millionärs führe. Mark fing auch an, die Songs der Beatles auf Kassette aufzunehmen und zu verzerren, indem er die Bänder schneller abspielte. Wenn er sie Gloria vorspielte, meinte sie die Stimmen von Kobolden zu hören. Mark hörte sich die Kassetten am liebsten in einem dunklen Zimmer an, wo er nackt in der Lotosposition dasaß und vor sich hin sang: «John Lennon, ich werde dich töten, du falscher Hund!»

Am 23.Oktober verließ Chapman seine Arbeitsstelle zum letztenmal. Statt seinen eigenen Namen zu schreiben, unterzeichnete er seine Arbeitskarte mit einem gekritzelten «John Lennon», das er dann mit kurzen, heftigen Linien durchstrich. Im August hatte er einem Bekannten in Italien einen Brief geschrieben und das Dakota als Absenderadresse angegeben. Er hatte in dem Brief erklärt, er wolle demnächst auf eine Mission nach New York gehen. Möglicherweise dachte Chapman also schon vor der Lektüre des Esquire-Artikels daran, Lennon zu töten, und der Bericht bestärkte ihn nur in seinem Entschluß, weil er ihm ein noch stichhaltigeres Motiv lieferte, die Menschheit von diesem Antichrist, der für ihn alle großen Heuchler dieser Welt verkörperte, zu befreien. Die Ankündigung von Double Fantasy war sicher ein weiterer Grund, denn sie bedeutete, daß der große Jugendverderber erneut im Begriff war, die Kinder auf Abwege zu locken, genau wie er es früher getan hatte, als er verkündete, die Beatles seien beliebter als Jesus.

Chapman hatte schon viele andere Berühmtheiten umbringen wollen, darunter Ronald Reagan, Jacqueline Onassis, Elizabeth Taylor, George C. Scott, Johnny Carson, David Bowie und Eddie Albert, ja selbst seinen eigenen Vater, aber sobald er John Lennon ins Visier genommen hatte, handelte er rasch und zielstrebig.

Vier Tage nachdem er seine Stelle aufgegeben hatte, betrat Chapman ein Waffengeschäft im Zentrum von Honolulu. Es hieß J and S Sales, und sein Werbeslogan lautete: «Kauf eine Kanone und mach mal einen richtigen Knall!» Von einem Angestellten, der Ono hieß, kaufte er einen Charter Arms Special vom Kaliber .38, einen fünf-schüssigen Kurzlaufrevolver, den Detektive gern benutzen, weil er leicht unter der Kleidung zu verbergen ist. Außerdem kaufte er ein paar Hanteln, um seine Armmuskeln zu stärken und sicherer zielen zu können. Als eine Stellenvermittlung anrief und fragte, ob er an einem neuen Job interessiert sei, antwortete er: «Nein, ich hab schon einen Job zu erledigen.»

Am 27. Oktober kaufte er mit einer Visa-Kreditkarte ein einfaches Flugticket nach Newark. Am 29. verabschiedete er sich von Gloria mit den Worten: «Ich gehe nach New York, um alles zu ändern.» Am 30. kam er an und stieg für eine Nacht (wie Holden) in einem teuren Hotel ab, ehe er in das Vanderbilt-YMCA in der East 47th Street zog. Als er ausgepackt hatte, begann er sofort, Holden Caulfields Leidensweg nachzuvollziehen.

Er besuchte den See am Südrand des Central Park, wo die Frage nach dem Verbleib der Enten den Helden des Fänger so verwirrt hatte. Er sah zu, wie die Kinder Karussell fuhren und die Statue von Alice im Wunderland hochkletterten. Dann ging er in nördlicher und anschließend in westlicher Richtung durch den Park und kam zu dem Museum, wo Holden sich mit seiner geliebten Schwester Phoebe getroffen hatte.

Das Museum liegt nur fünf Häuserblocks nördlich vom Dakota, und Chapman las hier eine Geschichte des Gebäudes, die er faszinierend fand. Um seinem Ziel näher zu sein, zog er in das einen halben Block vom Dakota entfernte Olcott-Hotel.

Eines Tages lernte er ein Mädchen namens Anne kennen, das im Dairy in the Park arbeitete. Er sagte, er hätte gern Gesellschaft, und schlug vor, zusammen ins Theater zu gehen und sich den Elefantenmenschen mit David Bowie anzusehen. Am nächsten Tag traf er Anne im Arsenal und schenkte ihr einen Blumenstrauß. Sie machten eine Fahrt mit einer Pferdedroschke, sahen das Stück und fuhren zur Aussichtsplattform des Empire State Building hoch. Als sie später über den Times Square zurückgingen, bezeichnete Chapman das Viertel als eine Zuflucht von «Tunten», Drogendealern und Prostituierten. Er zeigte dagegen viel Mitgefühl für «Freaks», als sie über den gleichnamigen Film sprachen. Und er äußerte sich abfällig über das Waffengesetz des Bundesstaates New York.

Er hatte nämlich feststellen müssen, daß er ohne einen schwer zu bekommenden Waffenschein keine Munition für seine Waffe kaufen konnte. Um sie zu besorgen, flog er am S.November nach Atlanta, wo er sich mit Dana Reeves in Verbindung setzte, der in dem Provinznest Decatur als stellvertretender Sheriff arbeitete. Der Hüter des Gesetzes sorgte dafür, daß Mark seine Kugeln bekam: fünf Hohlmantelgeschosse, die beim Aufprall zerbersten und ihr Ziel buchstäblich zerfetzen.

Als Chapman am 9. November nach New York zurückkam, war er soweit. Er hatte seine Vorbereitungen beendet, seine Beute ausgespäht und war mit ausreichend Munition versehen. Dann fanden die Engel Gottes plötzlich ihre Stimme und übertönten die Dämonen der Hölle. Am u.November rief er Gloria an und sagte, es sei ein Fehler gewesen, nach New York zu gehen. Er teilte ihr zum erstenmal mit, daß er es getan habe, um John Lennon zu erschießen, und erklärte, nur seine Liebe zu ihr habe ihn daran gehindert. «Ich habe einen großen Sieg errungen», sagte er. «Ich komme wieder nach Hause.».....

PENG! PENG! DU BIST TOT!

Als Mark Chapman wieder in Hawaii war, zeigte er Gloria seinen Revolver und bestand sogar darauf, daß sie den Abzug betätigte. Er wollte ihr unbedingt begreiflich machen, daß er in der Lage war, John Lennon das Leben zu nehmen. Gleichzeitig behauptete er nachdrücklich, die ganze Episode sei ein böser Traum gewesen, und er hätte den Mord nicht einmal dann ausgeführt, wenn er eine gute Gelegenheit dazu gehabt hätte. Die nächsten drei Wochen hockte er ständig vor dem Fernseher. Er hatte in dieser Zeit zwei Halluzinationen, die er als göttliche Botschaften deutete. Als er an einer an der Wand hängenden Tafel mit den zehn Geboten vorbeiging, glaubte er zu sehen, wie sich das sechste Gebot - Du sollst nicht töten! - von den anderen löste und immer größer wurde. Einige Tage später sah er einen Zeichentrickfilm und machte plötzlich dieselben Worte auf dem Bildschirm aus.

Ende November sagte er zu Gloria, es sei höchste Zeit, endlich erwachsen zu werden. Er sei nun ein verheirateter Mann und müßte in der Lage sein, eine Familie zu ernähren. Vorher müsse er jedoch eine Weile allein verreisen, um über alles nachzudenken. Er habe beschlossen, wieder nach New York zu fliegen. Sie brauche keine Angst zu haben, daß er etwas Schlimmes tun würde. Er habe den Revolver und die Munition ins Meer geworfen.

Etwa um die gleiche Zeit rief er die Waikiki Counseling Clinic an, die er schon einmal aufgesucht hatte, als er vom Gedanken an Selbstmord verfolgt worden war. Er vereinbarte einen Termin mit dem Psychologen, hielt ihn aber nicht ein. Statt dessen verließ er Hawaii am Freitag, dem 5. Dezember, und traf am Samstag nachmittag in New York ein. Nachdem er ein Zimmer im YMCA in der 63rd Street, zwischen Broadway und Central Park West, genommen hatte, suchte er das nahegelegene Dakota auf. Dann fuhr er in die Stadt. Ein Taxifahrer namens Mark Snyder (ein Jurastudent, der nebenbei jobbte) ließ ihn Ecke 55th Street und Eighth Avenue einsteigen.

Der Fahrer erinnerte sich später, daß Chapman eine schwere Aktentasche bei sich gehabt habe und «sehr aufgeregt» gewesen sei. Er habe ihm fünf Dollar und etwas Kokain angeboten, wenn er an einigen Adressen halten und kurz warten würde. Die erste Adresse war das Century, ein luxuriöses Art-deco-Apartmenthaus in Central Park West, dessen Seiteneingang gegenüber vom Haupteingang des YMCA in der 63rd Street liegt. Chapman betrat das Gebäude durch diesen Eingang, der von einem Portier bewacht wird. Fünf Minuten später kam er zurück, stieg wieder ein und nannte eine Adresse an der East Side, Ecke 65th Street und Second Avenue.

Diesmal brauchte Chapman nur zwei Minuten. Als er wieder eingestiegen war, platzte er los: «Ich muß es einfach erzählen. Ich habe eben die Bänder für eine neue LP abgegeben, die John Lennon und Paul McCartney heute gemacht haben. Ich war der Toningenieur, und sie haben drei Stunden lang zusammen gespielt.» Der Fahrer erinnerte sich, daß Chapman «anfing, wie ein Irrer den Kopf zu schütteln und vor sich hin zu lächeln, als flöge er in Gedanken ins All hinaus». Als sie die letzte Station, Ecke Bleecker Street und Sixth Avenue, erreichten, wo es einige große Schallplattengeschäfte gibt, war Chapman nicht mehr so guter Laune. Er explodierte «vor Neid auf Leute, die Erfolg hatten, zum Beispiel Rockstars»....

.....Am nächsten Tag, dem Jahrestag von Pearl Harbor, stand Mark Chapman um halb elf Uhr morgens vor dem Dakota und wartete darauf, daß John Lennon aus dem Haus kam. Er war jedoch ungeduldig, so daß er, nachdem er dem Türsteher angeboten hatte, Kaffee zu holen, um die Mittagszeit ging und nicht wiederkam. Statt dessen verbrachte er den Sonntag nachmittag damit, seine Sachen zu packen und in das Sheraton Ecke Seventh Avenue und 5znd Street zu ziehen. Er hatte beschlossen, in ein Hotel zu gehen, weil sein Zimmer im YMCA sehr klein war und er dort einen Homosexuellen gesehen hatte, der ihn an die «Husche» erinnerte, von der Holden Caulfield belästigt worden war. Er buchte für eine Woche Zimmer 1730 zum Preis von 82 Dollar pro Tag, bezahlte mit seiner Visa-Karte, ging aufs Zimmer und packte seine Kleidungsstücke, seine Bibel, seinen Paß und die Kassetten von den Beatles und Todd Rundgren aus. Er aß im Hotelrestaurant und vollzog dann die dramatischste Episode des Fängers nach, indem er eine Prostituierte kommen ließ.

Chapman tat mit der Frau genau das gleiche wie der Held des Romans. Er verwickelte sie in ein Gespräch (ließ sich sogar von ihr massieren und massierte sie), vollzog aber keinen Geschlechtsverkehr. Als sie um drei Uhr morgens das Zimmer verlassen hatte, stand Mark an der Schwelle des denkwürdigsten Augenblicks im Buch: Holdens Zusammenstoß mit dem schmierigen Fahrstuhlführer, der eine Hure besorgt und dann das Doppelte des vereinbarten Preises verlangt. Als Holden endlich mit dem Geld herausrückt, tritt der Fahrstuhlführer ihm verächtlich zwischen die Beine. Holden drischt los, zieht jedoch den kürzeren. Dann hat er eine Rachephantasie und malt sich aus, er sei ein Hollywoodgangster und schleppe sich verwundet, aber mit einer Waffe in der Hand die Treppe zum nächsten Stock hinunter, um nach dem Fahrstuhl zu klingeln. Beim Öffnen der Tür «sähe er mich mit dem Revolver in der Hand dastehen und finge mit einer hohen angsterfüllten Stimme an zu schreien, daß ich ihn verschonen möge. Aber ich schösse trotzdem auf ihn. Sechs Kugeln in seinen fetten behaarten Bauch. Dann würde ich den Revolver in den Liftschacht werfen, nachdem ich alle Fingerabdrücke entfernt hätte.»

Die Fahrstuhlszene konnte jetzt nicht nachvollzogen werden. Sie würde bis zum nächsten Abend warten müssen.

Am Montag wachte Chapman gegen elf Uhr auf und zog sich warm an: lange Unterhosen, Hemd, Pullover, Jacke, Schal, Mantel und Kunstpelzmütze. Ehe er das Zimmer verließ, gruppierte er all seine Lieblingsobjekte zu einem Arrangement auf einem Tisch: ein Bild von Dorothy aus The Wizard of Oz, eine Kassette mit acht Songs von Todd Rundgren, ein Neues Testament (er hatte darin «Holden Caulfield» als Eigentümer vermerkt und in der Überschrift «Das Evangelium nach Johannes» den Namen durch «Lennon» ergänzt), seinen abgelaufenen Paß, einen Empfehlungsbrief von einem YMCA-Angestellten und Fotos von sich, die aufgenommen worden waren, als er in Fort Chaffee gearbeitet hatte. Ehe er endgültig ging, betrat er das Zimmer noch ein paarmal, um die Wirkung des Arrangements zu prüfen. Nach einigen letzten Verbesserungen ging er hinunter und kaufte den Fänger im Roggen. Auf den Innentitel schrieb er: «Dies ist meine Aussage.» (Er hatte die Absicht, nach dem Mord zu schweigen und das Buch zu seinem Sprecher zu machen.) Er ging mit dem roten Taschentuch und dem Exemplar von Double Fantasy, das er Samstag abend gekauft hatte, zum Dakota und fragte den Portier, ob John Lennon an dem Morgen gesehen worden sei. Dann lud er Jude Stein und eine andere Frau - Fans, die immer an der Einfahrt standen - zum Lunch in den Dakota Coffee Shop ein, wo er bei einem Hamburger und zwei Glas Bier von seinem langen Flug nach Tokio und seiner Reise um die Welt erzählte.

Nach dem Essen nahm er wieder seinen Posten ein und fing ein Gespräch mit Paul Goresh an, einem Amateurfotografen aus New Jersey, der im Lennonkreis als Fat Dave bekannt war. Goresh bemerkte später, Chapman sei kein waschechter Beatlesfan gewesen, denn als Allen Klein, sein Gesicht hinter einer Hand versteckend, das Dakota betreten habe, habe dieser den berühmten Manager nicht erkannt.(1) Goresh demonstrierte seine Vertrautheit mit den Lennons, indem er Helen Seaman und Scan begrüßte, als sie aus einem blauen Chevrolet-Kombi stiegen. Er stellte ihnen Chapman vor und sagte, er sei ein Fan, der «extra den weiten Weg von Hawaii» gekommen sei. Chapman freute sich wie ein Schneekönig und bezeichnete Scan als den «niedlichsten kleinen Jungen, den ich je gesehen habe».

John Lennon hatte im Dakota einen wichtigen Tag. In Erwartung der großen Rockfotografin Annie Leibovitz, die ein Titelfoto für die Zeitschrift Rolling Stone machen wollte, war er am Morgen zu Veez a Veez in der West 72nd Street hinübergegangen, um seine Haare schneiden zu lassen: vorne kurz, fast ein Pony, und hinten lang. Annie Leibovitz, die ihre Stars gern entblößt, hatte gehört, daß John und Yoko bei einem simulierten Koitus gefilmt worden waren. Sie hatte eine Zeichnung mitgebracht, die sie nackt und eng umschlungen zeigte. Als John sah, was gewünscht wurde, erklärte er: «Sehr schön, kein Problem», und zog sich sofort aus. Yoko weigerte sich, mehr als ihr schwarzes Oberteil abzulegen. Leibovitz sagte ihr, sie könnte ihr Hemd anbehalten, weil sie den Kontrast einer bekleideten und einer splitternackten Gestalt sehr reizvoll finde. Dann legte John sich auf Yoko, die mit den Händen hinter dem Kopf dalag und ins Leere starrte, als bemerke sie den verrückt wirkenden nackten Mann nicht einmal, der sich in einer fötalen Stellung auf ihr zusammengerollt hatte und sie mit geschlossenen Augen leidenschaftlich auf die teilnahmslose Wange küßte. Als die Fotografin ihm die Polaroidaufnahme zeigte, war er begeistert: «Fabelhaft! Das ist wirklich unsere Beziehung. Versprechen Sie, daß es das Titelfoto wird.» Als das Bild in der nächsten Woche auf dem Umschlag von Rolling Stone erschien, löste es eine Sensation aus, weil es die Ehe des berühmtesten Paares der Rockwelt auf das Verhältnis einer gleichgültigen Hündin und ihres blind saugenden Welpen reduzierte.

Mittags um eins gab John sein letztes Interview. Er hatte ein rotes T-Shirt, einen blauen Pullover und seine «Schlägerjacke» aus schwarzem Leder an und sprach in Studio One mit Dave Sholin, einem Discjockey aus San Francisco. Er klang wie auf einem Kokaintrip, als er zum letztenmal die altbekannte Nummer abzog, und seine Begeisterung war gelegentlich so gezwungen, daß er schrill wurde. Er war immer noch voll auf Touren, als ihm um fünf Uhr klar wurde, daß es Zeit war, zur Record Plant zu fahren. Da die Limousine der Lennons nicht verfügbar war, bot Sholin ihnen an, sie in seinem Wagen mitzunehmen. Als sie vor dem Dakota auf den Bürgersteig traten, kam Paul Goresh mit Mark Chapman im Schlepptau herbeigeeilt.

Der dicke Fan mit der Hornbrille hielt dem großen Star wortlos seine LP für ein Autogramm hin. John beugte sich ernst darüber und schrieb «John Lennon 1980». Während er schrieb, fotografierte Goresh das berühmte Profil und hielt im Hintergrund das dümmlich lächelnde Mondgesicht von Chapman fest.

«Hier, ist es so richtig?» sagte John und gab das Album zurück.

Chapman, den Lennons Anwesenheit zunächst sprachlos machte, wandte sich einen Augenblick später an den Toningenieur und fragte: «Habt ihr Jungs ein Interview mit Lennon gemacht?»

Als der Wagen anfuhr, fragte er Goresh: «Hatte ich meine Mütze auf dem Bild auf oder nicht? Ich wollte sie nicht auf haben.» Dann überlegte er kurz und rief aus: «Das werden sie mir in Hawaii nicht glauben!»

Es wurde dunkel, und die Fans gingen. Doch Chapman und Goresh blieben vor dem Dakota und unterhielten sich. Als Fred Sea-man mit einer Schachtel mit herausgeschnittenen Sequenzen von den Sitzungen, die Yoko 1974 mit Spinozza gemacht hatte, aus dem Haus kam, hielt Goresh ihn auf und sagte: «Das ist Dave Chapman. Er hat gerade einen Treffer gelandet!» Chapman hielt grinsend seine LP hoch.

«Gratuliere», sagte Fred und eilte weiter zur Garage unter dem Gebäude nebenan, dem Mayfair.

Als Fred das Haus betrat, in dem die Record Plant war, traf er David Geffen, der unten auf den Fahrstuhl wartete. Er sagte, Yoko habe ihn kommen lassen. Während sie zum neunten Stock fuhren, bemerkte er, als dächte er laut: «Sie ist ein harter Knochen. Man weiß nie, was sie wirklich vorhat.» Was sie an jenem Abend vorhatte, wurde klar, als Geffen im Studio war. Lennon gab dem im Aufnahmeraum sitzenden Jack Douglas ein Los-geht's-Zeichen, und aus den Lautsprechern dröhnte «Walking on Thin Ice». Während der ganze Raum von dem Discobeat, Johns seufzender Gitarre und Yokos fledermaushaften Quiektönen vibrierte, wandte sich Lennon, der Verkäufer, an Geffen, den Kunden. «Es ist phantastisch! Super!» sagte er begeistert. «Es ist besser als alles, was wir auf Double Fantasy gemacht haben», fügte er aufrichtig hinzu. Dann kam er zum springenden Punkt: «Bringen wir es vor Weihnachten raus!»

Geffen lächelte und erwiderte: «Bringen wir es nach Weihnachten raus, damit nichts schiefgehen kann. Geben wir eine Anzeige auf.»

«Eine Anzeiget wiederholte Lennon mit gespieltem Staunen. «Hör dir das an, Mutter, du sollst eine Anzeige kriegen!»

Geffen wechselte geschickt das Thema, indem er berichtete, daß das Album Double Fantasy in Großbritannien gerade in Gold verwandelt worden war. Dabei warf Yoko ihm einen Blick zu, der seiner Meinung nach bedeutete: «Hoffen wir, daß es in England erfolgreich ist, denn John wünscht es sich so sehr.» (Yoko hatte vor, Sam Havadtoy nach London zu schicken und für 100000 Dollar Exemplare der LP kaufen zu lassen, um sie auf den ersten Platz zu hieven. Ironischerweise hatte Brian Epstein bei «Love Me Do» das gleiche gemacht. John Lennon fing buchstäblich wieder von vorn an.)

Als Yoko das Studio vor dem Ende der Sitzung für einige Minuten verlassen hatte, lehnte John sich an die Aufnahmemaschine, wo er in den letzten vier Monaten so viele Monologe gehalten hatte, und sagte zu Jack: «Sag Yoko auf keinen Fall, was ich dir jetzt erzählen werde.» Dann eröffnete er ihm sinngemäß das gleiche wie Fred in jener Nacht auf den Bermudas, als er die LP konzipierte. Er erklärte, seine Tage seien gezählt, und er lebe von geborgter Zeit. Er sprach nicht von Mord, aber er schien sich total mit seinem Tod abgefunden zu haben. Er redete sogar darüber, was danach mit seiner Legende geschehen würde, und prahlte, er werde viel berühmter werden als Elvis. Jack hatte ihn vorher schon vom Sterben reden hören — aber noch nie mit dieser Gewißheit, daß das Ende unmittelbar bevorstehe.

Als Yoko zurückgekommen war und die Lennons anfingen, über ihre Dinnerpläne zu diskutieren, wirkte John wieder ganz normal. Sie erklärten, sie würden zum Imbiß an der Ecke gehen und dort eine Kleinigkeit essen, und John versicherte Jack, daß er am nächsten Morgen um neun wieder im Studio sein würde, um die neue Single fertigzustellen. Normalerweise wäre Jack mit den Lennons nach Hause gefahren, aber heute abend blieb er im Studio, da er noch an einer anderen Schallplatte arbeiten mußte. Er brachte John zum Fahrstuhl, wo sie sich voneinander verabschiedeten. Seine letzten Erinnerungen an Lennon sind ein Lächeln, ein Winken und ein aufgekratztes: «Bis morgen früh, in alter Frische!»

Die Limousine brachte die Lennons auf dem kürzesten Weg nach Hause. Sie fuhr die Eighth Avenue bis zum Columbus Circle hoch und rollte dann den Central Park West hinauf bis zur yznd Street, wo sie scharf nach links abbog und am Dakota hielt.

Mark David Chapman war immer noch vor dem Gebäude. Er stand vor dem Wachhäuschen. Paul Goresh hatte ihm bis halb neun Gesellschaft geleistet und dann gesagt, er werde heimfahren. Chapman drängte ihn zu bleiben. «Man kann nie wissen», warnte er. «Es könnte ja was passieren. Vielleicht fährt er heute abend nach Spanien oder so - und du würdest ihn unter Umständen nie wiedersehen!»

Nachdem Goresh gegangen war, hatte Chapman ein Gespräch mit dem Portier, Jose Perdomo, angeknüpft, einem leutseligen, rotgesich-tigen und weißhaarigen Kubaner. Sie hatten über Kuba, die Schweinebucht und die Ermordung Kennedys geredet. Während des Gesprächs kam ein Penner vorbei und bettelte sie an. Chapman gab ihm zehn Dollar. Später drängte er dem Portier fünfzig Dollar auf. Perdomo fand ihn ruhig und vernünftig. Nach dem Mord sagte er zu Fred Seaman: «Chapman war nicht verrückt.»

Als die Limousine neben dem Gebäude hielt, war es zehn vor elf. Yoko sprang zuerst hinaus, dann John, der ein Tonbandgerät und einige Kassetten trug. Als Yoko an Chapman vorbeiging, sagte dieser: «Hallo.» John sah ihn im Vorbeigehen durchdringend an. Wie Chapman später bemerkte: «Er prägte sich mein Bild ein.»

Chapman hatte den ganzen Tag abwechselnd zu Gott und zu Satan gebetet - zu ersterem, er möge ihn aus der Versuchung führen, und zu letzterem, er möge ihm die Kraft geben, seine Mission zu erfüllen. Jetzt, im entscheidenden Augenblick, hörte er eine innere Stimme, die sagte: «Tu es... tu es... tu es!»

Er trat zwei Schritte in die Einfahrt, zog den kurzläufigen Revolver aus der Tasche und ging in Schußposition, gebeugte Knie, den Arm mit der Waffe ausgestreckt und mit der anderen Hand am Gelenk abstützend. Er sprach kein Wort. Sein Revolver sprach.

Die ersten beiden Schüsse trafen Lennon in den Rücken und rissen ihn herum. Zwei der nächsten drei Geschosse trafen ihn in die Schulter. Eine Kugel ging daneben. Das Knallen der Schüsse wurde vom Geräusch zersplitternden Glases begleitet, denn die Geschosse durchschlugen Lennons Körper und zerschmetterten die Scheiben des Windfangs. Als Chapman das Magazin geleert hatte, starrte er die Einfahrt hinunter und erwartete, John Lennons Leichnam dort liegen zu sehen. Er sah nichts.

Chapman war beim Schießen so entrückt gewesen, daß er nicht gemerkt hatte, wie sein Opfer die Windfangtür öffnete und die fünf Stufen zur Pförtnerloge hinaufwankte, um dort zusammenzubrechen und mit dem Gesicht nach unten hinzufallen. Jay Hastings, der langhaarige junge Nachtportier, las gerade eine Illustrierte, als er das Splittern von Glas und dann die Schritte hörte. «John Lennon taumelte herein, mit einem schrecklichen verwirrten Ausdruck im Gesicht», berichtete er später. Yoko folgte und schrie gellend: «John ist angeschossen!» Einen irren Moment lang glaubte Hastings, es sei ein schlechter Scherz, aber dann sah er, wie Lennon zusammenbrach und wie das Tonbandgerät und die Kassetten den Boden entlang rutschten.

Hastings drückte einen Alarmknopf unter der Schreibtischplatte, der die Beamten des nahegelegenen 2.0. Reviers alarmierte. Dann eilte er an Johns Seite, um ihm die zersplitterte Brille, deren Scherben in seine Nasenflügel drangen, abzunehmen und ihn mit seiner Uniformjacke zuzudecken. Als er seine Krawatte abband, um sie als Aderpresse zu benutzen, wurde ihm klar, wie ernst Johns Verletzungen waren. Aus seinem Mund und seiner Brust strömte Blut. «Seine Augen waren offen, fixierten aber nichts», berichtete er. «Er gurgelte einmal und erbrach Blut und fleischige Substanz.» Yoko schrie nach einem Arzt. Hastings sprang auf und hämmerte 911 in die Wahltasten des Telefons. Dann kehrte er an Lennons Seite zurück und sagte: «Alles okay, John, Sie kommen wieder in Ordnung!»

Jose Perdomo war wie betäubt von dem, was er mit angesehen hatte. Während ihm Tränen die Wangen hinunterliefen, schrie er Chapman an: «Einen solchen Mann haben Sie erschossen!»

Mark nahm instinktiv die Haltung eines in die Enge getriebenen Jugendlichen an und antwortete: «Keine Sorge, Jose.»

Dem Portier kam plötzlich der Gedanke, daß Chapman verrückt sein könnte. «Wissen Sie eigentlich, was Sie tun?» fragte er.

«Keine Sorge!» wiederholte Chapman. Dann ließ er die leergeschossene Waffe fallen - wie Holden Caulfield.

Jose trat die Pistole sofort ein Stück fort und flehte Chapman an: «Bitte! Gehen Sie!»

Mark sah den Portier verzagt an. «Jose, es tut mir leid!» sagte er leise. «Wohin soll ich denn gehen?»

In diesem Augenblick drehte er sich um und sah ein Mädchen in der Einfahrt stehen. Nina Rosen war an John und Yoko vorbeigekommen, als sie aus ihrer Limousine stiegen; dann hatte sie Schüsse gehört und war umgekehrt, um festzustellen, was geschehen war. Als sie Chapman fragte, was los sei, antwortete er: «Ich an Ihrer Stelle würde machen, daß ich hier wegkomme!» Nachdem er die Warnung einigemal wiederholt hatte, ging Nina. Die einzigen anderen Zeugen des Geschehens, zwei Männer in einem Taxi, das vorgefahren war, als die Lennons aus der Limousine stiegen, waren bei den Schüssen wieder ins Taxi gesprungen, das dann mit kreischenden Reifen in der yxnd Street gewendet hatte und Richtung Central Park West verschwunden war. Inzwischen war Jose Perdomo gebückt ins Büro geeilt, um zu berichten, daß der Killer seine Waffe weggeworfen hatte. Jay Hastings ging sofort hinaus, um Chapman im Auge zu behalten. Er erblickte einen dicken jungen Mann ohne Kopfbedeckung und Mantel, der im grellen Licht der Einfahrtlampe stand und ein Taschenbuch las.

Nun ertönten überall in der yznd Street Sirenen. Zwei blauweiße Streifenwagen rasten mit rotweiß blitzenden Einsatzlichtern zum Dakota. Chapman hatte seinen Mantel ausgezogen und seine Mütze abgenommen, um zu zeigen, daß er keine versteckte Waffe trug. Jetzt hob er die Hände so, daß die Ellbogen sein Gesicht schützten. Von der knappen Nachricht «Schüsse West yznd Street Nummer eins» alarmiert, trafen Officer Tony Palma und sein Partner Herb Frauenberger im selben Augenblick am Dakota ein wie Officer Steve Spiro mit seinem Kollegen Pete Cullen. Die Streifenpolizisten sprangen aus den Wangen, und der Portier rief ihnen zu: «Das ist der Mann, der geschossen hat.» Er zeigte dabei auf Chapman, der neben dem Tor im Halbdunkel stand.

Spiro zog seinen Revolver und rief: «Nicht bewegen! Hände an die Wand!» Er wiederholte den Befehl, bis er den neunzig Kilo schweren Chapman mit dem linken Arm packen und herumdrehen konnte, um ihn für den Fall, daß irgendwo in der Nähe ein zweiter Schütze lauerte, als Schild zu benutzen.

Sobald Chapman gefaßt worden war, fing er an zu wimmern: «Tun Sie mir bitte nichts! Bitte!» Spiro blickte sich zum Eingang des Gebäudes um und sah drei Einschußlöcher in den Glasscheiben des Windfangs. In diesem Moment rief der Portier, daß Chapman allein sei. Spiro drückte ihn wieder an die Mauer der Einfahrt. Der Mörder fing an zu jammern und schluchzte: «Ich habe es allein gemacht! Tun Sie mir bitte nichts!»

Jay Hastings steckte den Kopf aus dem Windfang, und Tony Palma rief: «Ist da drin jemand angeschossen?» Sofort danach lief er, gefolgt von Frauenberger, die Stufen hoch. Er sah einen Mann mit dem Gesicht nach unten am Boden liegen und eine orientalisch aussehende Frau, die weinend neben ihm stand. Palma, der keine Ahnung von der Identität des Opfers hatte, drehte den Mann um und sah, daß er schwer verwundet war. «Alles, was ich sah, war Blut», erinnerte er sich später. Er blickte zu seinem Partner hoch und sagte: «Nimm seine Beine, damit wir ihn hier rausbringen können!» Sie nahmen Lennon sofort auf ihre Schultern und brachten ihn aus dem Büro.

Jay Hastings begleitete sie und versuchte zu helfen. Er erinnerte sich später, daß er hören konnte, wie Johns Knochen knackten. Während die Polizeibeamten Lennon auf den Rücksitz eines dritten Streifenwagens bugsierten, der eben vorgefahren war, bemerkte Hastings, daß der Angeschossene vollkommen schlaff war, mit unnatürlich baumelnden Gliedmaßen.

Palma sagte zu Officer James Moran, dem Beifahrer des dritten Wagens: «Bringt ihn sofort zum Krankenhaus!»

Während das Fahrzeug sich in Bewegung setzte, drehte Moran sich um und schrie Lennon an: «Können Sie mir sagen, wer Sie sind?» John konnte nicht sprechen. «Er stöhnte und nickte, als ob er <Ja> sagen wollte.» Moran stellte die Sirene an, während der Fahrer, Officer William Gamble, bei Rot in die Columbus Avenue einbog und dann quer durch Manhattan und die Ninth Avenue hinunter zur 5§th Street raste, wo er die Einfahrt zur Notaufnahme vom Roosevelt Hospital hineinfuhr. Tony Palma hatte inzwischen per Funk das Krankenhaus alarmiert.

Steve Spiro hatte den mit Handschellen gefesselten Mark Chap-man derweil auf den Rücksitz seines Wagens geschoben. Als er sich ans Steuer gesetzt hatte, verlor er die Beherrschung und schrie ihn an: «Ist Ihnen eigentlich klar, was Sie getan haben? Ja?»

Chapman antwortete ernst: «Hören Sie, es tut mir leid. Ich habe nicht gewußt, daß er ein Freund von Ihnen war.»

Spiro brüllte: «Du tickst ja nicht richtig!» Er änderte seine Meinung, als er Chapman zum zo. Revier gebracht hatte. Ihn beeindruckte vor allem der geschäftsmäßige Ton, den Mark anschlug, als er mit Gloria in Honolulu telefonierte. Was Chapman betrifft, klingt das (von der Polizei mitgeschnittene) Gespräch ganz wie der Anruf eines x-beliebigen Ehemanns, der sich nach einem unangenehmen Erlebnis mit seiner Frau in Verbindung setzt, um sie vor den Folgen zu schützen, während er die Gefahr, in der er selbst geschwebt hat oder schwebt, als belanglos hinstellt.

mark: Hi

gloria: Hi, Mark. Ich liebe dich.

mark:: Ich weiß. Ich liebe dich auch. Ist die Polizei da gewesen?

gloria: : Nein, als erstes kam ein Reporter.

mark: O nein! Bist du zu Hause?

gloria:  Ja, deine Ma und dein Pa sind auch da.

mark: Okay. Hm, ich möchte mit niemand anderem reden.

gloria:  Ich weiß.

mark: Aber ich möchte nicht, daß du weinst. Ich möchte, daß du mir gut zuhörst.

Nachdem er ihr eine Weile mit seiner typischen Sturheit eingebleut hatte, wie wichtig es sei, die Polizei zu holen, um sich vor der Presse schützen zu lassen, geriet er plötzlich aus dem Konzept, da die schüchterne Gloria ihn unterbrach und fragte: «Ist dir eigentlich klar, was du wirklich getan hast?» Er entgegnete ohne Zögern: «Oh, ich muß jetzt gehen.»

Als Lennon in die Notaufnahme gebracht wurde, hatte er praktisch keinen Puls mehr. Die beiden Kugeln, die ihn in den Rücken getroffen hatten, hatten die Lunge durchschlagen und waren aus der Brust ausgetreten. (Eine von ihnen wurde später in seiner schwarzen Lederjacke gefunden.) Eine dritte Kugel hatte sein linkes Schulterblatt zerschmettert. Eine vierte hatte dieselbe Schulter getroffen, war aber vom Knochen in die Brust gelenkt worden und hatte dort die Hauptschlagader durchtrennt und die Luftröhre aufgerissen.

Ein Team von sieben Medizinern mühte sich, Lennon mit allen verfügbaren Geräten und Methoden zu retten. «Es war nicht möglich, ihn durch irgendein Mittel wiederzubeleben», erinnerte sich Dr. Stephen Lynn, der Leiter der Notstation des Krankenhauses. «Er hatte drei Löcher in der Brust, zwei im Rücken und zwei in der linken Schulter. Er hatte drei Liter Blut aus seinen Schußwunden verloren, also rund achtzig Prozent seines gesamten Bluts.»

Die offizielle Todesursache lautete Schock durch großen Blutverlust. Inoffiziell erklärten einige Ärzte des Teams, die Chancen wären vielleicht besser gewesen, wenn man Lennon nicht angerührt und einen Krankenwagen geholt hätte, dessen Besatzung sofort Wiederbelebungsversuche hätte durchführen können. Sie drückten auch Staunen über Lennons katastrophalen körperlichen Zustand aus.

Yoko war von Tony Palma zum Krankenhaus gefahren worden. Der Beamte erfuhr erst jetzt, daß der Schwerverletzte, den er gefunden hatte, kein anderer als John Lennon war. Er berichtete später, er habe Yoko in ein kleines Zimmer geführt, wo sie telefonieren konnte. Sie rief David Geffen an, der kurz danach eintraf. Als er sie sah, nahm er sie hoch wie ein kleines Kind.

«Jemand hat auf John geschossen!» stammelte sie. «Kannst du es fassen? Jemand hat auf ihn geschossen!»

In diesem Moment betrat Dr. Lynn den Raum.

Yoko fragte: «Wo ist mein Mann? Ich möchte bei ihm sein. Er will bestimmt, daß ich bei ihm bin. Wo ist er?»

Lynn wappnete sich und teilte mit: «Wir haben leider eine sehr schlechte Nachricht. Trotz umfassender Bemühungen ist Ihr Mann gestorben. Er hat nicht leiden müssen.»

Yoko erwiderte: «Wollen Sie sagen, er schläft?»

Palma und Frauenberger brachten Yoko zurück zum Dakota und hielten unterwegs am Hotel Pierre, wo Geffen wohnte. Als sie beim Dakota waren, stahlen sie sich durch den Hintereingang ins Gebäude. Sobald Yoko in der Wohnung war, griff sie zum Hörer und fing an zu telefonieren. Später behauptete sie, sie hätte die drei Menschen angerufen, «von denen John gewollt hätte, daß sie es erführen: Julian, Tante Mimi und Paul McCartney». Es gibt keinen Beweis, daß einer von ihnen einen solchen Anruf bekam.

Fußnote 1)
Allen Klein war gegen Kaution freigelassen worden und wartete auf das Ergebnis seiner Berufung gegen ein Urteil, demzufolge er einen Teil seiner Einkünfte des Jahres 1970 nicht ordnungsgemäß versteuert hätte. Er war am 9. August 1979 zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt worden, und der Richter hatte die Strafe unter der Bedingung zur Bewährung ausgesetzt, daß er zwei Monate im Gefängnis oder in einer therapeutischen Einrichtung verbrachte. Die Anklage gegen ihn war ein Nebenprodukt der Ermittlungen gegen Pete Bennett, den berühmtesten Promoter der Schallplattenbranche. Bennett hatte die Aufgabe gehabt, die neuen Platten von Apple unter die ersten Zehn zu bringen, indem er den wichtigsten Großhändlern und Vertriebsunternehmen je 5000 nicht gekennzeichnete Exemplare von jeder neuen Capitol-Single zum Selbstkostenpreis von 2.3 Cents lieferte. Es war eine billige Methode, die Verkaufszahlen zu steigern, aber sie wurde zum Delikt, wenn die Weiterverkäufer das Geld, das sie mit den Platten verdient hatten, dem Finanzamt nicht als Einkommen meldeten. Als Kleins Berufung nicht stattgegeben wurde, saß er 1981 zwei Monate in einem Gefängnis in Manhattan.

Editorische Anmerkungen

Der Text wurde dem Biografie von Albert Goldman, John Lennon, Ein Leben, Reinbek 1989, S 895-922 entnommen.

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