Offener Brief der Berliner Lautigruppe

Berliner Lautigruppe, 12.11.05
12/05

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Sprich lauter...

Die Lauti-Gruppe [1] diskutiert. Und das schon seit längerem. Die Diskussion begann mit der großen Palästina-Solidemo in Berlin im April 2002. Einige aus der Lauti-Gruppe wollten die Demo fahren, andere auf keinen Fall. Die Positionen dazu waren zahlreich, sie sind nachzulesen in unserem Papier von damals. Letzten Endes fuhren wir die Demo nicht; einige haben im Anschluss die Gruppe verlassen.

Auf die Mütze

Beginn der jüngsten Debatte war eine Antifa-Demo in Hamburg am 30. Januar 2004. Hier bekamen nicht etwa die Nazis ordentlich eins auf die Mütze, sondern die Antifas verdroschen sich gegenseitig. Der Grund: die einen wollten mit den Fahnen der USA, Großbritanniens und Israels auf der Demo mitlaufen und ignorierten damit die schon im Vorfeld der Demo deutlich vermittelte Absprache innerhalb des Demobündnisses, keine Nationalfahnen zu tragen. Die anderen DemoteilnehmerInnen hielten sich an diese Absprache, meinten aber vereinzelt auf das Zeigen der israelischen Fahne mit "Intifada bis zum Sieg!"-Rufen antworten zu müssen. Wer dann zuerst zugehauen hat, ließ sich nicht endgültig klären. Die von der antideutschen Gruppe AANO aus Berlin geforderte juristische Aufarbeitung der Vorfälle unterblieb glücklicherweise.

Wir haben ähnliche und andere Vorfälle, die mit dem Zeigen der Fahnen der USA, Großbritanniens, Frankreichs, der Sowjetunion und Israels im Zusammenhang standen, häufig erlebt. Immer wieder kam es zu Schubsereien oder handgreiflichen Auseinandersetzungen auf Demonstrationen, die von uns gefahren wurden, weil Gruppen aus dem antideutschen Spektrum im Vorfeld getroffene Absprachen ignorierten oder versuchten, Demonstrationen kurzerhand im eigenen Sinne zu vereinnahmen. Von der "Gegenseite" wurde wiederholt zugelassen, dass die Bullen in diesen Konfliktsituationen eingriffen.
Aber nicht nur mit aggressiven, staatstragenden und/oder mackermäßigen Verhaltensweisen innerhalb der (radikalen) Linken haben wir ein Problem. Ein Teil der Lauti-Gruppe ist es leid, bestimmten Gruppen aus dem antideutschen Spektrum [2] den Lauti zur Verfügung zu stellen. Im Folgenden wollen wir versuchen, die Diskussion darüber für Euch sichtbar und nachvollziehbar zu machen.

Warum es in diesem Text in erster Linie um die Auseinandersetzung mit ePePadaS (siehe Fußnote) und nicht etwa Pro-Palästina-Gruppen geht, erklärt sich dadurch dass wir häufig von Antifa-Gruppen aus dem antideutschen Spektrum angefragt werden. Sicher, politischer Unsinn wird auch auf anderen Demonstrationen verzapft, die wir fahren: Sexismus und Homophobie, Rassismus und Antisemitismus werden immer wieder zelebriert. Auch hier ist unsere Schmerzgrenze deutlich in Sichtweite!

Fahnen im Wind

Es gibt linke Gruppen, die halten das Tragen von Fahnen der USA, Großbritanniens, Frankreichs, der Sowjetunion für einen emanzipativen Akt. Der überwiegende Teil der Lauti-Gruppe sieht in diesen Nationalfahnen Symbole der Herrschaft und staatlicher Macht.[3] Darüber hinaus stehen sie für eine lange Geschichte kolonialer Unterdrückung, Ausbeutung, imperialistischer Kriege und staatlich legitimierter Gewalt gegen oppositionelle und revolutionäre Bewegungen überall auf der Welt.

Auch der israelische Staat, dessen Fahne auf Demonstrationen deutscher Linker seit Jahren zu sehen ist, hat seine eigene Geschichte von Unterdrückung, rassistischer Ausgrenzung, militärischer Vertreibung, des staatlichen Mordes und der Folter. Dass er, als Konsequenz aus der Shoa gegründet, Juden und Jüdinnen aus aller Welt relativen Schutz vor antisemitischer Verfolgung gewährt, unterscheidet diesen Staat von anderen und verbietet die politische Forderung nach seiner Abschaffung, zumindest solange es Antisemitismus gibt. In diesem Zusammenhang vermittelt sich uns auch das Tragen der israelischen Fahne auf linken Demonstrationen.

Wir begrüßen jede Politik, die sich dem Versuch entgegenstellt, alle während des 2. Weltkriegs getöteten Deutschen mit den Opfern der Shoa, den Kriegsopfern der Alliierten und der vom nationalsozialistischen Deutschland überfallenen Länder gleichzusetzen. Es ist notwendiger denn je, die Erinnerung an jene wach zu halten, die den Kampf gegen die nationalsozialistische Diktatur aufnahmen. Eine radikale, herrschaftskritische Linke muss dafür aber einen besseren Ausdruck finden, als mit den Fahnen der Anti-Hitler-Koalition herumzuwedeln und stumpf geschichtslos darauf zu beharren, sie herausgelöst aus jedem anderen Kontext als antifaschistisches Symbol benutzen zu können.

Wir wissen nicht, welcher Kampf mit der Fahnenschwenkerei gewonnen werden soll. Stattdessen schließen wir uns der Frage der Berliner Gruppe autopool an, die in einem Diskussionspapier zum 8. Mai 2005 schrieb: "Was um alles in der Welt reitet neuerdings einige AntifaschistInnen, ausgerechnet die alliierten Militärapparate hochzujubeln? Gab es in einigen Partisanenverbänden, in der Resistance, bei Sabotageaktionen und in Gestalt von Deserteuren und "Wehrkraftzersetzern" sogar innerhalb der Wehrmacht nicht Menschen und Gruppen, die den NS militant oder militärisch bekämpft haben und gleichzeitig mit der Befreiung vom NS auch eine befreite Gesellschaft im Sinn hatten? Militanter Antifaschismus braucht eine differenzierte Gesellschaftsanalyse und manchmal Waffen, aber er braucht keine Nationalfahnen! Fahnenflucht statt Fahnenhype!"

Die politischen Grenzen der Lauti-Gruppe waren bisher weit gesteckt. Eine Aktion wurde unterstützt, wenn zwei von uns sich Zeit nahmen und ins Cockpit stiegen. Nur wenige Gruppen gibt es, die wir ganz sicher nicht fahren bzw. deren RednerInnen wir sofort das Mikro abdrehen. Zu ihnen gehören die "Bahamas" oder die RIM/ RK.
Innerhalb der Lauti-Gruppe gibt es immer wieder Zweifel an dieser Praxis: Hintergrund der Debatte ist, dass es dem emanzipatorischen Anspruch der Lauti-Gruppe widerspricht, Gruppen laut zu machen, die anti-emanzipatorische Inhalte vertreten.

Ostdeutsche Kühe & Schweine

In der Tat: vielen von uns stehen die Haare zu Berge, wenn sie sich an der Infrastruktur einer Demo beteiligen, die geschlossen hinter Stars&Stripes- sowie Union-Jack-Bannern herläuft und auf der sie sich vom Gros der TeilnehmerInnen oder gar von den ModeratorInnen im Lauti Parolen wie "Kühe, Schweine - Ostdeutschland!" oder "Bomber Harris - do it again!" um die Ohren hauen lassen müssen.
Beide Slogans schreiben Menschen unveränderliche und stereotype Identitäten zu, dissen diese Personen aufgrund dieser Zuschreibungen und haben einen unangenehm autoritär-maskulinen Beigeschmack. Trotzdem sind sie Ausdruck des Politikverständnisses ePadaS und besonders auf antifaschistischen Demonstrationen in letzter Zeit schwer in Mode.

Es macht gelegentlich Sinn, politische GegnerInnen aufs Mark zu provozieren und bloßzustellen. Aber Provokation, die ständig nur der Selbstbestätigung dient und auf jeden vermittelnden Ansatz verzichtet, halten wir meist für falsch. Wer ZuschauerInnen und BeobachterInnen von Demonstrationen im Osten der Republik mit dem Ruf "Kühe, Schweine - Ostdeutschland!" begrüßt, will weder etwas vermitteln oder verändern, sondern Verhältnisse festschreiben, die eigentlich für bekämpfenswert gehalten werden.

Mach's noch mal, Harris?

Wir wollen an dieser Stelle nicht darüber spekulieren, wie militärisch notwendig die alliierten Flächenbombardements deutscher Städte während des Zweiten Weltkriegs waren. Die Parole "Bomber Harris - do it again!" halten viele von uns für zynisch und autoritär. Außerdem macht sie identitäre Zuschreibungen zur Grundlage für eine politische Strategie und verzichtet auf jede antimilitaristische Kritik. Dem politischen Gegner die Tötung per Bombardement anzudrohen, ist nicht emanzipativ, sondern bringt lediglich patriarchale Kriegsgelüste zum Ausdruck.

Die Bomber-Parole macht aus allen Deutschen AntisemitInnen, Nazis und RassistInnen. Wir wissen immerhin so viel über die Geschichte dieses Landes, als dass wir widerspruchslos der Ansicht zustimmen könnten, es hätte zwischen 1933-1945 ausschließlich Nazis, AntisemitInnen und Mitläufer in Deutschland gegeben und an diesem Zustand hätte sich seitdem auch nichts geändert (fraglich ist, wie sich ePadaS ihre Existenz erklären...). Was will mensch von einer Bevölkerung, der nur der Tod in Form des Bombardements gewünscht werden kann? Ein Gedanke, der etwas mit Befreiung und Glück, also Emanzipation zu tun hat, ist in dieser Logik nirgends zu finden.

Auf die Bremse treten?

Es gibt für einige von uns Gründe, auch weiterhin diese Demos zu fahren: zum Beispiel thematisieren ePadaS häufig den erstarkenden Antisemitismus und deutschen Nationalchauvinismus. Wieso dann nicht ein paar Fahnen und schlechte Parolen in Kauf nehmen? Und die Fahne Israels auf der Gegendemo gegen den al Quds-Tag (der die Befreiung Israels von den Juden in Erinnerung rufen soll) zu zeigen, ist politisch richtig.
Zudem ist es problematisch, die Spaltung innerhalb der Linksradikalen noch weiter voranzutreiben und mehr Gruppen in eine "Lauti-Blacklist" aufzunehmen. Schließlich verstehen wir uns als eine Infrastruktur der gesamten linksradikalen Szene. Steht es uns zu, darüber zu verfügen, wer dazu gehört und den Lauti bekommt?

Nun ließe sich mit der gewohnt pragmatischen Herangehensweise, der die Lauti-Gruppe ihre langjährige Existenz verdankt, begegnen: die fraglichen Demos werden nur von denen gefahren, die ein starkes Nervenkostüm, viel Spaß an politischem Cabaret oder eine gewisse Sympathie für einzelne Versatzstücke antideutscher Ideologie aufbringen. Allein: unsere Kapazitäten sind ebenso begrenzt wie der Wille, jeden politischen Blödsinn unterstützen zu müssen.

Mit diesem Text wollen wir unser Problem transparent machen. Wir verzichten darauf, bestimmten Gruppen den Lauti zu entziehen. Aber wir wollen eine Auseinandersetzung, denn mit der Debatte sind wir nicht am Ende. Bei einigen von uns liegen die Nerven blank und es ist damit zu rechnen, dass öfter mal EinEr auf die Bremse tritt...

Eure Lautis


1 Wir sind Teil der autonomen, widerständigen Infrastruktur Berlins (wie z.B auch der Ermittlungsausschuß). Seit mehr als 15 Jahren stellen wir linken Gruppen einen Lautsprecherwagen nebst Soundsystem und eine kleine Lautsprecheranlage auf einem Handwagen für Aktionen zur Verfügung.

2 Wir sprechen bewusst nicht von den Antideutschen. Dies ist ein Text einzelner Personen aus der Lauti-Gruppe, die mit einigen Positionen einzelner Personen aus dem antideutschen Spektrum (ePePadaS) Probleme haben. Wir wissen, dass unter dem Label "antideutsch" verschiedenste und auch gegensätzliche Positionen vertreten werden, von denen einzelne Personen aus der Lautigruppe einige teilen. ;o)

3 Nationalfahnen können allerdings für eine linke Bewegung auch starker, emanzipativer Bezugspunkt sein. In Chile und anderen Ländern war das der Fall.


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Der Lauti – alles ganz einfach

Der Lautsprecherwagen und die dazugehörigen Anlagen sind eine Institution der Berliner linken/linksradikalen Szene.

Die Idee dahinter ist einfach: für politische Aktionen, Demos und Kundgebungen ist fast immer eine kleine Anlage, oder noch besser, ein Lautsprecherwagen mit Anlage nötig. Diese Anforderungen für politische Gruppen bereitstellen zu können, verringert einigen Organisationsaufwand und macht das Leben schöner.

Gedacht und umgesetzt wurde die Idee bereits Anfang der 80er Jahre im Rahmen des damals bestehenden Kneipenkollektivs EX im Mehringhof. Das heißt, der Lauti entstand ungefähr zur gleichen Zeit wie der Ermittlungsausschuss (EA) – wir bereiten die Demos vor und mit, der EA nach.

Das EX-Kollektiv betrieb damals die komplette Organisation und Betreuung des Lautsprecherwagens mitsamt Anlage als Teil ihres politischen Selbstverständnisses. Anfragen liefen dementsprechend über das EX-Plenum, bis sich das EX in seiner ursprünglichen Form Ende Januar 1998 endgültig auflöste. Daraufhin entstand die Lauti-Gruppe in ihrer noch heute bestehenden Form: eine Gruppe von Leuten, die sich um die Pflege, Organisation und Wartung des Lautis, seiner Anlage und der kleinen Demo-Anlage, den „Hund“, kümmern und den Lauti auf Demos und Kundgebungen fahren.

Jeden Freitag von 19 bis 20 Uhr könnt Ihr nun im Café Morgenrot, Kastanienallee 85, Eure Anfragen stellen. Das Prinzip, auf dessen Grundlage wir Demos oder Kundgebungen unterstützen, ist auch wieder einfach, klappt aber: wenn sich eineR findet, die Zeit und Lust zu fahren, und es keine überzeugenden Gegenargumente aus der Gruppe gibt, wird gefahren. Wir wollen keine Bezahlung für unsere ohnehin unbezahlbare Zeit – trotzdem müssen wir leider Steuern, Benzin, notwendige Reparaturen und Neuanschaffungen und ab und an auch ein bullenkonfisziertes Auto bezahlen.

Deswegen sind wir auf Eure Spenden angewiesen.

Viva la revolución!

Die Lauti-Gruppe

 

Editorische Anmerkungen

Der Text ist eine Spiegelung von http://projekte.free.de/schwarze-katze/texte/ad38.html. Er erschien in der INTERIM Nr. 626