"Positive Rolle des Kolonialismus"
Die regierende Rechte in Frankreich befördert sich selbst in die Zwickmühle

von Bernhard Schmid (Paris)

12/05

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Ein erster schwerer Rückschlag für Frankreichs hyperaktiven Innenminister und Präsidentschaftskandidaten Nicolas Sarkozy: Die französischen Antilleninseln Guadeloupe und La Martinique wollten ihn nicht gebührend empfangen. Oder vielmehr, sie wollten genau dies – ihm einen gebührenden Empfang bereiten, aber einen anderen, als der Minister sich dies wohl erwünscht hätte. Vorsichtig geworden, zog der vom Ehrgeiz zerfressene „Staatsmann“ es vor, seinen geplanten dreitägigen Besuch am Donnerstag voriger Woche kurz vor Antritt seiner Reise abzusagen.  

Seit Wochenbeginn hatte sich eine Protestwelle auf den Karibikinseln, die zu den französischen „Übersee-Départements“ zählen, abgezeichnet. Rund 30 politische und gewerkschaftliche Organisationen hatten sich in einem Kollektiv gegen den Sarkozy-Besuch zusammengeschlossen. Ursächlich für ihren Unmut war einerseits das wiederholte Votum des französischen Parlaments (oder jedenfalls seiner konservativen Mehrheit), zugunsten eines Gesetzestexts, welcher den „positiven  Beitrag der französischen Präsenz in Übersee und besonders in Nordafrika“ - also des Kolonialismus - festschreiben will. Dazu sogleich Ausführlicheres.

Hinzu kam, zweitens, das Eintreten des Ministers für den französischen Quatschphilosophen, Verzeihung: „Neuen Philosophen“ Alain Finkielkraut, der im Zusammenhang mit den jüngsten Unruhen in den französischen Banlieues eifrig an „ethnisch-religiösen“ (Originalton) Pseudoerklärungen für die Riots gestrickt hatte. Finkielkraut behauptete etwa in einem mittlerweile viel zitierten Interview mit der israelischen Tageszeitung Haaretz vom 18. November, sämtliche Teilnehmer an den Unruhen seien „Araber oder Schwarze und Muslime“ – was erwiesenermaben nicht den Tatsachen entspricht -, und die Revolten hätten keine sozialen Ursachen. Finkielkraut setzte seinen Senf hinzu: „Was hat Frankreich den Afrikanern getan? Nur Gutes.“ Statt der Verbreitung solcher Sichtweisen erteile man aber heute einen demagogischen Schulunterricht, der „die Kolonisierung und die Sklaverei (...) als rein negative Erscheinungen darstellt. Man sagt nicht, dass das koloniale Projekt erziehen, den Wilden die Zivilisation bringen wollte.“ Besonders die Einwohner der französischen Antilleninseln, von denen viele Nachfahren ehemaliger Sklaven sind, bedanken sich natürlich für solche Sprüche. Minister Sarkozy erklärte aber öffentlich, Finkielkraut sei, so wörtlich, „die Ehre der französischen Intelligenz“. Drittens kommt noch erschwerend hinzu, dass Sarkozy anlässlich der Unruhen erklärt hatte, Schwarze seien bei den Riots „gewalttätiger als die Araber“ gewesen.

Kurze Zeit nach der Annullierung seiner Reise nach La Martinique und Guadeloupe erklärte Sarkozy in der Sonntagszeitung JDD (Journal du dimanche) vom vorigen Wochenende, es gebe in Frankreich „bei manchen Individuen und selbst innerhalb des Staates eine unbezwingbare Tendenz zur systematischen Reue“ und „Selbstverleugnung“. Demnächst, so der Minister, müsse man sich noch „dafür entschuldigen, Franzose zu sein“. Sarkozy beklagte ferner eine „Hexenjagd durch die Linke und radikale Linke“.  

Staatlich vorgeschriebene Geschichtsauslegung

Doch warum geht es bei dem Gesetz, das in vielerlei Hinsicht den Stein des Anstobes darstellte? Am 29. November dieses Jahres debattierte die französische Nationalversammlung über einen Antrag der Sozialdemokraten, der forderte, eine Passage in einem Gesetzestext vom 23. Februar 2005 nachträglich zu entschärfen. Das damals verabschiedete Gesetz hat die Regelung der Interessen von ehemaligen Kolonialfranzosen und Teilnehmern an den Kolonialkriegen, sofern sie im Zuge der Entkolonialisierung geschädigt wurden, zum Gegenstand. Zunächst hatte die Vorlage kein größeres Aufsehen hervorgerufen, da sie eher rein materielle Entschädigungsfragen zu behandeln schien, die kaum zu Polemiken führten. Wie die Öffentlichkeit erst im Nachhinein bemerkte, hatten Teile der regierenden Konservativen – vor allem ihr kolonialnostalgischer Flügel – im Laufe der Parlamentsdebatte weitaus brisantere Bestimmungen im Nachhinein in den Text eingefügt.

Besonders umstritten war und ist der Artikel 4 des Gesetzes, der die Forscher und die Lehrer in ihrem Unterricht dazu verpflichtet, "den positiven Beitrag der französischen Anwesenheit in Übersee, insbesondere in Nordafrika, zu würdigen". Diese "Anwesenheit" in Nordafrika bezeichnet vor allem den französischen Siedlungskolonialismus in Algerien (von 1830 bis 1962), wo in der Schlussphase eine Million Europäer und acht bis neun Millionen Araber und Berber in einem konfessionnel überformten, brutalen Apartheidsystem lebten, unter dem sich die Rechtsstellung der Personen je nach ihrer Religionszugehörigkeit richtete. Dieses konfessionnelle Apartheidsystem räumte den Christen die vollen Staatsbürgerrechte ein, den algerischen Juden ab 1870 annähernd so viele Rechte, aber zwang hingegen den musulmans d'Algérie einen weitgehend rechtlosen Status als „Eingeborene“ (indigènes) auf. Am Ende kamen im Kolonialkrieg von 1954 bis zur Unabhängigkeit des Landes, am 5. Juli 1962 anderthalb Millionen Algerier und – nach offiziellen französischen Zahlen – 30.000 Franzosen, unter ihnen über 27.000 Soldaten, um's Leben. Allein schon dieses Zahlenverhältnis widerspiegelt die extreme Ungleichheit zwischen Kolonisierenden und Unterworfenen.

Knapp eine Million kolonialer Europäer, die so genannten Pieds Noirs („Schwarzfüße“, mutmaßlich so genannt, weil sie „die Füße in Afrika und den Kopf in Europa“ hatten), verließen ab 1962 das nordafrikanische Land. Dort blieben aber zunächst auch rund 200.000 Europäer freiwillig zurück, die keineswegs massakriert wurden, wie die Ausreisenden ihrerseits befürchteten. Ihre Zahl hat sich aber später, unter anderem aufgrund der massiven wirtschaftlichen Probleme des unabhängigen Algerien, nach und nach verringert. Diese Pieds Noirs leben heute vor allem in Südfrankreich, von Perpignan imWesten bis Nizza auf der östlichen Flanke, und bilden dort eine einflussreiche politische Lobby. Ihre Stimmen teilten sich traditionell vorwiegend zwischen der bürgerlichen Rechten und dem rechtsextremen Front National auf. In jüngerer Zeit ist allerdings erstmals eine Entideologisierung dieses Milieus und eine spürbare Entkrampfung im Verhältnis zu Algerien – wohin eine wachsende Zahl ehemaliger Algerienfranzosen seit kurzem reist – zu verzeichnen.

Den Hardlinern innerhalb dieses „Vertriebenenmilieus“, um deren Zustimmung Konservative und Rechtsextreme wetteifern, war zweifellos die Verabschiedung des Gesetzes vom 23. Februar mitsamt seinem Artikel 4 zugedacht. Um ihn gab es auch bereits zwischenstaatliche Spannungen im französisch-algerischen Verhältnis. Algeriens Präsident Abdelaziz Bouteflika kritisierte ihn am 8. Mai dieses Jahres (dem Jahrestag des Zehntausenden Algeriern vom 8. Mai 1945 in Sétif, Kherrata und Guelma) in scharfen Worten, und drohte mit einer Verschiebung der Unterzeichnung des umfassenden Freundschaftsvertrages, der zwischen beiden Ländern geplant ist.

Ende November weigerte sich die UMP-Mehrheit der Abgeordneten in der Nationalversammlung, den umstrittenen Artikel 4 des Gesetzes wieder abzuschaffen – auch wenn die konservativen Parlamentarier zugleich eifrig und entgegen dem Wortlaut versicherten, es könne sicherlich nicht darum gehen, "eine staatlich fixierte Geschichtsschreibung" zu definieren. Dabei fiel auch das Argument, das der konservative Abgeordnete von Nizza – einer Hochburg der Pieds Noirs -, Lionnel Luca, so formulierte: „Dieses Gesetz abzuschaffen, ist unmöglich und undenkbar. Das würde die Glut wieder anheizen.“ Damit meinte er, das Feuer der Unruhen, die er vor allem mit Immigrantenkindern in Zusammenhang bringen mochte, werde wieder entzündet. Verschiedene Abgeordnete der Sozialdemokraten, der KP und der christdemokratischen UDF hatten das Argument allerdings genau umgekehrt benutzt: Ein Eingeständnis, der Kolonialismus habe für die ihm unterworfenen Bevölkerungen auch – und vor allem – negative Aspekte gehabt, setze „ein Zeichen der Beruhigung“.

Am Ende votierten 183 konservative Abgeordnete für Nichtbefassung mit dem sozialdemokratischen Antrag und damit gegen die Abschaffung des Artikels 4, und 94 Parlamentarier unterschiedlicher Couleur stimmten im gegenläufigen Sinne ab. Die linksliberale Tageszeitung Libération titelte am folgenden Tag provozierend: „Die Rechte: Y'a bon colonies“ (ungefähr: „Kolonien viel gut“), unter Anlehnung an eine frühere rassistische Werbung für ein Schokogetränk, in der eine Karikatur eines Afrikaners mit den Worten abgebildet ist Y'a bon, Banania. In einem Leitartikel unter der Überschrift „Dumm und frech“ war zu lesen:  „Die französische Kolonisierung war, genau wie jede andere auch, eine Mischung aus militärischer Aggressivität, brutaler wirtschaftlicher Expansion, religiösem Missionseifer, kriminellem Abenteurertum und dem Bestreben nach juristischer Normalisierung (des Kolonialverhältnisses). Die Herrschaft des Rechts und die Geltung der Menschenrechte schloss die Eingeborenen aus.“

Über das Gesetz vom 23. Februar 2005 dürfte das letzte Wort noch nicht gesprochen sein, da seit dem Frühjahr zahlreiche Lehrer und Wissenschaftler gegen die „staatlichen Vorschriften in Sachen Forschung und Geschichtsschreibung“ Sturm laufen. Aber das Klima scheint derzeit günstig genug für den Hardliner-Flügel der konservativen Rechten, solcherlei Protest von berufener Seite vorläufig zu ignorieren. Freilich regt sich heute in ihren eigenen Reihen Widerspruch. Nicht zuletzt von Präsident Jacques Chirac höchstpersönlich, der die Verabschiedung des Textes selbst als „grobe Dummheit“ bezeichnete. Chiracs Position dürfte vor allem auch dadurch motiviert sein, dass er die in naher Zukunft anstehende Unterzeichnung des französisch-algerischen Staatsvertrages – der eine umfassende Kooperation auf ökonomischer, politischer und auch militärischer ebene regeln soll – nicht gefährdet wissen möchte.

Anfang dieser Woche richtete Präsident Chirac eine neugegründete Kommission ein, die unter der Oberaufsicht von Parlamentspräsident Jean-Louis Debré – eines ehemaligen konservativen Innenministers – darüber beraten soll, welche Rolle das Parlament in Sachen Geschichtsschreibung zu spielen hat. Die Kommission soll „pluralistisch zusammengesetzt“ werden. Dadurch hoffte Chirac, den Streit zu entschärfen. Derzeit hat er allerdings die eigenen konservativen Truppen nicht unter Kontrolle. Seit dem Ende der jüngsten Unruhen, in deren Folgezeit relevante Teile der Gesellschaft nach autoritären und rassistischen „Lösungen“ rufen, befindet sich deren rechter Flügel wie in einem Rauschzustand: Endlich dürfen diese Leute alles auf den Tisch packen, was sie schon seit längerem an Vorhaben in den Schubladen liegen hatten. Ob Kolonialnostaligik, eine drastische Verschärfung der Ausschaffunspolitik oder – demnächst - eine weitere regressive Neugestaltung der Einwanderungsgesetze.

Am Dienstag (13. 12.) kündigte Chirac ferner an, er wolle in Frankreich künftig einen jährlichen Gedenktag für die Sklaverei (die seit einem halben Jahrzehnt in Frankreich als Verbrechen gegen die Menschlichkeit anerkannt worden ist) einrichten. Inzwischen haben auch zwei Minister aus den Reihen der bürgerlich-konservativen Rechten die Abschaffung des umstrittenen Artikels 4 gefordert, der (aus Französisch-Guyana stammende) Tourismusminisyter Léon Bertrand sowie der „Minister für Chancengleichheit“ – und bisherige Pausenclown des Kabinetts -, der Schriftsteller algerischer Herkunft Azouz Begag. Doch der Hardlinerflügel der regierenden Rechten möchte von Kritik an dem Gesetzesartikel bisher nichts wissen. Der stockreaktionäre Abgeordnete eines reichen und rassistischen Wahlkreises in Nizza, Lionnel Luca, kehrte die Kritik der beiden Minister aus den eigenen Reihen seiner Partei um: Dem Kolonialismus hätten sie überhaupt zu verdanken, dass sie heutzutage in Frankreich Minister seien.

Editorische Anmerkungen

Der Autor schickte uns seinen Artikel am
13.12.2005 zur Veröffentlichung.