Ein erster schwerer
Rückschlag für Frankreichs hyperaktiven Innenminister und
Präsidentschaftskandidaten Nicolas Sarkozy: Die französischen
Antilleninseln Guadeloupe und La Martinique wollten ihn nicht
gebührend empfangen. Oder vielmehr, sie wollten genau dies – ihm
einen gebührenden Empfang bereiten, aber einen anderen, als der
Minister sich dies wohl erwünscht hätte. Vorsichtig geworden,
zog der vom Ehrgeiz zerfressene „Staatsmann“ es vor, seinen
geplanten dreitägigen Besuch am Donnerstag voriger Woche kurz
vor Antritt seiner Reise abzusagen.
Seit Wochenbeginn
hatte sich eine Protestwelle auf den Karibikinseln, die zu den
französischen „Übersee-Départements“ zählen, abgezeichnet. Rund
30 politische und gewerkschaftliche Organisationen hatten sich
in einem Kollektiv gegen den Sarkozy-Besuch zusammengeschlossen.
Ursächlich für ihren Unmut war einerseits das wiederholte Votum
des französischen Parlaments (oder jedenfalls seiner
konservativen Mehrheit), zugunsten eines Gesetzestexts, welcher
den „positiven Beitrag der französischen Präsenz in Übersee und
besonders in Nordafrika“ - also des Kolonialismus -
festschreiben will. Dazu sogleich Ausführlicheres.
Hinzu kam, zweitens,
das Eintreten des Ministers für den französischen
Quatschphilosophen, Verzeihung: „Neuen Philosophen“ Alain
Finkielkraut, der im Zusammenhang mit den jüngsten Unruhen in
den französischen Banlieues eifrig an „ethnisch-religiösen“
(Originalton) Pseudoerklärungen für die Riots gestrickt hatte.
Finkielkraut behauptete etwa in einem mittlerweile viel
zitierten Interview mit der israelischen Tageszeitung Haaretz
vom 18. November, sämtliche Teilnehmer an den Unruhen seien
„Araber oder Schwarze und Muslime“ – was erwiesenermaben
nicht den Tatsachen entspricht -, und die Revolten hätten keine
sozialen Ursachen. Finkielkraut setzte seinen Senf hinzu: „Was
hat Frankreich den Afrikanern getan? Nur Gutes.“ Statt der
Verbreitung solcher Sichtweisen erteile man aber heute einen
demagogischen Schulunterricht, der „die Kolonisierung und die
Sklaverei (...) als rein negative Erscheinungen darstellt. Man
sagt nicht, dass das koloniale Projekt erziehen, den Wilden die
Zivilisation bringen wollte.“ Besonders die Einwohner der
französischen Antilleninseln, von denen viele Nachfahren
ehemaliger Sklaven sind, bedanken sich natürlich für solche
Sprüche. Minister Sarkozy erklärte aber öffentlich, Finkielkraut
sei, so wörtlich, „die Ehre der französischen Intelligenz“.
Drittens kommt noch erschwerend hinzu, dass Sarkozy anlässlich
der Unruhen erklärt hatte, Schwarze seien bei den Riots
„gewalttätiger als die Araber“ gewesen.
Kurze Zeit nach der
Annullierung seiner Reise nach La Martinique und Guadeloupe
erklärte Sarkozy in der Sonntagszeitung JDD (Journal
du dimanche) vom vorigen Wochenende, es gebe in Frankreich
„bei manchen Individuen und selbst innerhalb des Staates eine
unbezwingbare Tendenz zur systematischen Reue“ und
„Selbstverleugnung“. Demnächst, so der Minister, müsse man sich
noch „dafür entschuldigen, Franzose zu sein“. Sarkozy beklagte
ferner eine „Hexenjagd durch die Linke und radikale Linke“.
Staatlich
vorgeschriebene Geschichtsauslegung
Doch warum geht es
bei dem Gesetz, das in vielerlei Hinsicht den Stein des Anstobes
darstellte? Am 29. November dieses Jahres debattierte die
französische Nationalversammlung über einen Antrag der
Sozialdemokraten, der forderte, eine Passage in einem
Gesetzestext vom 23. Februar 2005 nachträglich zu entschärfen.
Das damals verabschiedete Gesetz hat die Regelung der Interessen
von ehemaligen Kolonialfranzosen und Teilnehmern an den
Kolonialkriegen, sofern sie im Zuge der Entkolonialisierung
geschädigt wurden, zum Gegenstand. Zunächst hatte die Vorlage
kein größeres Aufsehen hervorgerufen, da sie eher rein
materielle Entschädigungsfragen zu behandeln schien, die kaum zu
Polemiken führten. Wie die Öffentlichkeit erst im Nachhinein
bemerkte, hatten Teile der regierenden Konservativen – vor allem
ihr kolonialnostalgischer Flügel – im Laufe der
Parlamentsdebatte weitaus brisantere Bestimmungen im Nachhinein
in den Text eingefügt.
Besonders
umstritten war und ist der Artikel 4 des Gesetzes, der die
Forscher und die Lehrer in ihrem Unterricht dazu verpflichtet,
"den positiven Beitrag der französischen Anwesenheit in Übersee,
insbesondere in Nordafrika, zu würdigen". Diese "Anwesenheit" in
Nordafrika bezeichnet vor allem den französischen
Siedlungskolonialismus in Algerien (von 1830 bis 1962), wo in
der Schlussphase eine Million Europäer und acht bis neun
Millionen Araber und Berber in einem konfessionnel überformten,
brutalen Apartheidsystem lebten, unter dem sich die
Rechtsstellung der Personen je nach ihrer Religionszugehörigkeit
richtete. Dieses konfessionnelle Apartheidsystem räumte den
Christen die vollen Staatsbürgerrechte ein, den algerischen
Juden ab 1870 annähernd so viele Rechte, aber zwang hingegen den
musulmans d'Algérie einen weitgehend rechtlosen Status
als „Eingeborene“ (indigènes) auf. Am Ende kamen im
Kolonialkrieg von 1954 bis zur Unabhängigkeit des Landes, am 5.
Juli 1962 anderthalb Millionen Algerier und – nach offiziellen
französischen Zahlen – 30.000 Franzosen, unter ihnen über 27.000
Soldaten, um's Leben. Allein schon dieses Zahlenverhältnis
widerspiegelt die extreme Ungleichheit zwischen Kolonisierenden
und Unterworfenen.
Knapp eine Million
kolonialer Europäer, die so genannten
Pieds Noirs („Schwarzfüße“, mutmaßlich so genannt,
weil sie „die Füße in Afrika und den Kopf in Europa“ hatten),
verließen ab 1962 das nordafrikanische Land. Dort blieben aber
zunächst auch rund 200.000 Europäer freiwillig zurück, die
keineswegs massakriert wurden, wie die Ausreisenden ihrerseits
befürchteten. Ihre Zahl hat sich aber später, unter anderem
aufgrund der massiven wirtschaftlichen Probleme des unabhängigen
Algerien, nach und nach verringert. Diese Pieds Noirs
leben heute vor allem in Südfrankreich, von Perpignan imWesten
bis Nizza auf der östlichen Flanke, und bilden dort eine
einflussreiche politische Lobby. Ihre Stimmen teilten sich
traditionell vorwiegend zwischen der bürgerlichen Rechten und
dem rechtsextremen Front National auf. In jüngerer Zeit ist
allerdings erstmals eine Entideologisierung dieses Milieus und
eine spürbare Entkrampfung im Verhältnis zu Algerien – wohin
eine wachsende Zahl ehemaliger Algerienfranzosen seit kurzem
reist – zu verzeichnen.
Den Hardlinern
innerhalb dieses „Vertriebenenmilieus“, um deren Zustimmung
Konservative und Rechtsextreme wetteifern, war zweifellos die
Verabschiedung des Gesetzes vom 23. Februar mitsamt seinem
Artikel 4 zugedacht. Um ihn gab es auch bereits
zwischenstaatliche Spannungen im französisch-algerischen
Verhältnis. Algeriens Präsident Abdelaziz Bouteflika kritisierte
ihn am 8. Mai dieses Jahres (dem Jahrestag des Zehntausenden
Algeriern vom 8. Mai 1945 in Sétif, Kherrata und Guelma) in
scharfen Worten, und drohte mit einer Verschiebung der
Unterzeichnung des umfassenden Freundschaftsvertrages, der
zwischen beiden Ländern geplant ist.
Ende November
weigerte sich die UMP-Mehrheit der Abgeordneten in der
Nationalversammlung, den umstrittenen Artikel 4 des Gesetzes
wieder abzuschaffen – auch wenn die konservativen Parlamentarier
zugleich eifrig und entgegen dem Wortlaut versicherten, es könne
sicherlich nicht darum gehen, "eine staatlich fixierte
Geschichtsschreibung" zu definieren. Dabei fiel auch das
Argument, das der konservative Abgeordnete von Nizza – einer
Hochburg der Pieds Noirs -, Lionnel
Luca, so formulierte: „Dieses Gesetz abzuschaffen, ist unmöglich
und undenkbar. Das würde die Glut wieder anheizen.“ Damit meinte
er, das Feuer der Unruhen, die er vor allem mit
Immigrantenkindern in Zusammenhang bringen mochte, werde wieder
entzündet. Verschiedene Abgeordnete der Sozialdemokraten, der KP
und der christdemokratischen UDF hatten das Argument allerdings
genau umgekehrt benutzt: Ein Eingeständnis, der Kolonialismus
habe für die ihm unterworfenen Bevölkerungen auch – und vor
allem – negative Aspekte gehabt, setze „ein Zeichen der
Beruhigung“.
Am Ende votierten
183 konservative Abgeordnete für Nichtbefassung mit dem
sozialdemokratischen Antrag und damit gegen die Abschaffung des
Artikels 4, und 94 Parlamentarier unterschiedlicher Couleur
stimmten im gegenläufigen Sinne ab. Die linksliberale
Tageszeitung Libération titelte am folgenden Tag
provozierend: „Die Rechte: Y'a bon colonies“ (ungefähr:
„Kolonien viel gut“), unter Anlehnung an eine frühere
rassistische Werbung für ein Schokogetränk, in der eine
Karikatur eines Afrikaners mit den Worten abgebildet ist Y'a
bon, Banania. In einem Leitartikel unter der Überschrift
„Dumm und frech“ war zu lesen: „Die französische Kolonisierung
war, genau wie jede andere auch, eine Mischung aus militärischer
Aggressivität, brutaler wirtschaftlicher Expansion, religiösem
Missionseifer, kriminellem Abenteurertum und dem Bestreben nach
juristischer Normalisierung (des Kolonialverhältnisses). Die
Herrschaft des Rechts und die Geltung der Menschenrechte schloss
die Eingeborenen aus.“
Über das Gesetz
vom 23. Februar 2005 dürfte das letzte Wort noch nicht
gesprochen sein, da seit dem Frühjahr zahlreiche Lehrer und
Wissenschaftler gegen die „staatlichen Vorschriften in Sachen
Forschung und Geschichtsschreibung“ Sturm laufen. Aber das Klima
scheint derzeit günstig genug für den Hardliner-Flügel der
konservativen Rechten, solcherlei Protest von berufener Seite
vorläufig zu ignorieren. Freilich regt sich heute in ihren
eigenen Reihen Widerspruch. Nicht zuletzt von Präsident Jacques
Chirac höchstpersönlich, der die Verabschiedung des Textes
selbst als „grobe
Dummheit“ bezeichnete. Chiracs Position dürfte vor allem auch
dadurch motiviert sein, dass er die in naher Zukunft anstehende
Unterzeichnung des französisch-algerischen Staatsvertrages – der
eine umfassende Kooperation auf ökonomischer, politischer und
auch militärischer ebene regeln soll – nicht gefährdet wissen
möchte.
Anfang dieser
Woche richtete Präsident Chirac eine neugegründete Kommission
ein, die unter der Oberaufsicht von Parlamentspräsident
Jean-Louis Debré – eines ehemaligen konservativen Innenministers
– darüber beraten soll, welche Rolle das Parlament in Sachen
Geschichtsschreibung zu spielen hat. Die Kommission soll
„pluralistisch zusammengesetzt“ werden. Dadurch hoffte Chirac,
den Streit zu entschärfen. Derzeit hat er allerdings die eigenen
konservativen Truppen nicht unter Kontrolle. Seit dem Ende der
jüngsten Unruhen, in deren Folgezeit relevante Teile der
Gesellschaft nach autoritären und rassistischen „Lösungen“
rufen, befindet sich deren rechter Flügel wie in einem
Rauschzustand: Endlich dürfen diese Leute alles auf den Tisch
packen, was sie schon seit längerem an Vorhaben in den
Schubladen liegen hatten. Ob Kolonialnostaligik, eine drastische
Verschärfung der Ausschaffunspolitik oder – demnächst - eine
weitere regressive Neugestaltung der Einwanderungsgesetze.
Am Dienstag (13.
12.) kündigte Chirac ferner an, er wolle in Frankreich künftig
einen jährlichen Gedenktag für die Sklaverei (die seit einem
halben Jahrzehnt in Frankreich als Verbrechen gegen die
Menschlichkeit anerkannt worden ist) einrichten. Inzwischen
haben auch zwei Minister aus den Reihen der
bürgerlich-konservativen Rechten die Abschaffung des
umstrittenen Artikels 4 gefordert, der (aus Französisch-Guyana
stammende) Tourismusminisyter Léon Bertrand sowie der „Minister
für Chancengleichheit“ – und bisherige Pausenclown des Kabinetts
-, der Schriftsteller algerischer Herkunft Azouz Begag. Doch der
Hardlinerflügel der regierenden Rechten möchte von Kritik an dem
Gesetzesartikel bisher nichts wissen. Der stockreaktionäre
Abgeordnete eines reichen und rassistischen Wahlkreises in
Nizza, Lionnel Luca, kehrte die Kritik der beiden Minister aus
den eigenen Reihen seiner Partei um: Dem Kolonialismus hätten
sie überhaupt zu verdanken, dass sie heutzutage in Frankreich
Minister seien.
Editorische Anmerkungen
Der Autor schickte uns seinen Artikel am
13.12.2005 zur
Veröffentlichung.
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