DIE CHARLOTTENBURGER
Wie Nationalsozialisten das Bundeskriminalamt aufbauten
 
von Dieter Schenk
12/05

trend
onlinezeitung

Jeder wusste vom anderen, welche Leichen er im Keller hatte. Man nannte sie die „Charlottenburger“, weil sie an der Führerschule der Sicherheitspolizei in Berlin-Charlottenburg ausgebildet wurden. An der Spitze stand das Triumvirat Paul Dickopf, Rolf Holle und Dr. Bernhard Niggemeyer. Sie legten die Grundlagen für das Bundeskriminalamt (BKA). Ihre fachlichen und organisatorischen Fähigkeiten erlernten Holle und Niggemeyer im Reichssicherheitshauptamt (RSHA), Dickopf als Spezialist des Sicherheitsdienstes (SD).

Diese Hintergründe wurden erst durch die  nach Dickopfs Tod 1972 hinterlassenen persönlichen Akten offenbar. BKA-Präsident Horst Herold  beauftragte 1976 den Kriminaldirektor Helmut Prante mit einer Auswertung des Dickopf-Nachlasses. Der Kriminalist rätselte, ob sich Dickopf bei der Gründung des BKA des US-Geheimdienstes bediente oder ob es umgekehrt gewesen sein könnte – auf jeden Fall müsse die Geschichte des BKA neu geschrieben werden. Dazu kam es nicht, denn die Terrorismusbekämpfung genoss absoluten Vorrang und Herold hatte nach eigenen Angaben den Kopf nicht frei für eine Vergangenheitsbewältigung, zumal das BKA seinerzeit von den Medien ohnenhin kritisch beurteilt wurde. Dr.Helmut  Mertz, Leiter der Verwaltungsabteilung, verfügte die zur Verschlusssache erklärten und versiegelten Akten an das Bundesarchiv Koblenz mit einer Benutzersperre bis zum 1.1.2000. Im Jahre 1997 lehnte das BKA den Antrag des Verfassers, das Archivgut für eine Herold-Biografie auswerten zu dürfen, mit der fragwürdigen Begründung ab, dass die Freigabe „dem Willen des Paul Dickopf widerspräche“. Nachfolgend werden Berichte, Briefe, Notizen, Lebensläufe und amtliche Schriftstücke dieses Materials und Archivunterlagen des ehemaligen Berlin Document Centers dokumentiert sowie Angaben von Zeitzeugen zitiert. 

Zentrale Figur der BKA-Historie ist  Paul Dickopf. Nachdem er zur Forstlaufbahn nicht zugelassen worden war und ein Jurastudium ab­brach, entschied er sich 1936 für die Reichskriminalpolizei; als Mitglied des Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbundes hatte seine Bewerbung Erfolg.  Den Kommissar-Lehrgang schloss er mit „gut“ und der Beurteilung ab: „Dickopf ist nach Charaktereigenschaften, Haltung, Auftreten und Wissen ein durchaus geeigneter SS-Führer.“ Er wurde zum Kriminalkommissar mit dem Angleichungsdienstgrad SS-Untersturmführer be­fördert und versah zunächst Dienst in Karlsruhe, wie auch sein Kollege Niggemeyer. Bereits Ende 1939 erfolgte Dickopfs Versetzung in eine andere Sparte, nämlich zu einer Abwehrstelle in Stuttgart, wo er sich mit Spionage und Gegenspionage befasste. Im Sommer 1942 ordnete ihn die Berliner Canaris-Zentrale zur Einweisung nach Paris ab, weil er einen selbständigen Posten in der Schweiz übernehmen sollte. Nach eigenem Bekunden wollte Dickopf jedoch mit dem NS-Regime brechen, tauchte in Paris unter und hielt sich mit Unterstützung eines „schweizer Freundes“ für etwa ein Jahr in Brüssel verborgen, um sich am 7. Juli 1943 in die Schweiz abzusetzen. Dort wurde er als politischer Flüchtling aner­kannt und fertigte Dossiers über die deutsche Abwehr, den Sicherheitsdienst und die Geheime Staatspolizei  für die Schweizer Bundespolizei und für den US-Geheimdienst bei der amerikanischen Gesandtschaft in Bern an. Er gab sich als Gegner des Nationalsozialismus aus und bezeichnete sich nach dem Krieg als Widerstandskämpfer.

Es gibt Anhaltspunkte dafür, dass dies nur die halbe Wahrheit ist. Zwar wurde Dickopf seit dem Mai 1943 im deutschen Fahndungsbuch ausgeschrieben, jedoch weisen die Akten keine Fahndungsaktivitäten aus. Seiner Ehefrau wurde das Gehalt bis zum 1. Januar 1944 weitergezahlt. Gravierende Gründe nähren den Verdacht, dass die Flucht aus Paris vorgetäuscht war, um ihn als Doppelagenten einzusetzen. Denn es stellte sich heraus, dass es sich bei dem schweizer Freund, der Dickopfs Unterkunft und Lebensunterhalt in Brüssel und Lausanne bestritt, um einen glühenden Verehrer des Nationalsozialismus handelte. Die Rede ist von François Genoud, der nach dem Krieg mit Urheberrechten - u.a. an den Goebbels-Tagebüchern - und Devotionalien Bormanns und Goebbels Geschäfte trieb und sich seiner hochkarätigen SS-Freunde in Südamerika rühm­te. Der britische Autor David Ivring, ein Hitler-Apologet und Holocaust-Verleugner, erwähnte im Vorwort seines Buches „Hitler und seine Feldherrn“ (1965), dass ihm Genoud wichtige Dokumente Bormanns zugänglich machte. Es spricht also einiges dafür, dass die Canaris-Spezialisten eine Legende aufgebaut hatten, um den „politischen Flüchtling“ Dickopf in der Schweiz als Agenten zu etab­lieren und für ihre Zwecke zur Erforschung des Gegners einzusetzen. 

Bereits 1946 entwickelte Dickopf Pläne für den Aufbau eines „Antikommunistischen Nachrichtendienstes“, betätigte sich also in seinem eigentlichen Metier der Geheimdienste. Seine Auftraggeber zählten weiterhin zum Außenposten des Office of Strategic Services (OSS) in Bern, einem Vorläufer der CIA. Dickopf entwarf Pläne, die gesamte „Ostzone“ mit einem Netz von Vertrauensleuten zu überziehen. „Die hierzu geeigneten Leute sind vorhanden und bedürfen nur genauer Anweisungen.“ Auch bot er an, mit früheren Berufskameraden in Verbindung zu treten. „Ich sehe hier außerordentliche Möglichkeiten, die nicht ungenutzt blei­ben sollten, (...) eine Bresche in die deutsch-kommunistische Front zu schlagen.“

1948 wurde Dickopf mit Hilfe einer Bescheinigung der Bundesanwaltschaft Bern durch die Wiesbadener Spruchkammer im Entnazifizierungverfahren als Entlasteter (Gruppe 5) ein­gestuft. Ab da widmete er sich der Sammlung von Material für den Aufbau einer „Kriminalpolizeilichen Zentralstelle für den Bereich der westdeutschen Länder“ und nahm Verbindung zu seinem Freund und Charlottenburger Lehrgangskollegen Rolf Holle auf.

Holle, NSDAP-Mitglied seit 1937, kam über die Kripo Erfurt in das Reichssicherheitshauptamt, wo er am 20. April 1943 zum SS-Hauptsturmführer (SS-Nr. 327259) befördert wurde. Die dritte herausragende Führungskraft, Dr. Niggemeyer, war in den ersten Kriegsjahren als Direktor der Geheimen Feldpolizei eingesetzt und ab September 1943 im RSHA im Amt IV, Gegnererforschung und -bekämpfung, tätig. Zum Amt IV gehörte auch die Dienststelle Eichmanns (IV B 4).

Durch die Verschärfung der Ost-West-Gegensätze und den Kalten Krieg spielte es ab Ende der vierziger Jahre im Nachkriegsdeutschland immer weniger eine Rolle, welche NS-Vergangenheit diese Leute aufwiesen, man glaubte vielmehr, sie seien als Spezialisten unentbehrlich. Mit dieser Großzügigkeit, NS-Verbrechen Vergessen zu machen, verfuhren Bundesregierung und westliche Besatzungsmächte nicht nur im Bereich der Inneren Sicherheit, sondern auch in Wirtschaft, Industrie, Verwaltung, Justiz und Wissenschaft.

Zunächst leistete das Duo Dickopf-Holle die eigentliche organisatori­sche Pionierarbeit beim Aufbau des Bundeskriminalamtes. Holle war bereits 1949 als Kriminaloberinspektor in das Kriminalpolizeiamt der Britischen Zone in Hamburg eingestellt worden, also wieder in Amt und Brot. Man munkelte, seine Entnazifizierungsakte sei bei einem Behördenumzug verlorengegangen. Die Hamburger Behörde hatte 48 (!) Angehörige des ehe­maligen Reichskriminalpolizeiamtes (RKPA) unter ihre Fittiche genommen (das RKPA war gleichzeitig Amt V des Reichssicherheitshauptamtes).

Ab August 1948 nahm der Parlamentarische Rat seine Arbeit auf und schuf eine Verfassung, welche aufgrund der negativen Erfahrungen in der NS-Zeit Machtkonzentrationen vermeiden wollte und die Polizei zur Ländersache erklärte. Die Väter des deutschen Grundgesetzes hatten sich wahrscheinlich nicht vorgestellt, wie quasi durch die Hintertür Angehörige des ehemaligen Reichssicherheitshauptamtes und anderer NS-Sicherheitsbehörden die Regie führten. Äußerst geschickt verstand es Dickopf zwischen 1949 und 1951 ein Doppelspiel zu treiben. Einerseits schwor er amerikanische Dienststellen, die als Besatzungsmacht ein Mitspracherecht beanspruchten, auf seine Pläne ein („...nicht ganz ohne mein Zutun sind die Amerikaner auf Touren gekommen“) und schrieb unverblümt in einem Lagebericht: „Falsch verstandene Denazifizierung und daraus resultierende Nichtbeschäftigung nominell belasteter ehemaliger Kriminalbeamten stellen den Wiederaufbau in Frage.“  Und andererseits beeinflusste er die Bundesregierung unter Konrad Adenauer, die ihn – den Privatmann - als Fachberater für unentbehrlich hielt. Niemand wusste, mit welchen Mitteln Dickopf in den Nachkriegsjahren seinen Lebensunterhalt bestritt, vermutlich wurde er von der amerikanischen Militärregierung als Berater bezahlt. Er war sich seiner machtvollen Stellung bewusst. Als Adenauers Bedenken äußerte, ehemalige SS-Angehörige einzustellen, schrieb Dickopf: „Ich bemerke hierzu, dass ich mich veranlasst gesehen habe, die amerikanische Militärregierung von der Auffassung des Bundeskanzlers zu unterrichten. Ich lasse keinen Zweifel darüber, dass ich gegebenenfalls alle Mittel in Bewegung setzen werde, um eine öffentliche Erklärung Dr. Adenauers zu dem strittigen Punkt herbeizuführen und zum anderen eine Kettenreaktion in Gang zu setzen, über deren Folge ich mir nicht den Kopf zerbrechen werde.“

Rolf Holle fungierte als Dickopfs wichtigster Berater und arbeitete ihm zu, da er über statistisches und sonstiges Hintergrundmaterial des Hamburger Amtes und dessen bürokratischen Apparat verfügte. Beide trafen sich regelmäßig an Dickopfs Wohnsitz in Hattert/ Westerwald. Dickopf erstellte Organigramme und Stellengliederungspläne, kalkulierte Personalstärken und befruchtete den Referentenentwurf des BKA-Gesetzes, das am 8. März 1951 vom Bundestag beschlossen wer­den sollte, denn das Grundgesetz sah die Einrichtung eines Bundeskriminalpolizeiamtes mit  Zentralstellen für das polizeiliche Auskunfts- und Nachrichtenwesen vor.

In Limburg, auf halber Strecke zwischen dem Westerwald und Frankfurt, traf Dickopf regelmäßig seinen Gesprächspartner der Besatzungsmächte, Mister Tom Polgar. Während die Amerikaner blauäugig an Dickopfs weiße Weste glaubten, bereitete die Wiedereinstellung Dickopfs der Ministerialbürokratie des Bonner Innenressorts Probleme, seine Vergangenheit erschien dubios. Bundesinnenminister Dr. Gustav Heinemann (damals noch CDU-Mitglied, Rücktritt als Innenminister am 11.10.1950) misstraute Dickopf, so dass sich Dickopf veranlasst sah, seine Bewerbungsschreiben und Lebensläufe mehrfach - und nicht ohne Widersprüche – zu modifizieren. Am 21. März 1950 unterzog der Innenminister Dickopf einer eingehenden Befragung. Heinemann wurde dabei von seinem Staatssekretär Ritter von Lex und dem Ministerialdirektor (Abteilungsleiter) Egidi assistiert. Immerhin gelang es Dickopf, das Gremium von sich zu überzeugen. Er empfand aber, wie er seinem Freund Holle schrieb, „eine merkwürdige Kälte, die von Heinemann ausging“ und fuhr fort: „Ich hoffe, dass mich der Minister und seine Adlati nicht für einen hochbezahlten Agenten der United States halten.“

Auf die Personalentscheidung, wer erster Chef des Bundeskriminalamtes werden sollte, nahm Dickopf massiven Einfluss. Einer der Kandidaten war Polizeipräsident Klapproth aus Frankfurt. Am 8. Januar 1951 schrieb Dickopf dem Referenten für Sicherheitsfragen im Bundesinnenministerium (BMI), Geheimrat Dr. Max Hagemann: „Klapproth hat sich bis heute geweigert, einen durch Mitgliedschaft in der NSDAP o.ä. 'belasteten' früheren Kriminalbeamten wieder einzu­stellen; dies hat dazu geführt, dass von den ab Herbst 1945 zur Kripo der Stadt Frankfurt ge­kommenen ca. 250 Beamten rund 200 wieder entlassen werden mussten.“ Dies gewinne um so mehr Gewicht, fuhr Dickopf fort, weil Klapproth wie auch der Kripo-Chef und sein Vertreter langjährige Angehörige der SPD seien.

Für den Lobbyisten und BKA-Mann war die SPD ein rotes Tuch, allen voran der Parteivorsitzende Dr. Kurt Schumacher. An Dr. Hagemann berichtete der parteilose Dickopf am 2. August 1949: „Ohne Übertreibung kann deshalb gesagt werden, dass Schumacher (...) geneigt sein wird, einem Vorschlag zuzustimmen, der das künftige BKA als Superzentrale der politischen Polizei und als Machtinstrument zur Verwirklichung sozialdemokratischer Parteiziele in den westdeutschen Ländern sieht.“ Schließlich diffamierte Dickopf in einem Brief an seinen Freund Holle am 22.9.1949 Kurt Schumacher als „Goebbels-Schumacher“.

In der Denkweise eines Paul Dickopf verschwammen Sozialdemokraten, Sozialisten und Kommunisten zu einem Bild, das im Trend der Zeit lag. Die Welt war inzwischen in zwei Machtblöcke aufgeteilt, und der Amerikaner Polgar hatte keine Probleme  mit „alten Nazis“, sofern sie im westlichen Lager standen. In einem Gesprächsprotokoll vom 9. Dezember 1949 notierte Dickopf: „Zur personellen Besetzung des BKA erklärt Mr. P., dass keinerlei Einwendungen gegen die Beschäftigung von in Gruppen 4 bzw. 5 (der Entnazifizierung, Anm.d.A.) eingestuften ehemaligen Kriminalbeamten gemacht werden und dass auch die nominelle Zugehörigkeit zur SS bzw. SD keinen Ausschließungsgrund bedeute. (...) Die bisherige Praxis habe dazu geführt, dass viele 'verhinderte' Nazis in maßgebliche Stellungen berufen worden seien, während fachlich ausgezeichnete Kräfte wegen irgendwelcher nomineller Belastungen für ihren früheren Beruf verlorengegangen seien.“ Dies war der Schlüsselsatz für die weitere Personalpolitik, wobei Dickopf, Holle und ihren Gesinnungsgenossen bestens bekannt war, dass hinter den „nominellen Mitgliedschaften“  Funktionäre standen, die häufig in die NS-Verbrechen direkt verwickelt waren.

Das BKA begann im Mai 1951 seine Tätigkeit mit dem Aufbau der Bonner Sicherungsgruppe; BKA-Präsident wurde der Sicherheitsreferent des BMI, Dr. Hagemann und Dickopf sein Stellvertreter. Bereits im Vorfeld schalteten sich Dickopf und Holle in die Personalauswahl von BKA-Führungskräften ein und sondierten in Gesprächen mit Dr. Hagemann und Mr. Polgar die Kandidaten. Vorsichtig taktierend überlegte Dickopf, „ob es klug sein wird, als erste einzustel­lende Beamte solche zu wählen, die politisch immerhin belastet sind“ und teilte die Ansicht des Dr. Hagemann, diese erst einmal in Hamburg zwischen zu parken (14.3.1950). Das Hamburger Kriminalamt der britischen Zone wurde nämlich als personeller Grundstock übernommen und erhielt den Status einer Außenstelle des BKA. Da das Bundeskriminalamt bis heute die Akten einer wissen­schaftlichen Forschung verschließt, ist nur fragmentarisch bekannt, welche ehemaligen Experten der NS-Sicherheitspolizei automatisch in den Bundesdienst und das Beamtenverhältnis auf Lebenszeit überführt worden sind. Dickopf stellte jedenfalls damals fest, dass es die große Ausnahme bilde, wenn jemand nicht in der NSDAP war, eigentlich sei ihm niemand bekannt. Diese Anmerkung versah er mit einem Ausrufezeichen.

Einer der Kandidaten auf ein Führungsamt war Bernhard Niggemeyer, dessen Wiederverwendung Dickopf indes zu verhindern suchte: „Damals begeisterter junger Nazi-Kommissar, heute Katholik und morgen?“ Allerdings spielte in Dickopfs Überlegungen überhaupt keine Rolle, an welchen Verbrechen Dr. Niggemeyer beteiligt gewesen sein könnte, als er mit der Geheimen Feldpolizei in Russland und ab 1943 in der Terrorzentrale der Berliner Prinz-Albrecht-Straße unter dem wegen seiner Brutalität gefürchteten Abteilungsleiter Heinrich Müller ("Gestapo-Müller")  eingesetzt war. Pars pro toto gilt das generell für die damaligen Personalentscheidungen. Doch setzte sich Dickopf nicht durch, Niggeymeyer baute das Kriminalistische Institut im BKA auf und genoss besonders als Leiter von Tagungen einen internationalen Ruf, konnte sich aber nie gegen die verschworenen Freunde Holle und Dickopf behaupten. Dickopfs Vorgesetzter Reinhard Dullien beurteilte den Westerwälder wie folgt: "Intriganter, aber nicht unintelligenter, vor allem in der mündlichen Darstellung überzeugungs­begabter Mann, der jedoch im Grunde über das Blickfeld eines 1937/38 fachgeschulten Regierungsinspektors nicht hinausgewachsen war. (...) Er hatte eine vorgefasste Meinung ge­gen alle, die ein mit dem Staatsexamen abgeschlossenes Studium aufweisen konnten, während ihm diese Prüfung fehlte." 

Scharenweise erhielten ehemalige Sicherheitspolizisten im BKA eine Lebensstellung, einige SS-Hauptsturmführer wurden Abteilungspräsidenten, andere Gruppenleiter oder Referatsleiter. Außer der Nazi-Seilschaft "Charlottenburger" gab es noch eine Unterseilschaft, die man die "Kattowitzer und Gleiwitzer" nennen könnte. Ihr Charakteristikum bestand darin, dass sie dort während des Krieges Dienst versahen. Man kann vermuten, dass der seinerzeitige Personal- und Verwaltungschef des BKA, Oberregierungskriminalrat Michael (Michalski eingedeutscht), der in Gleiwitz tätig war, als Ziehvater dieser Mannschaft gilt, dem die Marotte nachgesagt wird, er sei ständig mit zwei untergeschnallten Pistolen herumge­laufen.

Die NS-Karrieredaten dieser Nazi-Experten lassen sich allesamt in den Archivalien des ehemaligen Berlin Document Center nachlesen und sind sich häufig ähnlich. Nicht wenige „Charlottenburger“ tauchten auch im Frankfurter Einsatzgruppen-Prozess im Jahre 1964 auf, manche wurden vernommen, die meisten nur als Zeugen. Wurde im Einzelfall der Verdacht dichter, schob man den Betreffenden an eine andere Behörde ab, zum Beispiel  in das Bundesamt für Geodesie, denn das BKA sollte sauber bleiben.

Disziplinarverfahren verliefen in der Regel im Sande. Als Dr. Herbert Schäfer, ein junger Jurist, in Vertretung des Bundesdisziplinaranwaltes ein Verfahren durchführen sollte, forderte der ah­nungslose Nachkriegskriminalist bei der Staatsanwaltschaft Frankfurt die Anklageschrift des Einsatzgruppen-Prozesses an. Das an ihn adressierte Paket wurde im BKA geöffnet, angehal­ten und Dickopf vorgelegt. Schäfer wurde vor den Präsidenten zitiert und ohne eine Begründung zurechtgewiesen: „Ich wünsche nicht, dass solche Akten in das Haus geschickt werden!“ In einer Abteilungsleiterbesprechung bemerkte der für seine Rachsucht bekannte Dickopf: „Der kriegt bei mir keinen Fuß mehr auf den Boden.“ So war es dann auch - Schäfer ließ sich nach Bremen versetzen und übernahm die Leitung des Landeskriminalamtes.

Dort war wenige Monate zuvor sein Vorgänger, Kriminaldirektor Karl Schulz, in den regulären Ruhestand getreten, der den Osteinsatz 1941 in einer Einsatzgruppe in Minsk unter Anführung des Reichskriminaldirektors Arthur Nebe strafrechtlich schadlos überstanden hatte. Spuren der "Charlottenburger" gab es überall. Auch zum Beispiel in Koblenz. Hier wurde Georg Heuser, der Leiter des Landeskriminalamtes, festgenommen und wegen NS-Verbrechen zu neun Jahren Zuchthaus verurteilt.

Als Angehöriger des BKA jedoch hat niemand eine Strafe für NS-Verbrechen verbüßt, und tatsächlich verurteilt wurde nur einer: Kriminalrat Theo Saevecke. Mit der Verfügung: "Saevecke ist so­fort einzuberufen", holte ihn Dickopf am 3. Januar 1952 ins Amt. Ausdrücklich war Staatssekretär Ritter von Lex in einer Vorlage informiert worden, dass dieser Beamte 1929 der NSDAP beigetreten war. Auch Saevecke genoss die Protektion der Amerikaner, denn er arbei­tete nach dem Krieg bis 1951 in Berlin für die CIA, womit er sich noch heute gerne brüstet. In der Sicherungsgruppe übernahm Saevecke das Ermittlungsreferat. Persönlich galt er als jungenhaft und liebenswürdig, im Dienst als Kommunistenhasser - eine Eigenschaft, die er mit vielen Kollegen damals teilte. Als er 1955 aufgrund italienischen Belastungsmaterials vorübergehend vom Dienst suspendiert wurde, genoss er die tatkräftige Unterstützung seines Chefs Dr. Ernst Brückner, denn schließlich saß dieser als ehemaliger Außenstellenleiter der Sicherheitspolizei in Tschenstochau (1941/1942) mit seinem Untergebenen in einem Boot. Saevecke konnte sich aber auch der Intervention des amerikanischen CIC (Counter Intelligence Corps) erfreuen, das an seiner Entlastung interessiert war. 1971 ging er in den regulären Ruhestand und lebt heute im Alter von 88 Jahren in Bad Rothenfelde bei Osnabrück. Im April 1999 eröffnete ein Turiner Militärgericht den Prozess gegen ihn, den ehemali­gen Chef der Sicherheitspolizei in Mailand und verurteilte ihn wegen der öffentlichen Erschießung von 14 Geißeln am 10. August 1944 auf dem Mailänder Loretoplatz in Abwesenheit zum Tode.

Paul Dickopfs Karriere war durch nichts aufzuhalten. Zunächst repräsentierte er als Präsident der BKA-Abteilung Ausland die deutsche Polizei bei den jährlichen Interpol-Konferenzen. 1959 wurde er in das Interpol-Exekutivkommittee gewählt. In der Spiegel-Affaire beugte er sich in einem nächtlichen Telefongespräch dem Wunsch des Verteidigungsministers Franz Josef Strauß und leitete entgegen der Interpol-Bestimmungen einen Haftbefehl gegen den Spiegel-Redakteur Konrad Ahlers an Interpol Madrid weiter, was zu dessen Festnahme führte. Im Strafverfahren gegen Strauß bestritt Dickopf, jemals mit dem Verteidigungsminister in dieser Sache gesprochen zu haben; das Verfahren wurde eingestellt. BKA-Präsident Dullien wurde zwangspensioniert und Dickopf von Innenminister Hermann Höcherl (CSU) am 15. Januar 1965 mit der Präsidentschaft belohnt. In der Pariser Interpol-Zentrale war es ein offenes Geheimnis, dass Dickopf die Wahl zum Interpol-Präsidenten im Jahre 1968 seinem schweizer Nazi-Freund Genoud verdankte, der mit seinen Kontakten nach Algerien und Syrien die Delegierten der arabischen Staaten für den deutschen Kandidaten mobilisierte.

Am 29. Juni 1971 wurde Dickopf in den Ruhestand versetzt. Der scheidende Präsident, in dessen Büro ein Gartenzwerg mit Zipfelmütze von stattlicher Größe stand, äußerte, er hätte jetzt nur noch das Bedürfnis, sich in den Westerwald zurückzuziehen, um "einer schwangeren  Kuh über den Arsch zu streichen". In Wahrheit ging er verbittert und beleidigt, er war wie viele dieser Generation unfähig, die eigene Biographie zu hinterfragen und sich damit selbstkritisch auseinander zu setzen.

In den fünfziger und sechziger Jahren machte in der Öffentlichkeit allenfalls die Bonner Sicherungsgruppe  des BKA von sich Reden. „Wir haben in dieser Zeit einen Spion oder Kommunisten nach dem anderen hochgehen lassen.“ (Abteilungspräsident Günther Scheicher). Im Fadenkreuz stand der Ostblock, allen voran die DDR, während das Referat „Rechtsbewegungen“ ein kümmerliches Dasein fristete. Die Leute der „SG“ (Sicherunsggruppe) blickten mit einer gewissen Überheblichkeit nach Wiesbaden und bezeichneten die Angehörigen des „Mutterhauses“ als Schreibtischkriminalisten. In der Tat hatte die Wiesbadener Behörde keine besondere Außenwirkung, verwaltete die Kriminalität, anstatt sie zu bekämpfen und beschäftigte sich in vielen Bereichen mit sich selbst - ein grandioses Insidergeschäft, wie es Horst Herold formu­lierte. Nicht aufzufallen, war die Devise der Amtsträger, was auf die Amtsausführung abfärbte. Dickopf gestattete der „SG“ ein Eigenleben und führte die Abteilungen in Wiesbaden nach Gutsherrnart, er war ein Patriarch. Die „Charlottenburger“ sahen in ihm ihre Vaterfigur, die die Vergangenheit mit einem Mantel des Schweigens zudeckte und fürsorglich über ihr Wohlergehen wachte. Sie alle verband Schwadronsgeist, Ideologie, gemeinsames Erleben und die Bedrohung von außen, was sie zu­sammenhielt. Die Auswirkungen auf die Führungsstrukturen waren allerdings so katastrophal, dass sie bis heute zu spüren sind.

Bundesinnenminister Genscher bezeichnete Paul Dickopf bei dessen Verabschiedung am 29. Juni 1971 als Vorbild für die gesamte Polizei der Bundesrepublik. 

Editorische Anmerkungen

Wir spiegelten den Artikel von
 http://www.publizist-schenk.de/dokumente/charlo-3.doc

Dieter Schenk war als Kriminaldirektor im Bundeskriminalamt jahrelanger Berater des Auswärtigen Amtes in Fragen der Sicherheit des diplomatischen Dienstes im Ausland; 1981 schied er auf eigenen Antrag aus dem Polizeidienst aus und arbeitet seitdem als freier Publizist. Seit 1998 ist er Honorarprofessor der Universität Lodz mit einem Lehrauftrag für die Geschichte des Nationalsozialismus.

1998 erschien Schenks Herold-Biografie („Der Chef“). Sein jüngstes Buch „Hitlers Mann in Danzig – Gauleiter Forster und die NS-Verbrechen in Danzig-Westpreußen“ ist seit Februar 2000 im Buchhandel.