MODELLE DER
MATERIALISTISCHEN DIALEKTIK

BEITRÄGE DER BOCHUMER DIALEKTIK-ARBEITSGEMEINSCHAFT

herausgegeben von
HEINZ KIMMERLE
12/06

trend
onlinezeitung

Karl Marx
Gerd Reichenberg, Dieter Schweizer

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A. INTENTION DES KAPITELS: GRUNDLEGENDE ASPEKTE DER MATERIALISTISCHEN DIALEKTIK IN IHRER METHODOLOGISCHEN BEDEUTUNG

Das von Karl Marx entwickelte Modell der Dialektik kann innerhalb dieses Beitrags nur in Form einer ersten Einführung vorgestellt werden. Es sollen nur die grundlegenden Aspekte materialistischer Dialektik bei Marx aufgegriffen werden. Von Kontroversen in der Diskussion um marxistische Theorie muß ganz abgesehen werden. Durch die z. T. stark verkürzte Darstellung komplexer Zusammenhänge materialistischer Dialektik soll erreicht werden, die zentralen Ansatzpunkte und Problemstellungen deutlich zu machen.

Die am Ende des Buches aufgeführte Sekundärliteratur, die wir unseren Erörterungen zugrunde gelegt haben, bietet verschiedene Wege des Zugangs zur materialistischen Dialektik. Am Leitfaden der Biographie suchen Rosental und vor allem Fleischer eine möglichst vollständige, durch alle Entwicklungsphasen verfolgte Rekonstruktion der Marxschen Theorie zu geben, während alle anderen Autoren von verschiedenen Positionen her problembezogene Einzeluntersuchungen zur methodischen Seite dialektischer Theorie bei Marx vorgenommen haben. Unter ihnen geht es Lefebvre und Rosdolsky mehr um die Genese der Dialektik, während die Studien zur Methode des „Kapital" (Zeleny, Bischoff, Bubner, Reichelt u.a.) die Theorie in ihrer entwickelten Gestallt betrachten.

Unser Beitrag richtet sich auf die methodische Seite der Dialektik. Ausgehend von einer frühen Phase, in der jedoch Elemente von Dialektik bereits vorhanden sind, bis zur entwickelten Methodologie, wie sie im „Kapital" vorliegt und am ersten Kapitel exemplarisch untersucht wird, soll die Genese der Dialektik, ohne einen kontinuierlichen Entwicklungszusammenhang unterstellen zu wollen, im Rekurs auf folgende wichtigen Frühschriften nachgezeichnet werden, durch die Dialektik schwerpunktmäßig als ideologiekritisches Verfahren gekennzeichnet ist: Die Auseinandersetzung mit der Philosophie in der „Kritik des Hegelschcn Staatsrechts" (1843), in den sogenannten Pariser Manuskripten (1844) und in „Das Elend der Philosophie" (i846/ 47), wo zunächst die eigene Position in einer Kritik der idealistischen Form der Dialektik gesucht wird. Die beiden letzten Schriften verweisen gleichzeitig auf den Inhalt materialistischer Theorie, die Ökonomie als zentralen Ausgangs- und Bezugspunkt einer umfassenden Darstellung der gesellschaftlichen Praxis. Bleibt hier die Kritik der bürgerlichen Ökonomie noch auf eine Kritik einzelner Theoreme beschränkt, so dokumentiert sich mit der Überwindung des Materialismus Feuerbachs in der „Deutschen Ideologie" (1845/46), in der der historische Materialismus als eine Theorie der Geschichte erstmals zusammenhängend dargestellt wird, die Vollendung des kritischen Verfahrens, die Standortbestimmung der eigenen Theorie.

Marx' Projekt, „in zwei oder drei Druckbogen das Rationelle an der Methode, die Hegel entdeckt, aber zugleich mystifiziert hat, dem gemeinen Menschenverstand zugänglich zu machen,"()1 liegt in der Richtung unseres Versuchs, die methodologische Seite seiner dialektischen Theorie der Gesellschaft herauszuarbeiten. Zwar hat Marx sein Projekt einer Methodenkritik der Hegelschen Dialektik in komprimierter Fassung aus Zeitgründen nicht umsetzen können, doch liegt uns mit dem "Kapital" das Modell einer am konkreten Gegenstand praktizierten dialektischen Methode vor. Unserer Untersuchung des „Warenkapitels" schicken wir als Hilfe für die methodologische Aufschlüsselung eine Darstellung von Marx' eigenen Methodenbemerkungen zur „Kritik der politischen Ökonomie" (1857/58) voraus.

B. DIE ERSTE ERSCHEINUNGSFORM DER DIALEKTIK ALS IDEOLOG1EKRITI K (1843-1846/47)

1. Die Hegelkritik des jungen Marx

Der Gegenstand des Hegelschen Staatsrecht ist der Staat in seiner konkreten Existenz als ein Allgemeines gegenüber den besonderen Bereichen von Familie und bürgerlicher Gesellschaft. (Wir fassen unsere Erörterung vom Standpunkt der Kritik Marxens am „inneren Staatsrecht"(2) aus, das Marx herausgreift und besonders ausführlich behandelt).

Näher bestimmt Hegel dieses Verhältnis so, daß der SiaaLals „unendlicher für sich seiender Geist" die Sphären von Familie und bürgerlicher Gesellschaft in sich begreift und als allgemeiner Endzweck ihrer Partikularinteressen auftritt. Damit soll angezeigt sein, daß außerhalb des Staates keine besondere Existenz familiärer und gesellschaftlicher Verhältnisse möglich ist; diese sollten vielmehr in der Staats/c/w aufgehoben sein. So scheidet sich die wirkliche Idee des Staates „in die zwei ideellen Sphären seines Begriffs, die Familie und die bürgerliche Gesellschaft, als in seine Endlichkeit .... um aus ihrer Idealität für sich unendlicher, wirklicher Geist zu sein.,"(3) Die Staatsidee wird zum Subjekt einer Entwicklung, aus der das wirkliche Verhältnis des Staates zu Gesellschaft und Familie als eine Vermittlung der Idee mit sich hervorgeht.

Marx greift in seiner Kritik den Gedanken der Selbstbezüglichkeit der Idee auf: die Überführung der empirischen Geschichte in einen Prozeß der Vermittlung logisch-begrifflicher Konstruktionen.

Es wird zunächst nur der Sprachgebrauch moniert.(4) Die der „Wissenschaft der Logik" entlehnte Begrifflichkeit durchdringt die Darstellung konkreter, realer Sachverhalte und führt schließlich zu einem Zerrbild der konkreten, geschichtlichen Verhältnisse. Die StaatsiWee ist Ausgangs- und Endpunkt der gedanklichen Bewegung, durch die bürgerliche Gesellschaft und Familie sich zum Staatsganzen vermitteln. In ihr ist die Dialektik von Besonderen und Allgemeinem nicht als reales Widerspruchsverhältnis ausgedrückt, sondern als Beziehung von Akzidentien (besondere Interessen) auf eine zugrundeliegende Substanz (der Staat als „allgemeiner Endzweck") bestimmt. Der Aufweis, daß sich hinter dem „mystischen" Sprachgebrauch Hegels die alte Substanzmetaphysik verbirgt, ist mehr als formale und stilistische Kritik an philosophischer Abstraktion. Marx weist nach, daß die stets wiederkehrenden Kategorien der „Logik des Begriffs," durch die Hegel geschichtliche Verhältnisse abbilden will,5 in mehrfacher Hinsicht zu einer Verkehrung dieser Verhältnisse selbst führen. Das Verfahren, das Marx dabei anwendet, folgt einer immanenten Kritik, die Widersprüche als Scheinwidersprüche des Denkens oder als Tautologien aufdeckt. Die wichtigsten Gesichtspunkte sind zusammengefaßt folgende:

Hegel beweist nicht die Existenz von Familie und bürgerlicher Gesellschaft im Staat. Vielmehr entpuppt sich der Fortgang zur Staatsidee als innere, auf sich bezogene Bewegung des logischen Begriffs: vom Allgemeinen über das Besondere zur Einheit beider im Einzelnen. Die "Logik des Begriffs" bildet in dem Sinne ein unangemessenes Gerüst für die Erfassung des Staates in seiner konkreten Existenz, als der wahre Inhalt selbst nur stets die „Logik" ist, die Bewegung des Gedankens, während die wirkliche Bewegung, der geschichtliche Inhalt, unerklärt bleibt.(6)

"Die Hegelsche Dialektik erweckt bloß den Schein von Wirklichkeitsbezogenheit. Der konstruierte Parallelismus von „Logik" und „Rechtsphilosophie" (hier in den Teilbereichen von „Begriffslogik" und „innerem Staatsrecht") führt vielmehr zu einer Vertauschung von Subjekt und Objekt auf den verschiedenen Ebenen der Wirklichkeitserfassung, eine Vertauschung, durch die die empirischen Widersprüche getilgt sind. So kritisiert Marx, es sei bei Hegel „alles getan von der wirklichen Idee; es ist nicht ihr (gemeint sind Familie und bürgerliche Gesellschaft) eigener Lebenslauf, der sie zum Staat vereint, sondern es ist der Lebenslauf der Idee, der sie von sich diszerniert hat,"(7) während für Marx in der Wirklichkeit Familie und bürgerliche Gesellschaft „sich selbst" zum Staat machen, das „Treibende," das wirkliche Subjekt der geschichtlichen Bewegung bis zur institutionellen Ausbildung des Staates sind.

Das abstrakte, nach dem Koordinatensystem der „Wissenschaft der Logik" eingerichtete Denken ist der Wirklichkeit insofern äußerlich, als es mit verschiedenen Inhalten gefüllt werden kann.8 Die Spezifität realer, historischer Verhältnisse, die nur durch den Ik/.ug zum wirklichen Gegenstand, zur Empirie, faßbar wird, findet in der Hegelschen Dialektik keinen adäquaten Ausdruck, da das abstrakte philosophische Denken gebunden bleibt an die Negativität der bestehenden Verhältnisse.

Der Widerspruch, das bewegende Prinzip der Hegelschen Dialektik erweist sich als Moment des Denkens. Indem Hegel die reale Widersprüchlichkeit im Denken aufhebt, identifiziert er die widersprüchliche Bewegung, die die „Wissenschaft der Logik" vollzieht, mit der Wirklichkeit selbst und macht die konkreten, realen Widersprüche zu bloßen Erscheinungen des in sich widersprüchlichen Denkens. Die im Denken erreichte Einheit des Widerspruchs bildet so die Voraussetzung für einen Kompromiß mit der widersprüchlichen Wirklichkeit. Die Konzeption des Staates als einer Einheit sich widersprechender Momente ist eine im Denken vollzogene Harmonisierung „empirischer Kollisionen", die nur die Brüchigkeit und „Entfremdung innerhalb der Einheit" hervorbringt. Die behauptete Einheit von Staatszweck und Gesellschaftsinteressen existiert ebensowenig wie die vermeintliche Identität von Rechten und Pflichten in der Wechselbeziehung von Staat und Gesellschaft.(9)

Die Idee des Staates beruht in letzter Instanz bei Hegel auf einer falschen Abstraktion vom wirklichen Gegenstand des Denkens: „Der konkrete Inhalt, die wirkliche Bestimmung, erscheint als formell; die ganz abstrakte Formbestimmung erscheint als der konkrete Inhalt. Das Wesen der staatlichen Bestimmungen ist nicht, daß sie staatliche Bestimmungen, sondern daß sie in ihrer abstraktesten Gestalt als logisch-metaphysische Bestimmungen betrachtet werden können. Nicht die Rechtsphilosophie, sondern die Logik ist das wahre Interesse. Nicht, daß das Denken sich in politischen Bestimmungen verkörpert, sondern daß die vorhandenen politischen Bestimmungen in abstrakte Gedanken verflüchtigt werden, ist die philosophische Arbeit. Nicht die Logik der Sache, sondern die Sache der Logik ist das philosophische Moment. Die Logik dient nicht zum Beweis des Staats, der Staat dient zum Beweis der Logik."(10)

In dieser zusammenfassenden Kritik wird deutlich, daß Marx mit dieser Konfrontation von „Logik" und „Rechtsphilosophie" nicht nur eine Kritik des Verhältnisses dieser beiden Systemteile zueinander geleistet hat, sondern die Konzeption des Hegelschen Systems der Philosophie insgesamt in Frage gestellt hat. Es gibt eine Logik der Sache, Gesetzmäßigkeiten der Wirklichkeit, die durch das Denken rekonstruierbar und darstellbar sein müssen. Hegel geht den falschen Weg, wenn er Dialektik als einen Zusammenhang von Denkbestimmungen konzipiert, die bereits vor der Wirklichkeit bestehen und sich als solche in einer Logik erfassen lassen sollen. Dieser „mystischen" Seite der Hegelschen Dialektik widerspricht Marx und legt sie in der Konfrontation von abstraktem Gedankenkonstrukt und konkreter Realität frei. Eine positive Bestimmung materialistischer Dialektik leistet Marx noch nicht, aber er macht deutlich, daß Dialektik als Ideologiekritik falsche Ansprüche des Denkens gegenüber seinem wirklichen Gegenstand (in der Empirie) zurückweist. Im Zuge der Auseinandersetzung mit der Hegelschen Form der Dialektik entstehen bestimmte Grundannahmen einer materialistischen Dialektik:

Materialistisches Denken hat einer Konfrontation mit der Wirklichkeit standzuhalten und muß seinen Wahrheitsgehalt jederzeit an der Empirie messen lassen.

Die Notwendigkeit, mit der sich Hegels dialektisches Denken, wenn es in die Realität tritt, in Widersprüche verwickelt, hat sachliche Voraussetzungen in Staat und Gesellschaft als der Basis des Denkens. Die „Logik der Sache" kann nicht als „Sache der Logik" nach einem „in der abstrakten Sphäre der Logik mit sich fertig gewordnen Denken"(11) entwickelt werden; an diese Stelle muß ein der widersprüchlichen Wirklichkeit angemessenes Denken gesetzt werden, das die „Logik der Sache" erfaßt und sich in stetem Bezug zum wirklichen Gegenstand, zur Empirie begründet.

Die Kritik der Hegelschen Dialektik, die Marx in den „ökonomischphilosophischen Manuskripten von 1844" vornimmt, ist mit „Kritik der . Hegelschen Dialektik und Philosophie überhaupt" von ihm bezeichnet worden. Im Unterschied zu der Auseinandersetzung mit Hegels Staatsrechtstheorie wird hier näher der Zusammenhang der einzelnen Teile zum Systemganzen thematisiert. Wir begnügen uns auch hier damit, das Ergebnis vorzuweisen, weil das Verfahren, das Marx anwendet, (abgesehen von der auch in methodischer Hinsicht nicht uninteressanten anthropologischen Neufassung des Arbeitsbegriffs in den drei vorangestellten Manuskripten über Ökonomie) nicht von der Staatsrechtskritik abweicht, sondern bereits erarbeitete Positionen (z.B. die Subjekt-Objekt-Vorkehrung durch die Hegelsche Philosophie) weiter expliziert werden.

Zentraler Bezugspunkt ist wiederum die „Logik," jetzt in ihrem Verhältnis zu mehreren realphilosophischen Bereichen wie Recht, Religion, Natur, Kunst betrachtet.(12) Marx gibt einen kurzen Überblick über das System, intern er die Hauptkategorien der einzelnen Bereiche aufführt, die Gegenstand des philosophischen Wissens sind, und unterzieht den Parallelismus der „Wissenschaft der Logik" mit den realphilosophischen Teilen des Systemganzen einer abschließenden Kritik. Man kann seine Kritik an der Naturphilosophie(13) in folgendem Zitat etwa zusammengefaßt finden: „Bei seiner Naturanschauung erfährt der abstrakte Denker, daß die Wesen, welche er in der göttlichen Dialektik als reine Produkte der in sich webenden und nirgend in die Wirklichkeit hinausschauenden Arbeit des Denkens aus dem Nichts, aus der puren Abstraktion zu scharten meinte, nichts anderes sind als Abstraktionen von Naturbestimmungen." Soweit das Denken Produkte hervorbringt, kann es unter einen materialistischen Begriff von Arbeit subsumiert werden. Der Akt des Hervorbringens geistiger Produkte ist damit nicht prinzipiell vom materiellen Lebensprozeß der gesellschaftlichen Praxis unterschieden, sondern steht in bestimmter Relation zu ihm. Diese Relation gilt es zu bezeichnen. Da die gegenständlichen Formen des Seins in der Realphilosophie zu „Abstraktionen von Naturbestimmungen" verflüchtigt werden, muß der Ort, wo die Hegelsche Philosophie kohärente Gegenstandserkenntnis produziert, woanders gesucht werden.

Marx findet bei Hegel einen Arbeitsbegriff, den dieser nur teilweise explizit entwickelt, der aber für die methodische Seite seiner Philosophie zentrale Bedeutung besitzt. Die „Anstrengung des Begriffs" in der „Wissenschaft der Logik" ist eine „Arbeit des Denkens." Sie vollzieht sich als reines Denken, abgelöst von aller äußeren Wirklichkeit. Aber sie ist zugleich konstitutiv für diese Wirklichkeit. Wie ist dieses Selbstverständnis der „Arbeit des Denkens" aufzufassen? Nach Marx sind die Abstraktionen der „Logik," die in der Naturphilosophie zur Anwendung kommen, aus der Wirklichkeit der Natur gewonnen und werden zu abstrakten logischen Bestimmungen verallgemeinert.

Im Blick auf die „Phänomenologie des Geistes" wird der Arbeitsbegriff als Interpretationsbegriff des Hegelschen Denkens noch weiter konkretisiert. Den „Selbsterzeugungsakt des Wissens" in der „Phänomenologie" faßt Marx auf der Grundlage des anthropologisch bestimmten Naturalismus, wie er ihn zu dieser Zeit vertritt, als „Selbsterzeugungsakt des Menschen." Wird dieser Prozeß als Arbeit begriffen, so kommt darin der „positive Sinn der auf sich selbst bezognen Negation" zum Ausdruck. Die Vergegenständlichung vollzieht sich nicht nur als Entäußerung, sondern auch als Aufhebung der Entäußerung, wobei für Hegel freilich die Gegenstände immer nur Gegenstände einer bestimmten Form des Wissens, also keine „wirklichen" Objekte sind.(14)

Von hier aus lassen sich für das Hegelsche System im Ganzen positive und negative Momente der Dialektik unterscheiden. Marxens anthropologisch-materialistische Konzeption der Arbeit führt ihn zu einer eigenständigen Dialektikposition gegenüber Hegels „abstrakter Form" der Dialektik, durch die das Subjekt des realen Prozesses zu einem passiven, entfremdeten Objekt des Denkens gemacht wird. Das Subjekt der idealistischen Dialektik ist das „sich als Selbstbewußtsein wissende Subjekt, ... der absolute Geist, die sich wissende und bestätigende Idee. Der wirkliche Mensch und die wirkliche Natur werden bloß zu Prädikaten, zu Symbolen dieses verborgnen, unwirklichen Menschen und dieser unwirklichen Natur. Subjekt und Prädikat haben daher das Verhältnis einer absoluten Verkehrung zueinander, mystisches Subjekt-Objekt als ein Prozeß, als ein sich entäußerndes und aus der Entäußerung in sich zurückkehrendes, aber sie zugleich in sich zurücknehmendes Subjekt, und das Subjekt als dieser Prozeß; das reine, rastlose Kreisen in sich."(15)

Die Bestimmung des positiven Gehalts der idealistischen Dialektik geschieht explizit vor dem Hintergrund der materialistischen Geschichtspe-spektive, die in den vorangegangenen Manuskripten entstanden ist durch Reflexion auf den Bildungspozeß von Produkten der menschlichen Arbeit. Die Arbeit wird gefaßt als konstante, allen historischen Epochen gemeinsame menschliche Wesenstätigkeit, durch die das historische Subjekt, der konkrete, sinnliche Mensch sich im Produkt seiner Arbeit vergegenständlicht. Unter den historischen Bedingungen des Kapitalismus hat sich die Arbeit nicht einfach von ihren Gegenständen entfremdet; „in der Tätigkeit der Arbeit selbst,"(16) im Arbeitsprozeß, werden Entäußerung und Entfremdung stets neu hervorgebracht. In ideeller Form faßt die Hegelsche Dialektik diesen widersprüchlichen Prozeß mit der Kategorie der Negation auf, als „Aufheben" der Entäußerung im Denken. Diese „entfremdete Einsicht in die wirkliche Vergegenständlichung des Menschen" ist der theoretische Ausdruck der „wirkliche(n) Aneignung seines gegenständlichen Wesens durch die Vernichtung der entfremdeten Bestimmungen der gegenständlichen Welt, durch ihre Aufhebung, in ihrem entfremdeten Dasein."(17)

Geschieht diese Aufhebung der Entfremdung letztlich in der Hegelschen Dialektik in der „entfremdeten Weise" des auf Abstraktionen beruhenden, mystifizierten Denkens, so ist doch positiv der „spekulative Ausdruck" für die Auffassung der Wirklichkeit als einer widersprüchlichen Bewegung (die historisch der Gegensatz von Kapital und Arbeit(18) in der industriellen Produktionsweise ist) gefunden. Bleibt der Inhalt der idealistischen Dialektik "formell" so ist die Negation der Negation als das Formprinzip des Hegelschen Denkens verwertbar für die Erfassung der historischen Realität, soweit das Konkrete, der .wahre Inhalt materialistischen Denkens, zum Ausgangsund Bezugspunkt gemacht wird.

2. Ansätze einer Kritik ökonomischer Theorie

In den Manuskripten über Ökonomie werden mit dem Entwurf einer materialistischen Theorie der Arbeit und der Geschichte gleichzeitig die anthropologischen Voraussetzungen der bürgerlichen Ökonomie kritisiert. Da diese von einer fertigen, „abstrakten" Bestimmung des menschlichen Wesen ausgeht, kennt sie weder Geschichte noch die konstitutive Rolle der Arbeit im Geschichtsprozeß, durch die der Mensch sich und seine Produkte erzeugt. Aus dem Prozeß der entäußerten Arbeit resultiert das Privateigentum. Die Nationalökonomie, indem sie die Objektform der Produkte betrachtet, nimmt das Faktum des Privateigentums als gegeben hin und spricht alle Mechanismen des ökonomischen Prozesses als „Gesetze der entfremdeten Arbeit"19 aus. Die Untersuchung bloßer Objektbeziehungen (denn in die Gewinnkalkulation des Unternehmers geht die Arbeit nur als fixe Größe ein) negiert den Widerspruch der Arbeit unter kapitalistischen Bedingungen, daß Subjekt und Objekt in einem Prozeß erzeugt werden. Indem die Nationalökonomie „nicht das unmittelbare Verhältnis zwischen dem Arbeiter (der Arbeit) und der Produktion betrachtet," kann sie die „Entfremdung in dem Wesen der Arbeit"(20) verbergen. In dieser Beziehung des Subjekts der Arbeit zum Prozeß der Produktion liegt der Schlüssel zum Verständnis konkreter Verhältnisse, deren Bedingungen die entfremdete Arbeit selbst produziert. Die Gesetzmäßigkeiten der Entfremdung sind die historisch bestimmte Gestalt, die die Arbeitsprodukte im „Selbsterzeugungsakt des Menschen" angenommen haben. Durch eine historische Anthropologie lassen sich die Objektivationen der Arbeit zurückführen auf das unmittelbare Verhalten der Subjekte zueinander. Auf diesem Wege wird die bürgerliche Ökonomie als eine Theorie kritisiert, die den Menschen überhaupt nicht ins Blickfeld bekommt.(21) Ihre abstrakte Bestimmung des Menschen(22) ist nicht bloß das Resultat einer ungeschichtlichen Betrachtungsweise; die Fixierung des Arbeitsprozesses auf das Individuum beseitigt die Geschichte, deren Produkte die Produkte des gesellschaftlichen Wesens sind, als das sich der „wirkliche," praktisch-tätige Mensch in der Gattung verwirklicht.

3. Die Theorie der Geschichte

Die Auffassung des Menschen in seiner konkreten, materiellen Wirklichkeit wird weiterentwickelt in der Feuerbachkritik, die Marx in der "Deutschen Ideologie" leistet. In den „Thesen über Feuerbach" verbindet sich mit der Kritik, an Feuerbachs undialektischer Materialismuskonzeption das Postulat der Aufhebung der Philosophie(23) als ausschließlichem Instrument von Erkenntnis. Dem wird die Idee eines neuen Theorietyps zur Seite gestellt, der auf eine wirkliche Veränderung des gesellschaftlichen Lebens in ihren entfremdeten Bedingungen zielt. Philosophie in dieser Bedeutung soll zur praktischen Veränderung des Lebens beitragen, wenngleich Theorie allein eine solche Umwälzung nicht bewerkstelligen kann.

Die „Thesen über Feuerbach" kennzeichnen Marx' ambivalente Haltung zum deutschen Idealismus, bei dem die tätige Seite des Menschen zwar „abstrakt" vorhanden ist, der andererseits aber die Rolle der Sinnlichkeit, wie sie Feuerbachs anthropologischer Materialismus herausstellt, negiert. Marx kritisiert, daß Feuerbach die Sinnlichkeit passiv „unter der Form des Objekts" betrachtet,(24) die andere, wesentliche Seite, die der Tätigkeit des Subjekts, unterschlägt. Es fehlt die volle Entfaltung der Subjekt-Objekt-Beziehung, die für die „praktisch-kritische" Tätigkeit konstituierend ist.

Fcuerbachs Anliegen ist die Kritik der Religion. Die Kritik bleibt aber abstrakt, da das menschliche Individuum als ein Gattungswesen betrachtet wird, wogegen Marx die konkrete Polarität von Individuum und Gesellschaft akzentuiert und das Individuum als „Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse"(25) bestimmt. Wesentlich gegenüber Feuerbach und der gesamten traditionellen Philosophie ist die Feststellung, daß die Frage, ob dem menschlichen Denken gegenständliche Wahrheit zukomme, nur im Begreifen der menschlichen Praxis (26) ihre Antwort findet.

Es wäre völlig verkehrt, aus dieser Feststellung eine Entwertung von Theorie ableiten zu wollen. Umgekehrt bekommt Theorie eine neue Funktion, indem sie als Moment der Praxis aufgefaßt wird. Aus dieser veränderten Bewertung von Theorie kommt Marx in der elften These zu dem Ergebnis, daß die Philosophen bisher „die Welt nur verschieden interpretiert" haben, die Aufgabe der Veränderung aber außerhalb ihrer Kompetenz bleiben mußte, weil gesellschaftliche Praxis kein Thema von Philosophie gewesen ist. Die dem Idealismus eigene Zurücknahme der Praxis in das subjektive Erkennen hat ihr Gegenstück im alten Materialismus, nur die Objektseite ohne die vermittelnde Tätigkeit des Subjekts anzuerkennen. Bleiben beide Denkrichtungen innerhalb des Bestehenden, der bürgerlichen Gesellschaft, so ist die Synthese der Standpunkt des neuen Materialismus, „die menschliche Gesellschaft oder die gesellschaftliche Menschheit."(27) Die Gewinnung des Praxisstandpunkts ermöglicht die neue Sicht der Geschichte, wie sie in der „Deutschen Ideologie" im Anschluß an die Feuerbachthesen entwickelt wird.

Im Gegensatz zu den idealistischen Prämissen der Erklärung der Geschichte sind die Voraussetzungen, die Marx annimmt, keine „willkürlichen," sondern die Existenz der „wirklichen Individuen."(28) „Die Menschen haben Geschichte, weil sie ihr Leben produzieren müssen, und zwar müssen auf bestimmte Weise: dies ist durch ihre physische Organisation gegeben; ebenso wie ihr Bewußtsein."(29) Für unseren Zusammenhang ist entscheidend, nicht warum die Menschen Geschichte, sondern wie sie Geschichte haben. Es soll die formale Grundstruktur angegeben werden:

a) Gegen das ideologische Modell der idealistischen Geschichtserklärung wird betont, daß die Geschichte sich nur vom materiellen Produktionszusammenhang, zu dem die einzelnen Generationen durch die Resultate der Arbeit verbunden sind, begreifen läßt. Geschichte ist demnach „nichts als die Aufeinanderfolge der einzelnen Generationen, von denen Jede die ihr von allen vorhergegangenen übermachten Materiale, Kapitalien, Produktionskräfte exploitiert."(30)

b) Unter dem Aspekt einer möglichst umfassenden Darstellung geschichtlicher Verhältnisse zu einem bestimmten Zeitpunkt der Entwicklung bilden die verschiedenen Seiten des gesellschaftlichen Prozesses (Ökonomie, soziale Verhältnisse, Politik, Ideologie) ein Ganzes und werden als Unterschiede in einer Einheit, die durch den materiellen Produktionsprozeß gegeben ist, untersucht.

Wenn die Arbeit als konstituierende Bedingung von Geschichte angesehen wird, so ist die Entwicklung der materiellen Produktivkräfte der historische Fundamentalprozeß, durch den qualitative Veränderungen der historischen Gesellschaftsformationen Zustandekommen. Es wird hierbei von der Wechselbeziehung zwischen den Produktivkräften und den Produktionsverhältnissen ausgegangen. Hier nennt Marx diese noch „Verkehrsform." Der Motor, der geschichtlichen Entwicklung ist der Widerspruch zwischen den Produktivkräften und der Verkehrsform,(31) der historisch in verschiedenen Gestalten vorkommt: als Teilung der geistigen und der materiellen Arbeit, als Gegensatz von Stadt und Land, als Klassenantagonismus.(32)

Die verschiedenen Ebenen des Geschichtsprozesses, aus dessen widersprüchlicher Bewegung die Verselbständigung der Ideologie hervorgegangen ist, werden in der „Deutschen Ideologie" so reflektiert, daß einerseits die Genese des materiellen Prozesses faßbar wird. Andererseits werden die verschiedenen Ideologien als Erscheinungsformen kenntlich gemacht, die auf historisch bestimmte Basisbedingungen zurückweisen. Dadurch wird Ideologie zu einem wesentlichen Moment in der Praxis, Ideologiekritik zum zentralen Bezugspunkt einer materialistischen Theorie der Geschichte: Kommt den besonderen Ideologien die Funktion zu, die vom Klassenantagonismus bestimmten Verhältnisse in den Köpfen der Menschen zu befestigen, so macht Ideologiekritik durch den Rückbezug auf die Praxis, „die wirkliche Basis der Ideologie,"(33) deutlich, wie sich bestimmte, antagonistische Verhältnisse kritisieren und verändern lassen. Da sich die theoretische Erfassung der Praxis nur annähern, sie aber nicht ersetzen kann, können Veränderungen in der Praxis nur durch das geschichtliche Subjekt vollzogen werden, dem der historische Materialismus das theoretische Fundament dazu liefert.(34)

4. Die Kritik an Proudhons Methode der Ökonomie

Im „Elend der Philosophie," einer in weiten Teilen polemischen Schrift, nimmt Marx die theoretische Auseinandersetzung um ökonomisch-philosophische Grundfragen mit dem führenden Theoretiker der französischen Arbeiterbewegung auf und untersucht dessen „philosophie de la misere" hinsichtlich praktischer und methodischer Voraussetzungen. Proudhons Anspruch, als systematischer Theoretiker das methodische Gerüst der Hegelschen Dialektik in den Bereich der Ökonomie zu überführen, kritisiert Marx durch eine differenzierte Einschätzung der idealistischen Dialektik und zeigt, daß der ökonomische Gegenstand nicht nach einer vorgefertigten Methode untersucht werden kann, sondern daß die dialektische Methode aus_der Analyse des konkreten Gegenstands zuentwickeln ist.

Gegenüber den einzelnen ökonomischen Kategorien Proudhons (Gebrauchswert, Tauschwert, Preis, Geld usw.), die Marx im ersten Kapitel aufgreift(35) und für die gezeigt wird, daß sie nicht „wirkliche" Vorgänge in der Gesellschaft bezeichnen, wird im zweiten Kapitel an konkreten, ökonomischen Bestimmungen dialektische Verfahrensweise expliziert. So ist die realgeschichtliche Bewegung vom Monopol zur Konkurrenz in dialektischen Kategorien des Gegensatzes, des Widerspruchs, der Negation der Negation und der Einheit von Gegensätzen ausgedrückt.(36) Die partikulare Anwendung logisch-dialektischer Kategorien dient hier zwar nur der Vermittlung des historischen Materialismus, doch zeigt sich, daß die theoretische Aneignung ökonomischer Prozesse der Entwicklung spezifischer Kategorien bedarf.

Proudhon geht einen anderen Weg. Er will aus der Genese des Privateigentums die kapitalistischen Produktions- und Eigentumsverhältnisse herleiten und verändern. Als Modell für die Darstellung dieses geschichtlichen Prozesses benutzt er die spekulative Dialektik Hegels. Marx' Kritik an Proudhon setzt daher bei Hegel an, über dessen „absolute Methode" Marx bemerkt, daß sie keine hinreichende Grundlage zur Erfassung der wirklichen Bewegung der Geschichte bildet. Abgesehen davon, daß Proudhon zu keiner echten Adaption Hegelscher Methode gelangt,(37) besteht der Hauptmangel in Proudhons Absicht, die idealistische Form der Dialektik ungeprüft zu übernehmen. Da die idealistische Dialektik den Gegenstand vollständig aus dem Denken, aus der „reinen Vernunft," erzeugt, weil ausschließlich vom Denken ausgegangen wird, bleibt das Erkenntnispotential „auf die Methode reduziert": „Was ist somit die absolute Methode? Die Abstraktion der Bewegung. Was ist die Abstraktion der Bewegung? Die Bewegung im abstrakten Zustande. Was ist die Bewegung im abstrakten Zustande? Die rein logische Formel der Bewegung oder die Bewegung der reinen Vernunft."(38)

Der Prozeß der Abstraktion, durch den bestimmte Qualitäten in immer dünnere abstrakte Bestimmungen der Quantität aufgelöst werden, hat nichts mit der Analyse konkreter Dinge zu tun. Es ist eine Illusion, die konkreten Dinge theoretisch richtig zu erfassen, indem man von ihren verschiedenen Bewegungsformen abstrahiert, um die so übriggebliebene allgemeine abstrakte Form, die „jede unterschiedene Eigenschaft der Bewegung" eliminiert hat, als Grund für die Existenz aller Dinge und ihrer Bewegung zu setzen. Die „absolute Methode" ist bloß das Verfahren der Reduktion konkreter Erscheinungen auf abstrakte Formen, deren Zusammenhang als das logische Abbild der wirklichen, konkreten Verhältnisse interpretiert wird. Diese Methode, in der „jedes Ding» sich als logische Kategorie darstellt,"(39) ist den wirklichen Dingen nicht angemessen.

In weiteren Fortgang führt Marx aus, warum die absolute Methode Proudhons den ökonomischen Kategorien äußerlich bleibt. Diese sind nichts als die "Abstraktionen der gesellschaftlichen Verhältnisse." Proudhons Idealismus besteht in der Annahme, die Kategorien in ihrem Zusammenhang seien die wirkliche Bewegung selbst. Wie kommt es zu dieser Überschätzung des Denkens? Die wirklichen Produkte der menschlichen Arbeit bestehen außerhalb des Denkens, d.h. der theoretischen Erfassung. Das Denken geht sogar erst aus diesem Prozeß der Arbeit hervor. Indem Proudhon das Denken als das Primäre nimmt, verwandelt er die wirklichen, außerhalb des Bewußtseins bestellenden Arbeitsprodukte (Waren und die Verhältnisse, innerhalb derer sie produziert werden), in logische Bestimmungen des Denkens, die von den konkreten Bedingungen, den Produktionsverhältnissen, abgelöst sind.

Die Produktionsverhältnisse sind die materiellen Bedingungen, unter denen die Menschen (nach historisch jeweils verschiedenen Umständen) in ein System der Produktion treten. Proudhon will dieses System, „in dem alle Beziehungen gleichzeitig existieren," allein durch seine Genese erklären. Nach diesem Model! wird Geschichte zu einer einfachen Sukzession von Ideen in der Zeit, in der jede Periode die spätere vollständig aus sich erzeugt. Marx stelzt diesem Historismus entgegen, daß die Produktionsverhältnisse jeder historischen Gesellschaftsformation ein Ganzes bilden, deren Teile nicht durch ihre Genese, sondern vorwiegend durch ihren logisch-systematischen Zusammenhang zum Ganzen erklärt werden müssen.(40)

Proudhon kennt als Moralist nur den Gegensatz zwischen der schlechten Praxis und der guten Theorie, die eine gesellschaftliche Veränderung befördern soll.(41) Sein Denken verordnet (42) Widersprüche, um sie dann auf dem gleichen Wege praktisch zu lösen. Diese Widcrsprüche haben nichts mit Dialektik zu tun. Die Bildung von Widersprüchen in der Praxis ist ein von ihrer theoretischen Reflexion unterschiedener Prozeß. Daher muß die Qualität des Denkens, verschiedene Formen des Widerspruchs zu bilden, hinsichtlich der Praxis transparent gemacht werden.

Es gibt in der „wirklichen" Geschichte Widersprüche, die sich in der Theorie als logische darstellen lassen. Die Widersprüche in der Geschichte sind immer konkret, ihre theoretische Erfassung im Denken dagegen bleibt insofern abstrakt, als konkrete Formen in allgemeinere abstrakte Bestimmungen aufgelöst werden müssen. So tritt der logische Widerspruch zwischen Produktionsverhältnissen und Produktivkräften immer innerhalb bestimmter, historisch vorherrschender gesellschaftlicher Gegensätze und Widersprüche auf. Erst die Analyse der Verhältnisse, unter denen sich diese Gegensätze und Widersprüche zu Widersprüchen in konkreter Gestalt entwickeln, erfaßt die wirkliche Bewegung und zeigt, daß konkrete Widersprüche nicht in der Theorie, sondern auf praktischem Wege zu lösen sind.(43)

Aufgrund der Widersprüchlichkeit der gesellschaftlichen Praxis bilden sich verschiedene ökonomische Schulen, die dem veränderten Charakter der gesellschaftlichen Organisation (im historischen Prozeß) Rechnung tragen. In den „Pariser Manuskripten" wird das Faktum der Vielheit, sich in ihren moralisch-praktischen Schlußfolgerungen(44) widersprechender Theorien auf die Fixierung am Privateigentum zurückgeführt, während Marx in der Proudhonschrift eine Zuordnung dieser Theorien zum praktischen Prozeß der Produktion vornimmt.(45) Die Grundlage hierzu ist bereits in den Manuskripten gelegt, wo Ökonomie in ihrer Bedeutung folgendermaßen bestimmt wird: nicht als Wissenschaft von der Produktion von Dingen, sondern als Wissenschaft von der Produktion der Verhältnisse selbst, innerhalb derer diese Dinge entstehen. Ökonomie wird so zur Wissenschaft vom Menschen und den Bedingungen, unter denen er sich und seine eigenen Verhältnisse (re-)produziert.

C. DIE AUSBILDUNG DER DIALEKTIK ALS METHODE SYSTEMATISCHER KRITIK (1857/58)

Während Marx in den frühen Jahren seine Dialektikkonzeption primär an ideologischen Phänomenen als Verfahren der Kritik erprobt, erfährt die Dialektik am polit-ökonomischen Gegenstand eine wesentliche Erweiterung. In die „Kritik der politischen Ökonomie" geht neben der Rezeption zeitgenössischer Ökonomie eine erneute, kritische Reflexion dialektischer Kategorien der Hegeischen „Logik" und die Problemstellung einer materialistischen „Umstülpung" ein. Da Marx eine systematische Methodologie materialistischer Dialektik nicht explizit entfaltete, ist zu überprüfen, welche Konzequenzen und welchen Stellenwert seine Bemerkungen zur Methode in der „Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie" für die spätere „Anwendung" in der Argumentation des „Kapital" einnehmen.

1. Die Kategorie Totalität

Bei seinen Methodenüberlegungen kommt Marx schließlich zu dem Resultat: ,,Es scheint das Richtige zu sein, mit fern Realen und Konkreten, der wirklichen Voraussetzung zu beginnen."(46) Indes ist die „wirkliche Voraussetzung," das Konkrete, der wissenschaftlichen Anschauung nicht unmittelbar gegeben, sondern stellt sich immer als eine Komplexion von Beziehungen dar, deren richtige Erfassung im Denken von der Wahl des richtigen Ausgangspunkte abhängt. Wie ist dieser zu bestimmen?

„Das Konkrete ist konkret, weil es die Zusammenfassung vieler Bestimmungen, also Einheit des Mannigfaltigen" ist._Als eine solche Einheit mannigfaltiger Bestimmungen ist das Konkrete Totalität. Totalität bezeichnet nicht bloß eine Vielheit von Bestimmungen, die als Teile und Momente eines Ganzen auftreten, sondern ihren gesetzmäßigen Zusammenhang. Die Totalität als die Einheit gegensätzlicher und wechselseitig aufeinander bezogener Teile erscheint als zunächst unbegriffenes Ganzes in der Vorstellung.

Wissenschaftliches Denken, das Totalität erfassen will, muß daher vom Ganzen der Vorstellung ausgehen. Das Ganze ist Voraussetzung richtiger Erkenntnis, da in der Wirklichkeit die Momente nur innerhalb der Totalität sind, ihre qualitative Bestimmtheit und ihre gegenseitige Wechselbeziehung aber bedingt ist durch die allgemeinen und übergreifenden Gesetze der Totalität selbst.

Die Beziehungen der Momente einer Totalität bestimmt Marx ausdrücklich als gegensätzliche, als Verhältnisse einander widersprechender, sich gescheidenden Punkt des Argumentationsgangs von der dominierenden Stellung des Tauschwertes gegenüber dem Gebrauchswert bis zum Verhältnis des Werts näher zu beleuchten. Dabei zeigt sich: Der Gebrauchswert als der „stoffliche Inhalt des Reichtums" wird hervorgebracht durch konkrete Arbeit, der Tauschwert als die gesellschaftliche Form, die dieser Inhalt unter kapitalistischen Verhältnissen erhält, durch abstrakte Arbeit. Die Dominanz des Tauschwerts bzw. der Form über den Gebrauchswert, den spezifischen Inhalt des Reichtums beruht auf der Vorherrschaft der abstrakt-gleichen einfachen Arbeit über die konkrete Arbeit, die in der industriellen Produktionsweise entsteht. Die ausschließliche Relevanz des Tauschwertes im Tauschakt ist schließlich bedingt durch die Zurückführbarkeit jeder Arbeit auf die abstrakt-gleiche Durchschnittsarbeit, deren Maß allein das Quantum der aufgewendeten Arbeitszeit ist. Die Arbeit ist der Grund für den Gebrauchswert und den Tauschwert der Waren, sowie für die Zuordnung von Gebrauchswert und Tauschwert und für das Austauschverhältnis der Waren als ein Verhältnis des Werts. Somit ist sie der Grund einer gesamten Struktur im Sinne ihrer praktischen und theoretischen Konstitution.

Die Begründung der Warenstruktur führt so auf ein einfaches zugrundeliegendes Verhältnis, das Wertverhältnis, das rein abstrakt ist, weil es „kein Atom Naturstoff enthält," im Austauschverhältnis als seine „rein gesellschaftliche" Formbestimmung „versteckt" ist.54 Die Wertgleichheit zweier „sinnlich verschiedener Dinge" erweist sich als ihre „Wesensgleichheit"; sie konstituiert die Ebene des Wesens. Wird nun das „einfachste Wertverhältnis" einer Ware zu einer einzigen anderen thematisiert, so ist die einfachste abstrakte Bestimmung gewonnen, die das Ergebnis der dialektisch geleiteten Analyse bildet und zugleich den Ausgangspunkt für die daran anschließende dialektische Synthese abgibt, für den „Wiederaufstieg vom Abstrakten zum Konkreten" im Sinne eines geistigen Konkretums, das die vorgegebene Komplexität von Bestimmungen überführt und damit wissenschaftlich reproduziert. Von der Gleichheit einer Ware mit einer einzigen anderen in ihrem Wert führt der Wiederaufstieg zum Konkreten, zum Tauschwert oder dem Austauschverhältnis der Waren insgesamt als der „Erscheinungsform des Werts" zurück.

Als paradigmatisch im Sinne des Wiederaufstiegs vom Abstrakten zum Konkreten kann das im dritten Abschnitt behandelte gelten, der Wiederaufstieg im Wertverhältnis von seiner einfachen Form bis zur entwickelten allgemeinen Wertform. Einer Ware A, die in der relativen Wertform betrachtet wird, steht eine Ware B gegenüber, deren Form als Äquivalentform zu bestimmen ist. Auf der Seite der Ware A zeigt sich, daß die quantitativen Bestimmungen grundlegend sind. Von der einfachen Einheit der relativen Wertform wird über die Vielheit zur Allgemeinheit fortgeschritten. Eine, viele bzw. alle Waren bilden einen relativen Wert, der in anderen Waren ausgedrückt werden kann. Die Ware B, die als einzelne einer einfachen anderen als Äquivalent dient, wird zur besonderen Ware, die gegen viele andere getauscht werden kann: Ware B gegen Ware A oder gegen Ware C oder gegen Ware D usw. Schließlich zeigt sich, daß jede Ware die Qualität annehmen kann, für alle anderen als allgemeines Äquivalent zu dienen.

Welche Beschaffenheit liegt aber vor, wenn ein allgemeines Äquivalent für alle Waren gebildet wird. Der „qualitative Gehalt der relativen Wertform"(55) ist allein durch das darin steckende Quantum gesellschaftlich notwendiger Arbeit, d.h. durch eine Quantität zu begründen. Die damit gegebene Qualitätslosigkeit der Ware A bewirkt auf der Seite der Äquivalentform, daß sich alle Qualitäten der Tauschobjekte in quantitative Verhältnisbestimmungen verkehren. So kann schließlich eine Allgemeinheit entstehen, die auf der universellen Teilbarkeit der Waren in einfache Quanta beruht. Der Übergang von der allgemeinen Wertform zur „Geldform" bringt dann logisch keinen Fortschritt mehr. Das Gold oder andere Edelmetalle sind lediglich deshalb besonders geeignet, die Rolle des allgemeinen Äquivalents zu übernehmen, weil sie durch ihre materielle Beschaffenheit dauerhaft in handliche größere oder kleinere Stücke geteilt werden können.

Das Entscheidende ist aber nun, wie auf jeder dieser Stufen das Verhältnis der Waren in der relativen Wertform zu den anderen Waren in der Äquivalentform bestimmt wird. Ware A und Ware B, damit sie gegeneinander getauscht werden können, müssen gleich und auch ungleich sein. Ihrer Identität im Wert steht ihre Nichtidentität in der Menge gegenüber: x Ware A = y Ware B. Sie sind, in der Formulierung von Marx, „sich wechselseitig bedingende unzertrennliche Momente, aber zugleich einander sich ausschließende oder entgegengesetzte Extreme ... desselben Wertausdrucks." Wenn viele Waren gegen besondere getauscht werden können, bringen sie das Verhältnis der Identität von Entgegengesetzten zur Entfaltung. In dieser Hinsicht bildet die entfaltete Wertform eine Negation der einfachen. Weil aber jede besondere Ware in der Äquivalentform gegen besondere andere getauscht werden kann, indem sie als eine der vielen Waren in relativer Wertform betrachtet wird, werden die qualitativen Unterschiede wieder gleichgültig. Die entfaltete Wertform hebt sich so in die höher entwickelte Form des Warentauschs auf. Die allgemeine Wertform, die alle besonderen Qualitäten in quantitativen Wertverhältnissen ausdrückt, läßt die Arbeitsprodukte erst als „bloße Gallerten unterschiedsloser menschlicher Arbeit"(56) erscheinen: alle Waren in der relativen Wertform setzen sich eine Ware gegenüber, die sie von sich ausschließen und als ihr allgemeines Äquivalent verselbständigen.

So besteht zwischen allen Waren und der einen von ihnen ausgeschlossenen das Verhältnis des Widerspruchs. Weil aber jede Ware die Funktion des allgemeinen Äquivalents übernehmen kann, enthält jede in sich den Widerspruch, von allen anderen als allgemeines Äquivalent ausgeschlossen zu sein.

Der Grundwiderspruch der gesellschaftlichen Verhältnisse einer warenproduzierenden Gesellschaft erweist sich so als der Widerspruch in den Waren, die als qualitativ besondere darauf reduziert werden, daß im quantitativen Verhältnis eine von allen ausgeschlossen und gegen alle tauschbar gemacht werden kann. Die Verkehrung, die dabei passiert, ist in logischer Hinsicht nicht als eine Verdinglichung menschlicher Verhältnisse, sondern als Entqualifizierung der Dinge selber zu bestimmen. Der „Fetischcharakter der Ware,"(57) der so entsteht, berührt darauf, daß die einzige Qualität der Ware im Tauschakt ihr quantitatives Verhältnis ist. Dies schließt eine Verkehrung der menschlichen Verhältnisse in Verhältnisse von Dingen zueinander ein, weil die konkret nützliche, auf die Produktion von qualitativ bestimmten Gebrauchsgütern gerichtete Arbeit keine gesellschaftlich relevante Rolle mehr spielt.

Mit der Erscheinung des „Fetischcharakters der Warenwelt" und seiner Aufdeckung schließt das erste Kapitel des „Kapital." Unsere Untersuchung des methodischen Gangs, in dem Marx über die Analyse zur theoretischen Reproduktion konkreter Verhältnisse gelangt, sollte einen ersten Einblick vermitteln, wie Marx logisch-dialektische Kategorien so einsetzt, daß ihr systematischer Zusammenhang vom Praxisprozeß selbst vorgegeben und bestimmt wird. Die wichtigsten Kategorien der dialektischen Untersuchung der Warenstruktur haben wir zur Veranschaulichung in einer Skizze zusammengefaßt. Auf der Grundlage dieses Schemas ist es auch möglich, sich die gesamte dialektische Struktur des „Kapital" anzueignen, wenn der innere Zusammenhang der einzelnen Kapitel des dreibändigen Werks analysiert wird.

ANMERKUNGEN

1) Marx, Briefe über das Kapital, S. 79.
2 Hegel, Rechtsphilosophie (= Rph. § 261-271). Marx, „Hritik des Hegelschen Staatsrechts," MEW, vol. i, S. 203-217.
3) Rph. § 262, zitiert nach Marx, „Kritik des Hegeischen Staatsrechts," S. 205.
4) Marx, „Kritik des Hegelschen Staatsrechts," MEW, vol. l, S. 206.
5) a.a.O., S. 211.
6) a.a.O., S. 205-206.
7) a.a.O., S. 207, Einfügung im Zitat von den Verfassern.
8) a.a.O., S. 210, S. 212.
9) a.a.O., S. 204-205.
10) a.a.O., S. 216.
11) a.a.O., S. 213.
12) Marx, „ökonomisch-philosophische Manuskripte" (1844), MEW, Erg. Band I, 582 ff.
13) a.a.O., S. 587.
14) a.a.O., S. 582-584.
15)
a.a.O., S. 584.
16)
a.a.O., S. s 14.
17)  a.a.O., S. 583.
18)
a.a.O.,471 If.
19) a.a.O., S. 520.
2
0 a.a.O., S. 513.
21) Marcuse, „Neue Quellen zur Grundlegung des historischen Materialismus," in: Ideen zu einer kritischen Theorie der Gesellschaft, S. 10-13.
22) Marx, „Manuskripte," S. 557.
23) Marx, „Thesen über Feuerbach," MEW, vol. 3, S. 7 11.These).
24) a.a.O.1.These, S.5.
25) a.a.O., „6. These," S. 6.
26)
a.a.O., „8. These." S. 7.
27) a.a.O., „10. These," S. 7-
28) Marx/Engels, „Die deutsche Ideologie," MEW, vol. 3, S. 20.
29) a.a.O.,S. 30(Fußnote).
30) a.a.O., S. 45
31) a.a.O., S. 73
32) a.a.O., S. 74. S.50
33) a.a.O., 50 ff
34) a.a.O., S. 74-77
35) Marx, „Das Elend der Philosophie," MEW, vol. 4.6? ff.
36) a.a.O., S. 163.
37) a.a.O., S. 129.
38) a.a.O., S. 128.
39) a.a.O., S. 127-128.
40)
a.a.O., S. 130-131
41) a.a.O.,S. 131-133
42) a.a.O., S. 159
43 a.a.O., S. 140-141
44) Marx, „Manuskripte," 530 ff.
45) Marx, „Das Eilend der Philosophie," 139 ff
46 Ebenda
47) Marx, „Einleitung in die Kritik der politischen Ökonomie," MEW, vol. 13, S. 631.
48) a.a.O., S. 632
49) Marx, „Nachwort zur zweiten Auflage des 'Kapital.'" MEW, vol. 23, S. 27
50) Engels, „Karl Marx 'Zur Kritik der politischen Ökonomie.'" MEW, vol. 13, S. 469,475
51) Marx, „Einleitung," S. 638.
52) Engels, Karl Marx, „Zur Kritik .. .," MEW, vol. 23, S. 475.
53) Marx, „Das Kapital," vol. i, MEW, vol. 23, S. 49-85- Die Ausführungen dieses Abschnitts stützen sich auf Kimmerle, Paradigma des Logik des revolutionären Denkens.
54) a.a.O., S. 62. " a.a.O., S. 64. 54 a.a.O., S. 81. 57 a.a.O., S. 85-98-

Editorische Anmerkungen

Der Aufsatz ist das 2. Kapitel des Buches: Modelle der materialistischen Dialektik - Beiträge der Bochumer Dialektikarbeitsgemeinschaft, hrg. von Heinz Kimmerle, Den Haag 1978, S. 33-54

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