Produktion und Klassenkampf (1)
Zum Problem der Marxschen Krisentheorie

von Hans-Jürgen Krahl
12/06

trend
onlinezeitung

Die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie als eine Lehre, deren Aussagen die Gesellschaft unter dem Aspekt ihrer Veränderbarkeit konstruieren, hat zweierlei revolutionstheoretischen Sinn. Zum einen entschleiert sie hochverschleierte gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse und falsche Bewusstseinsformen; Modell dieses Vorgehens ist die Warenanalyse und das Aufzeigen des Fetischcharakters der Waren. Zum zweiten soll sie die geschichtliche Dynamik, die gesellschaftliche und geschichtliche Entwicklungsobjektivität des kapitalistischen Geschichtsverlaufs darlegen, deren revolutionstheoretischer Sinn die Konstruktion der kapitalistischen Gesellschaftsformation als eines quasi naturgesetzlichen Krisenzusammenhangs ist. Die Krise gilt Marx als die objektive Bedingung revolutionärer Situationen. In ihr entäußern sich der Widerspruch und die Krise, die das Kapital ins Leben rief. Die ursprüngliche Akkumulation - der terroristische Enteignungsprozess der kleinen Landeigentümer und die Verwandlung des Ackerlandes in Weideland, die Konstitution der großen absolutistischen Monarchien, deren außerökonomische Zwangsgewalt von direkter ökonomischer Potenz in jener Zeit ist - ist die erste Krise, die das Kapital ins Leben rief, und vom selben Typus wie die, die ihm auch ein Ende bereiten wird. Denn das Kapital ist ab ovo mit dem Widerspruch von gesellschaftlicher Arbeit und privater Aneignung, von Privatarbeit und schon der Tendenz nach sich durch Konzentration und Zentralisation vergesellschaftendem Eigentum behaftet. Dieser Widerspruch zwischen Vergesellschaftung und privater Aneignung treibt das Kapital jeweils in die Krisen hinein und eröffnet dem Proletariat die Möglichkeit, die in der ursprünglichen Akkumulation terroristisch verinnerlichten Arbeitszeit- und Mehrarbeitszeitnormen zu durchschauen, eine Erinnerung an Ausbeutung wiederzugewinnen und damit die scheinbare Naturgesetzlichkeit der kapitalistischen Entwicklung, Fetischisierung, Mystifikation und Verdinglichung zu durchschauen und zu durchbrechen.

Die Frage ist, ob Marx mit seinem Modell der Krise - denn jede Krise soll tendenziell Zusammenbruch des Kapitals sein, wie es die historische Reproduktion des Kapitals auf erweiterter Stufenleiter aufs neue besorgt- die Frage also ist, ob das Marxsche Modell der Krise wirklich die Vermittlung zwischen der Kritik der politischen Ökonomie als einer revolutionären Theorie der Gesellschaft, die falsche Bewusstseinsformen aufdeckt, und jenen krisenhaften Unterbrechungen des Produktionsprozesses, den Naturkatastrophen der ökonomischen Entwicklung, leistet, ob diese Kritik der politischen Ökonomie zu einer Theorie der Revolution wirklich vermittelt worden ist? Unter den Herrschaftsbedingungen des Spätkapitalismus, unter hochverschleierten Herrschaftsverhältnissen, deren Verschleierung keineswegs mehr allein auf einer mit ideologischer Legitimationskraft ausgestatteten Zirkulationssphäre beruht, müssen alle Fragen einer Rekonstruktion revolutionärer Theorie und von Revolutionstheorie zurückgreifen auf Marx und das Verhältnis von Produktion und Klassenkampf in der Marxschen Theorie selber problematisieren. Das Problem also, um das es geht, ist das Verhältnis von Produktion und Klassenkampf; das Verhältnis von Kritik der politischen Ökonomie als einer kritischen Theorie der kapitalistischen Produktion und des Historischen Materialismus als einer Theorie der Revolutionen und Klassenkämpfe ist problematisch geworden. Diese Problematik ist nicht angelegt in der Marxschen gattungsgeschichtlichen Konstruktion des Verhältnisses von Produktion und Klassenkampf. Produktion ist das Prinzip von Geschichte, gleichwohl soll alle Geschichte Marx und Engels zufolge eine Geschichte von Klassenkämpfen sein. Der Klassenkampf ist die gewaltsame und selbst noch vorgeschichtliche Erscheinungsform dieses Geschichtsprinzips. Der Klassenkampf stellt jeweils eine transitorische Phase des Übergangs von Vorgeschichte in Geschichte dar. Produktion als das Prinzip von Geschichte hat den Doppelcharakter von Arbeit und Arbeitsteilung. Produktion ermöglicht überhaupt erst den Menschen ein aktivisches Verhältnis zur Natur zu entwickeln und bedeutet, dass die Menschen imstande sind, sich auf dem Boden der Natur von dieser Natur selber zu emanzipieren. Produktion ist also ab ovo mit einem Emanzipationsindex versehen. Als Prinzip von Geschichte kommt es aber überhaupt erst in diesem Hegeischen Sinn zur Entfaltung, wenn erstens die Produktionsmittel selber Produktencharakter angenommen und zweitens die Eigentumsverhältnisse nicht mehr die Gestalt persönlicher Knechtschaften, sei es Sklavenhaltergesellschaft, sei es Leibeigenengesellschaft haben. Dieser historische Charakter der Produktion entäußert sich daher erst mit der kapitalistischen Gesellschaftsformation. Hier sind die Produktionsmittel nicht mehr die von den Menschen ungemachte Erde, sondern die von den Menschen selbst gemachten Maschinen. Zum zweiten haben sich die Eigentumsverhältnisse derart entpersonalisiert, dass der Arbeiter, der unmittelbare Produzent, nicht mit Haut und Haaren, Leib und Seele als Sklave dem Herrn oder als Leibeigner dem Feudalherrn gehört, sondern durch freien Arbeitsvertrag seine Arbeitskraft als Ware verkauft. Nulle terre sans seigneur, sagt Marx, aber l'argent n'a pas de maTtre. Diese Entpersonalisierung von Herrschaft ist ein erster Schritt wirklicher Emanzipation. Er macht die ambivalente Freiheit des freien Arbeiters aus, der frei ist von der persönlichen Knechtschaft, der Leibeigenschaft, und der frei ist von allen materiellen Produktion und Klassenkampf Subsistenzmitteln, so dass diese Freiheit die Gewalt und den Zwang auf ihn ausübt, seine Arbeitskraft als Ware auf dem Markt verdingen zu müssen. Produktion als Prinzip von Geschichte kommt also der Marxschen Konstruktion zufolge mit der kapitalistischen Gesellschaftsformation zur offenen Entfaltung, weil sich die Produktionsmittel historisiert haben und auch schon die Eigentumsverhältnisse sich historisiert und entpersonalisiert haben. Aber die historische Verfassung der kapitalistischen Gesellschaftsformation revoziert sich permanent zur Vorgeschichte; Geschichte selbst verdinglicht zur zweiten Natur der kapitalistischen Gesellschaftsformation. Das zweite Moment, das Marx entfaltet, ist das der Klassenkämpfe. Die Klassenkämpfe, also Gewalt, sind eine bloße — und deshalb auch abschaffbare— Erscheinungsform von Produktion. Sie deuten an, dass die Produktion immer noch nicht in freien Verhältnissen, in einer Assoziation freier Menschen organisiert worden ist, sondern dass die Produktionsverhältnisse selbst noch den Charakter von Vorgeschichte haben. Zugleich aber impliziert die Gewalt der Klassenkämpfe ihre Selbstaufhebung, d.h. jeder Klassenkampf stellt ein Stück Umsetzung von Vorgeschichte in Geschichte dar, sofern er siegreich für die Unterdrückten, die sich auflehnen, ausgeht. Dieses Verhältnis von Produktion und Klassenkampf, wie Marx es gattungsgeschichtlich entfaltet hat, steht hier nicht zur Debatte, sondern drei Punkte, die die Bedingungen von Revolution und die Konstruktion einer Theorie der Revolution unter hochverschleierten kapitalistischen Herrschaftsverhältnissen anbelangen, sollen hier diskutiert werden:

1. Das Verhältnis von bürgerlicher und proletarischer Revolution in der Lehre von Marx und damit die Frage, ob Marx einen adäquaten historischen Begriff proletarischer Revolution sich erarbeiten konnte.

2. Das Verhältnis von gesellschaftlichem Sein und Bewusstsein in der Lehre von Marx oder, ökonomiekritisch präzisiert, das Verhältnis von begrifflicher Wertabstraktion und ihrer Verdinglichung zur Wertform zum Arbeitsteilungsverhältnis der abstrakten Arbeit, d.h. die Identifikation von ökonomischen Kategorien mit praktischen gesellschaftlichen Existenzbestimmungen, wie Marx sie in der Einleitung zum Rohentwurf vornimmt. Dieser zweite Punkt soll also das Verhältnis von gesellschaftlichem Sein und Bewusstsein, Wertabstraktion und Arbeitsteilungsverhältnis abstrakter Arbeit, Kategorie und gesellschaftlicher Realität behandeln (2).

3. Dieser Punkt bezieht sich auf den Begriff der Arbeit. den Marx in der Kritik der politischen Ökonomie, vor allem im Kapital und den Theorien über den Mehrwert, entfaltet. Er soll problematisieren ob es Marx gelungen ist, die Dialektik der Arbeit, nämlich gesellschaftliche Arbeit, nicht nur als kapitalverwertendes Unglück zu bestimmen, sondern auch als kapitalnegatorische Produktivkraft der Emanzipation, ob also bei Marx ausgewiesen ist, dass die Produktivkräfte als solche ebensoviel Emanzipationsmittel darstellen. D.h. ist es Marx gelungen, die Emanzipationskraft der Arbeit in systemkritischer Form in die Kritik der politischen Ökonomie metakritisch zu integrieren und so ein Vermittlungsglied zu entfalten zur Konstitution des Klassenkampfes, der revolutionären Subjektivität des organisierten Proletariats? (3)


Ad l. Marx geht historisch richtig von dem Sachverhalt aus, dass die Revolutionen, die er beschreibt, historisch noch als bürgerliche Revolutionen progressiv beginnen, aufgrund der faktischen Macht des Proletariats und der ökonomischen Entwicklung des Tauschverkehrs und relativ hoher organischer Zusammensetzung des Kapitals schon in konterrevolutionäre umzuschlagen drohen und deshalb in proletarische transformiert werden müssen. Anders gesagt: die historische Situation, die Marx als revolutionäre Situation darlegt, muss noch von dem Sachverhalt eines revolutionären Bürgertums, das die politische Macht im Staate noch nicht sich hat erkämpfen können, ausgehen. Obwohl die bürgerliche Gesellschaft ökonomisch als System der Bedürfnisse, d.h. als System des gerechten Äquivalententauschs und wachsender organischer Zusammensetzung des Kapitals schon relativ hoch entwickelt ist, ist dieses Bürgertum gleichwohl noch nicht voll zur politischen Macht gelangt und muss noch feudale und absolutistische Überreste beseitigen. Der Begriff der Revolution, wie er sich Marx durch praktische Anschauung entfaltete, ist somit gewonnen aus jenen Revolutionen, die der Restauration der großen französischen Revolution folgten, der Wiedergewinnung der Dimension von Klassenkämpfen des progressiven französischen Bürgertums. Die französische Realität der Revolutionen von 1830 bis 1871 ist für Marx zum Grundmodell sozialrevolutionärer Entwicklungen im 19. Jahrhundert geworden. D.h., wovon Marx ausgeht, ist der Sachverhalt, dass die Revolutionen — sowohl die Klassenkämpfe in Frankreich (4) und die Konterrevolution des 18. Brumaire Louis Bonapartes als auch die proletarische Revolution der französischen Kommune — historisch keine vom Proletariat gemachten, sondern vom Bürgertum vorgegebene Tatsachen sind. Für Marx kommt die Vorstellung, historisch-genetische Bedingungen subjektiver Art des Entstehens von Revolutionen, der Bildung von Klassenbewusstsein und der Konstitution von Organisationen anzugeben, überhaupt nicht auf. Die Revolutionen, die Klassenkämpfe sind immer schon aktualisiert und nie in der Latenz. Es ist das Bürgertum, das sie produziert, und es ist das Proletariat, das sie zu transformieren hat. Marx steht also vor dem Problem, den immer schon aktualisierten bürgerlichen Klassenkampf, die Präexistenz der bürgerlichen Revolutionen in proletarische Revolutionen zu transformieren. Dieser Sachverhalt historischer revolutionärer Situationen hat in der Geschichte Modifikationen erfahren. Lenin geht ebenfalls von einer bei ihm nicht voll durchschauten Dialektik von bürgerlicher und proletarischer Revolution aus, die so aussieht, dass im industriell zurückgebliebenen Russland, das die Phase der ursprünglichen Akkumulation noch nicht voll durchlaufen, gleichwohl zum Teil schon hochmonopolisierte Industriebetriebe hat, unter Umgehung eines sich etablierenden herrschaftsverschleiernden bürgerlichen Tauschverkehrs und damit unter Umgehung der bürgerlichen Verkehrsformen die bürgerliche Revolution gegen das absolutistische, zaristisch-autokratische System schon in ihrem ersten Ansatz in eine proletarische Revolution, im Bündnis mit der großen Masse der Bauern, sollte transformiert werden können. Während wir in spätkapitalistisch-verschleierten Herrschaftsverhältnissen vor dem Problem stehen, die Abwehrkämpfe gegen faschistische Entwicklungstendenzen der spätkapitalistischen Herrschaft in proletarische Revolutionen transformieren zu müssen.
Im Hinblick auf die Marxsche Dialektik von bürgerlicher und proletarischer Revolution muss man feststellen: so richtig Marx von der historischen Erkenntnis und praktischen Anschauung ausgeht, dass die Revolutionen vom Proletariat nicht gemachte, sondern vom noch progressiven Bürgertum vorgegebene Tatsachen sind, in denen das Bewusstsein des Proletariats klassenspezifisch sich sollte herausbilden können, so sehr apriorisiert er die Dialektik von bürgerlicher und proletarischer Revolution. Anders gesagt: er projiziert die naturgesetzliche Kontingenz und Verlaufsform der bürgerlichen Revolution auf die soziale Basis der Revolutionen des 19. Jahrhunderts. So sehr er im 18. Brumaire die Differenz zwischen bürgerlicher und proletarischer Revolution feststellt, nämlich die, dass alle bürgerlichen Revolutionen um ihrer Legitimation willen eine Totenbeschwörung der Vergangenheit zu sein und sich ins Gewand vergangener Revolutionen zu kleiden hätten, so wie die große französische Revolution Rom heraufbeschwor und sich ins Gewand der Antike kleidete, so sehr projiziert Marx doch noch den blind-naturgesetzlichen Verlauf bürgerlicher Revolutionen auf die dem nicht angemessene Bewusstseinsverfassung einer Verlaufsform proletarischer Revolution. Anders gesagt: er selbst wird seinem Desiderat, dass die Menschen, d.h. das Proletariat, in der sozialen Revolution lernen sollen, mit Bewusstsein Geschichte zu machen, nicht gerecht. In Wirklichkeit setzt sich bei ihm das Klassenbewusstsein als naturwüchsige Spontaneität hinter dem Rücken und über die Köpfe der Proletarier hinweg durch. Klassenbewusstsein bildet sich gleichsam nach der metaphysischen Logik des Weltgeistes. Die Heteronomie schon der zweiten Natur verlängert sich m dieser Vorstellung der Klassenkämpfe selber. Die vorgegebene bürgerliche Revolution verstellt Marx den Blick auf die historisch-genetischen Entstehungs- und Bildungsbedingungen von Klassenbewusstsein und Klassenorganisation des Proletariats. Eine objektive Dialektik von Widersprüchen, eine objektive Verlaufsform der Desillusionierung des zunächst mit dem Bürgertum kämpfenden Proletariats soll naturwüchsig Klassenbewusstsein herausbilden. Marxens Theorie des Klassenkampfes apriorisiert die historische Dialektik von bürgerlicher und proletarischer Revolution zu einer Metaphysik des Klassenbewusstseins als Weltgeist. In der Interaktion von Bürgern und Proletariern — sei es der koexistenten und koalierenden Interaktion, sei es der sich gegeneinander bekämpfenden—soll sich als spontane Erfahrung Klassenbewusstsein herausbilden. So Richtiges an dieser Vorstellung ist, so falsch ist ihre Generalisierung, die sie implizit und unausgesprochen bei Marx erfahren hat. Es ist nicht zufällig, dass nach dem Untergang der Republik der Arbeit, der Kommune von 1871, Marx revolutionstheoretisch nichts mehr zu sagen weiß. Die Kritik des Gothaer Programms geht von der Tatsache der Revolution a priori aus und beschreibt wie immer auch problematische Transformationsbedingungen in die sozialistische und kommunistische Gesellschaft. Aber die Frage nach der Genesis der Revolution fällt aus der Reflexion der Marxschen Theorie der Klassenkämpfe im Ganzen heraus. Revolutionäres Bewusstsein bildet sich vielmehr in der Interaktion mit dem revolutionären Bürgertum und den Frustrationen, Enttäuschungen und Desillusionierungen, die das der Ideologie der Nationalität verfallene Proletariat durch das schließlich zur Macht gelangte Bürgertum erleiden muss. Diese objektive Dialektik von bürgerlicher und proletarischer Revolution, die letztinstanzlich objektive, d.h. aus der blinden Aktion der Menschen aufeinander in dieser Revolution entstehende Klassenbewusstseinsbedingungen entfalten soll, wird von Marx latent und unausgesprochen in eine Metaphysik verwandelt. Eine historische Dialektik wird in eine apriorische Dialektik transformiert. Die proletarische Revolution unterscheidet sich ihrer Verlaufsform nach nicht von der bürgerlichen Revolution. Diese Unterscheidung wäre aber an der Art des Bewusstseins festzumachen; bürgerliche Revolutionen sind primär politische, sie sind sehr viel mehr der zweiten Natur verhaftet, ja, sie konstituieren allererst zweite Natur, ihre Verlaufsform muss kontingent sein, während die Verlaufsform proletarischer Revolutionen Aufhebung der Kontingenz und des falschen Bewusstseins sein muss. Erst in der proletarischen Revolution lernen die Menschen wirklich mit Bewusstsein Geschichte zu machen. Das ist in Marxens Programmatik enthalten, in der materialen Analyse aber untergegangen. Das bedeutet also, dass Marx die Kontingenz der zweiten Natur, wie sie in bürgerlichen Revolutionen sich entfaltet, auf die Verlaufsform proletarischer Revolutionen überträgt. Von daher konnte Marx nicht zu einer adäquaten Klassenkampftheorie der Bewusstseins- und Organisationsbildung gelangen. Marx hat aufgrund der historischen Vorgegebenheit der bürgerlichen Revolution, die sich ihm unter der Hand in eine apriorische Transzendentalität verwandelt, keinen adäquaten Begriff proletarischer Subjektivität im revolutionären Klassenkampf entfalten können, und historisch-genetische Entstehungsbedingungen von Klassenbewusstsein und Organisation konnten ihm überhaupt nicht zum Problem werden. Die noch progressive bürgerliche Revolution verstellt ihm den Blick auf die Bewusstseinsformen und praktischen Verlaufsformen der sozialen proletarischen Revolutionen des 19. Jahrhunderts. Nicht zufällig sind von daher bürgerliche Emanzipationsvorstellungen in die politische und historische Vorstellungswelt zumal der deutschen Arbeiterklasse gerade unterm Begriff des gerechten Lohns eingedrungen. Resume dieses ersten Punktes wäre dies: Karl Korschs später Vorwurf gegen Marx, dieser sei noch zu sehr am Begriff bürgerlicher Revolutionen, am Bezugsrahmen der französischen Revolution orientiert, ist gerechtfertigt. So sehr Marx historisch richtig von der Vorgegebenheit der bürgerlichen Revolution ausgeht und sich das Problem stellt: wie sind bürgerliche in proletarische Revolutionen zu verwandeln?, so falsch hat er es letztinstanzlich in seinen materialen Analysen gelöst; vielmehr projiziert er die Verlaufsform bürgerlicher Revolutionen auf die Verlaufsform proletarischer Revolutionen.

Das zweite Argument führt aus der geschichtsphilosophisch-klassentheoretischen Diskussion, die der erste Punkt enthalten hat, über auf eine erkenntnistheoretische Fragestellung. Es bezieht sich auf das Verhältnis von gesellschaftlichem Sein und Bewusstsein, von Wertabstraktion und abstrakter Arbeit, kategorialer Realität und Kategorie in der Lehre von Marx. Eines muss vorweg erörtert werden. Die erste erkenntnistheoretische Problematisierung des Verhältnisses von Produktion und Klassenkampf im Marxismus hat sicherlich in produktiver Fragestellung Jürgen Habermas entfaltet. Habermasens erkenntnistheoretisches Argument gegen Marx bezieht sich bekanntlich darauf, dass Marx zwar in seinen materialen Analysen einen adäquaten Begriff gesellschaftlicher Praxis enthalte, der beide Momente gesellschaftlicher Praxis umfasse, nämlich Arbeit, das Subjekt-Objekt-Verhältnis des Stoffwechsels zwischen den Menschen und der Natur, und Interaktion, das ist das Intersubjektivitätsverhältnis der gesellschaftlichen Individuen, der miteinander verkehrenden und gegeneinander agierenden Einzelsubjekte untereinander. Habermas wirft Marx aber vor, dass er auf kategorialer Ebene diesen Doppelcharakter der gesellschaftlichen Praxis auf das eine Moment der Arbeit reduziere, die Habermas nach der Logik instrumentalen Handelns in einem anthropologischen Sinne, der sich ihm aus kritischer Reflexion auf Gehlen überliefert, auffasst. Habermasens konzentrierter Vorwurf gegen Marx ist der, dass Marx auf der kategorialen Ebene erkenntnistheoretischer Selbstreflexion den Konstitutionsprozess der Menschengattung auf instrumental-technische Arbeit reduziere. Dieser Vorwurf ist zu prüfen. Ich glaube, dass drei Argumente gegen Habermasens Kritik sprechen und dass an dieser Stelle die erkenntnistheoretische Problematisierung eines kategorialen Verhältnisses zwischen Produktion und Klassenkampf in der kapitalistischen Gesellschaft vorzunehmen ist. Erstens: der Habermassche Begriff der Interaktion als Intersubjektivitätsbegriff enthält eine von Habermas verschwiegen vollzogene Entmaterialisierung des materialistischen Praxisbegriffs, wie Marx ihn auf materialer und kategorialer Ebene entfaltet. Auf Seite 59 von »Erkenntnis und Interesse« legt Habermas seine Kritik noch einmal in konzentrierten Sätzen vor. Hier wird eine entscheidende Gleichsetzung vorgenommen. Arbeit wird identifiziert, wie oben erwähnt, mit instrumentalem Handeln und, wenn man so will, der Logik der Technik. Interaktion wird identifiziert mit umwälzender Praxis; umwälzende Praxis wiederum mit Reflexion und Ideologienkritik. Der Begriff der gegenständlichen Tätigkeit, wie ihn Marx kritisch aus einer Synthesis des traditionell-kontemplativen Materialismus und des aktivisch, aber nicht sinnlich-tätigen Idealismus in der ersten Feuerbachthese entfaltet, soll sich bei Marx keineswegs, wie Habermas unterstellt, auf Arbeit als instrumentales Handeln des unmittelbaren Stoffwechsels zwischen den Menschen und der Natur beschränken, sondern zugleich auch das Verhältnis der miteinander verkehrenden Subjekte umfassen, sowohl das Verhältnis der miteinander verkehrenden Subjekte, also jener Individuen, denen das andere Individuum nicht als Subjekt, sondern als Objekt verdinglicht begegnet, als auch auf das emanzipierter Subjekte. Denn das andere Subjekt ist immer auch nicht nur bloßes Subjekt, sondern auch ein anderes materiales Objekt. Gegenständliche Tätigkeit umfasst also bei Marx die beiden Elemente gesellschaftlicher Praxis, nämlich Arbeit und — an dieser Stelle sage ich statt Interaktion — Arbeitsteilung als der jeweiligen Verkehrsbasis der Gesellschaft. Interaktion ist ein Begriff, der gewonnen wurde aus den Vorstellungen der »cultural anthropology« und den Habermas überträgt auf das Modell der in sich verkehrenden Subjektivität in der Jenenser Realphilosophie Hegels. Interaktion reduziert den gesellschaftlichen Verkehr der Menschen untereinander — so wie Habermas diesen Begriff bestimmt — der Tendenz nach auf bloß sprachliches Handeln. Seiner eigenen politischen Vorstellungswelt folgend und wissenschaftstheoretisch in der Adaption positivistischer Sprachanalytiken und hermeneutischen Sinnverstehens begründet, folgt Habermas der Logik des Parlamentarismus. So wie im »Strukturwandel der Öffentlichkeit« immer noch eine immanente und nicht bestimmt negierende Orientierung an der parlamentarischen Öffentlichkeit, des liberalen Tauschverkehrs, der Rechtsinstitutionen und politischen Dezisionsinstitutionen vorliegt, so begründet Habermas diesen Parlamentarismus, den er utopisch als herrschaftsfreien Dialog auch auf die Vorstellungswelt einer künftigen, vernünftig eingerichteten Gesellschaft verlängert, auch erkenntnistheoretisch, insofern er revolutionäre Praxis auf Ideologiekritik, Reflexion und schließlich sprachliches Handeln reduziert. Das bedeutet ein bürgerlich aufklärerisches Modell revolutionärer Praxis, in dem die Frage nach emanzipativer Gewaltanwendung, nach dem Verhältnisder Aufhebung von Gewalt und progressiver Anwendung von Gewalt, illegitim geworden ist. Das bedeutet: Habermasens Entmaterialisierung revolutionärer Praxis der Tendenz nach zum sprachlichen Handeln revoziert anachronistische Vorstellungen der bürgerlichen Aufklärung. Auch hier geschieht eine Verbürgerlichung des Revolutionsbegriffs, die um so folgenreicher ist, als unter den Bedingungen der technologischen Reduktion des Sprachverhaltens nach Maßgabe instrumentalisierter Subjekt-Objekt- Verhältnisse aufklärerischer Parlamentarismus und bürgerliche Aufklärung eine historische Unmöglichkeit geworden sind.
Um dieses erste Argument noch einmal zusammenzufassen: Produktion meint also bei Marx immer Arbeit und Arbeitsteilung. Arbeit, das Subjekt-Objekt-Verhältnis zwischen den Menschen und der Natur, ist keineswegs bloß nach der Logik instrumentalen und technologisierten Handelns aufzufassen; dies ist vielmehr ein sehr spätes Stadium der kapitalistischen Entwicklung. Zweitens meint Produktion Arbeitsteilung; denn Arbeit ist überhaupt nur als geteilte Arbeit in diesem Sinne denkbar. Arbeitsteilung ist die Verkehrsbasis einer jeweiligen Gesellschaftsformation; in ihr sind, wie an anderer Stelle allerdings neu zu problematisieren wäre, symbolische Interaktion, also gesellschaftliches Sprachverhalten, und gegenständliche Tätigkeit der Menschen untereinander in »ursprünglicher Synthesis« integriert. Keineswegs hat Marx also einen Praxisbegriff, in dem das Moment der Interaktion herausfällt. Man muss vielmehr umgekehrt argumentieren: Habermas wirft Marx einen reduzierten und verengten Praxisbegriff vor, weil Interaktion als nicht gegenständliche, aber symbolisierende Tätigkeit, also kommunikatives Handeln, bei Marx im kategorialen Selbstverständnis aus dem Selbstkonstitutionsprozess der Gattung herausfalle und dieser erkenntnistheoretisch reduziert werde auf Arbeit als instrumentales Handeln. Wenn Habermas Marx einen verengten Praxisbegriff vorwirft, so muss man umgekehrt Habermas einen verengten Produktionsbegriff vorwerfen; denn er reduziert im kategorialen Selbstverständnis Produktion auf instrumentales Handeln und eliminiert aus ihm die Dimension des gegenständlich-kommunikativen Handelns der Arbeitsteilungsverhältnisse. D.h., Habermas kann Marx nur um den Preis eines verengten Produktionsbegriffs einen verengten Praxisbegriff vorwerfen, denn Produktion enthält Marx zufolge alle Elemente der gesellschaftlichen Praxis, das ist Subjekt-Objekt-Verhältnis und Intersubjektivität, Arbeit und Arbeitsteilung. Während Habermas den Produktionsbegriff auf ein intersubjektivitätsloses Subjekt-Objekt-Verhältnis instrumentalen Handelns, also eines instrumentalisierten Arbeitsbegriffs reduziert. Der Preis, den Habermas für eine solche Reduktion des Produktionsbegriffs zu zahlen hat, ist die Entmaterialisierung der Intersubjektivität, die Entmaterialisierung der Verkehrsformen, die er unter dem abstrakten Titel von Interaktion bezeichnet, nämlich die Entmaterialisierung revolutionärer Praxis, die Eliminierung der Problemstellungen von Gewaltanwendung und Klassenkampf zugunsten sprachlichen Verkehrs. Der Klassenkampf wird zum Reflexionsprozess, zur Ideologienkritik, zur bloßen Aufklärung. Auf der anderen Seite wäre gleichsam anmerkend hinzuzufügen, dass die Reduktion von Produktion und gesellschaftlicher Praxis insgesamt auf Arbeit auch eine kritische Tatsache der kapitalistischen Gesellschaftsformation ist. Denn die kapitalistische Gesellschaftsformation ist die erste — das hat Habermas sehr richtig eingesehen — in der Geschichte der menschlichen Produktion, in der die Legitimation der Herrschaft nicht mehr vom negativ ökonomisch bestimmten, kosmologischen Himmel metaphysischer und religiöser Werte herabgeholt wird. Ausdruck dieser neuen Legitimationsstruktur ist das revolutionäre Naturrecht des Bürgertums, so wie es von Thomas Hobbes über John Locke bis zu Immanuel Kant sich entfaltet hat. Die Reduktion auf Arbeit nach Maßgabe instrumentalen Handelns, die sich faktisch in der kapitalistischen Gesellschaftsformation vollzieht, nennt Marx abstrakte Arbeit. Abstrakte Arbeit als das grundlegende Produktion und Klassenkampf Arbeitsteilungsverhältnis und die Wertsubstanz der kapitalistischen Produktionsweise, ist jene Verkehrsform der Individuen untereinander, in denen ihr Verkehr selber nach der Logik der Naturbeherrschung organisiert wird.
Abstrakte Arbeit, und damit kapitalistische Herrschaft insgesamt, wie sich die Wertabstraktion über Rechtssubjektivität, citoyen, Staat und Kultur vermittelt, die repressive Wertabstraktion des Arbeitsteilungsverhältnisses der gegeneinander isoliert und privat arbeitenden Produzenten ist nichts anderes als die praktisch-ideologische Projektion der Logik der Naturbeherrschung der konkreten Arbeit auf die Herrschaft von Menschen über Menschen. Damit aber soll sich die Herrschaft von Menschen über Menschen als ebenso unvermeidlich und ebenso unabschaffbar darstellen, wie die Naturbeherrschung der konkreten Arbeit eine ewige Naturnotwendigkeit Marx zufolge ist. D.h., die Herrschaft von Menschen über Menschen nach Maßgabe des Privateigentums und des isolierenden Arbeitsteilungsverhältnisses der warenproduzierenden Tätigkeit abstrakter Arbeit ist die Projektion der Naturbeherrschung konkrete-Arbeit auf die Verhältnisse und Aktionen der Menschen unter- und aufeinander. Damit aber ist der revolutionäre Charakter der kapitalistischen Produktionsweise, wie Marx ihn als fortschreitende reelle Subsumtion der Arbeit unter das Kapital, vergesellschaftende Konzentrations- und Zentralisationstendenz und Produktion des relativen Mehrwerts beschreibt, gesetzt. Denn die auf die gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen untereinander projizierte Logik der Naturbeherrschung rejiziert in den konkreten Arbeitsprozess selber und vergesellschaftet diesen gleichsam in sich selbst. Abstrakte Arbeit ist das erste und einzige Produktionsverhältnis, das auf die Produktivkräfte und den unmittelbaren Arbeitsprozess selbst zurückschlägt, dergestalt dass allgemeine gesellschaftliche Produktivkräfte, wie Marx sie unter dem Namen der sozialen Kombination, der Kooperation, der verdinglichten Kooperation des Maschinensystems, der Wissenschaft und der Technik beschreibt, selbst unmittelbare Produktivkraft werden; dass also allgemein gesellschaftliche Produktivkräfte, wie Marx sie in den »Resultaten«, S. 60f., darstellt und die sich unmittelbar selbst dem gesellschaftlichen Verkehr verdankt haben, den Arbeitsprozess in sich selbst vergesellschaften. Der Arbeitsprozess wird also immer weniger der einsame Kontakt des Einzelnen mit dem Werkzeug und dem Rohstoff und immer mehr ein in sich selbst schon vergesellschaftetes System. Subsumtion der Arbeit unter das Kapital heißt, dass dieser an sich gesellschaftliche Charakter der kapitalistischen Produktionsweise, dass also die Verkehrsbeziehungen der Menschen untereinander in die unmittelbare Naturbeherrschung selbst eindringen, dass dieser an sich gesellschaftliche Charakter der kapitalistischen Produktionsweise privateigentümlich verschleiert wird. Eine Verschleierung, die allerdings mit dem Monopolkapital, wie es in der Organisationsform der Aktiengesellschaft als dessen Urtypus gleichsam anzusetzen ist, nicht mehr aufrechtzuerhalten ist, sondern wo der Widerspruch von an sich gesellschaftlichem Charakter und privateigentümlicher Erscheinungsform offen zur Erscheinung drängt.
Reelle Subsumtion der Arbeit unter das Kapital bedeutet zweierlei: erstens die fortlaufende Vergesellschaftung des Kapitals selbst, die Marx als Konzentrations- und Zentralisationstendenz in der Welt als Krisenzusammenhang beschreibt; zweitens die Vergesellschaftung der produktiven Arbeit auf dem Boden der Lohnarbeit selber, das bedeutet also soziale Kombination, Kooperation, verdinglichte Kooperation des Maschinensystems, Wissenschaft und Technik werden immer mehr zur primären Produktivkraft, Arbeitsteilungsverhältnisse werden immer mehr zur allgemeingesellschaftlichen Produktivkraft, die den privateigentümlich und privat organisierten gesellschaftlichen Verhältnissen, wie sie in der verdinglichten Arbeitszeit, der Geldform, der Ware sich ausdrücken, immer schneidender widersprechen. Kurz gesagt: Die Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen gilt im strengen Sinne überhaupt erst für die kapitalistische Produktionsweise, weil hier die Produktionsverhältnisse sowohl in ihrer privateigentümlichen Form eine fesselnde Macht der Produktivkräfte werden wie zugleich in ihrer sich vergesellschaftenden Form eine diese Produktivkräfte permanent revolutionierende Kraft. Diese Dialektik ist nur möglich, wenn die Produktionsverhältnisse selbst schon, a priori gleichsam, nach Maßgabe von sich technologisierender Naturbeherrschung ideologisch organisiert sind, das bedeutet, der Wert ist das a priori der technischen Vernunft, so wie abstrakte Arbeit die von ihren Trägern und der Naturbasisgelöste Naturbeherrschung ist. Herrschaft von Menschen über Menschen in der kapitalistischen Gesellschaftsformation ist idealisierte Naturbeherrschung, die heute erst als solche wirklich zur Erscheinung kommt, da die Wissenschaften immer mehr sich technologisch ins kapitalfixierte Maschinensystem umsetzen und auf diese Weise Herrschaft selbst offen als technologische und sozial-technische sich zum Ausdruck bringt. Die Reduktion des Konstitutionsprozesses der Gattung auf Arbeit ist also — im Gegensatz zu Habermas, muss man dazu historisch einführen — ein kritischer Sachverhalt der kapitalistischen Gesellschaftsformation. Wenn Habermas Marx vorwirft, den Konstitutionsprozess der Gattung auf Arbeit zu reduzieren, so wirft er Marx vor, was Marx der kapitalistischen Realität vorwirft, die diesen Reduktionsprozess in der Tat vollzieht. Hier haben wir zwei Argumente gegen Habermas zusammengefasst; diese beiden Argumente unserer ersten Argumentationsreihe gegen Habermas lauten:

1) Weil Habermas einen verengten Produktionsbegriff hat, der Arbeitsteilung, also Verkehrsformen, nicht unter den Begriff der gegenständlichen Tätigkeit fasst und somit Produktion 397Produktion und Klassenkampf auf Arbeit reduziert, kann er Marx einen verengten Praxisbegriff vorwerfen. Da er Verkehrsformen nicht in den Begriff der gegenständlichen Tätigkeit fasst, muss er zugleich Verkehrsformen und auch die Verkehrsform des Klassenkampfes entmaterialisieren und den Begriff revolutionärer Praxis mit Ideologienkritik und Reflexion, letztinstanzlich mit sprachlichem Handeln gleichsetzen, eine Reflexion, die sich ihm aus einer zu positiven und zu wenig kritischen Adaption hermeneutischen Sinnverstehens und positivistischer Sprachanalytiken verschiedenster Prägung ergeben hat.

2) Weil Habermas das Marxsche Prinzip der Geschichtsschreibung, die Gesamtgeschichte nur aus der Perspektive der entfaltetsten Gesellschaftsformation zu erklären, so wie die Anatomie des Menschen nicht aus der Anatomie des Affen sondern vice versa zu erklären sei und so wie also die vorkapitalistischen Gemeinwesen nur aus der Produktionsperspektive ;der entfalteten kapitalistischen Gesellschaftsformation negativ-identisch begriffen werden können, weil Habermas dieses Prinzip, mit Sartre zu sprechen, progressiv-retrospektiver Geschichtsschreibung vernachlässigt, behandelt er Marx wie einen gattungsgeschichtlichen Anthropologen, der die Geschichte ab ovo konstruiert. Das führt sowohl zu einer Instrumentalisierung wie zu einer Enthistorisierung des Arbeitsbegriffs, wenn man einsieht, dass dessen Instrumentalisierung, die doch wohl immer der Logik der industriellen Maschinenproduktion folgt, ein historisch spätes Produkt in der menschlichen Produktions- und Gattungsgeschichte ist, und führt dazu, dass er die faktische Reduktion von gesellschaftlichen Beziehungen, Verkehrsverhältnissen der Menschen untereinander auf Arbeit nicht als kritischen Tatbestand einsieht und damit die revolutionäre Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen nicht nach der Logik einer praktischen und ideologischen Naturbeherrschung auffasst, nicht einsieht, dass abstrakte Arbeit die auf den mundus hominum, auf den mondo civile projizierte Naturbeherrschung ist. Herrschaft von Menschen über Menschen in der kapitalistischen Gesellschaftsformation ist idealisierte Naturbeherrschung. Der Wert ist diese idealisierte Naturbeherrschung; von daher konstituiert sich überhaupt erst das Verhältnis von Basis und Überbau, d.h. nicht nur, wie Habermas es wahrhaben will, die Legitimation, sondern auch die Konstitution von Herrschaftsideologien und Institutionen aus der Basis gesellschaftlicher Arbeit.

Das zweite grundlegende Argument gegen Habermas bezieht sich auf einen erkenntnistheoretischen Rückfall hinter Hegel auf Kant. Habermas wirft, wenn man es so zusammenfassen will, Hegel zurecht vor, dass dieser mit demselben Instrumentarium, mit dem er Kant zurecht kritisiert, auch hinter Kant metaphysisch zurückfällt. Was heißt das? Hegel wirft Kant vor, dass dieser die Wahrheit des Erkenntnisvermögens prüfen will, bevor dieses wirklich an die inhaltliche Arbeit der Erkenntnis geht; so wie Nietzsche den Erkenntnistheoretikern gegenüber dieses Hegelsche Argument auf einer pragmatischen Ebene wiederholt: »Wir klassischen Erkenntnistheoretiker wollten ein Streichholz prüfen, ohne es anzuzünden«, — so will Hegel zufolge Kant schwimmen lernen, ohne ins Wasser zu gehen, die Wahrheit eines Erkenntnisvermögens prüfen, ohne es am Erkenntnisgegenstand wirklich praktisch sich abarbeiten zu lassen. Hegel wirft also Kant zurecht die positive Transzendentalphilosophie vor, d.h., dass Kant eine apriorische Beziehung reiner Subjektivität—also die Anschauungsformen von Raum und Zeit und die Kategorien — auf die formalen Bedingungen der Möglichkeit nicht nur der Erfahrung, sondern auch der Gegenstände der Erfahrung, mittels der ursprünglich-synthetischen Einheit der transzendentalen Apperzeption, die in den Tiefen der menschlichen Seele verankert sein soll, konstruiert. Hegel hingegen will Erkenntniskritik in dem Sinne etablieren, dass während des wirklichen Erkenntnisprozesses, da das Subjekt ein Objekt sich theoretisch aneignet, zugleich die kritische Selbstreflexion des Subjekts stattfindet, sowie er es in dem programmatischen Satz der Einleitung zur Phänomenologie niedergelegt hat: »Diese dialektische Bewegung«, schreibt Hegel, »die das Bewusstsein an ihm selbst, sowohl an seinem Wissen als an seinem Gegenstand macht, insofern ihm der neue, wahre Gegenstand daraus entspringt, ist eigentlich dasjenige, was Erfahrung genannt wird.« (5) Hegel will die kritische Erfahrung der Reflexion und die Reflexion der Erfahrung organisieren, d.h. jene Reflexion zweiten Grades, in der in der unmittelbaren Beziehung des Subjekts aufs Objekt dessen vermeintliche Unmittelbarkeit kritisch durch eine Selbstreflexion des Subjekts durchschaut wird. Während Kant die Selbstreflexion des Subjekts logisch dem wirklichen Erkenntnisprozess, der empirische Momente aufnimmt, vorschaltet, will Hegel die Selbstreflexion des Subjekts dem wirklichen Erkenntnisprozess, der empirische Momente aufnimmt, gleichschalten. Die Aufhebung von Transzendentalität, der innerweltlichen Erscheinungsform des Absoluten als abstrakter Negation, nämlich als dessen, was weder positiv-empirisch, noch positiv-transzendent ist, in die bestimmte Negationsform der Totalität als desjenigen, was sowohl positiv-empirisch wie positiv-transzendent ist — wie es im Begriff des Moments und materialistisch in dem der Ware als sinnlich-übersinnlichen Ding bei Marx sich niederschlägt — nimmt Hegel erkenntniskritisch vor.

Diese Transformation von Transzendentalität in Totalität lässt Habermas außer acht. Sicherlich hat er Recht gegen Hegel, wenn eingewendet wird, dass Hegel die totalitätslogische Umsetzung der kantschen Transzendentalitätslogik nur leisten kann um den absolut idealistischen Preis der Reproduktion der Fichteschen Auflösung des Kantischen Dings an sich. Mit 399Produktion und Klassenkampf demselben kritischen Instrumentarium, mit dem Hegel die formale Transzendentalität der Kantischen Erkenntnistheorie kritisiert, hebt er seine eigene Kritik auf, insofern er die Problematik der Konstitution von gegenständlicher Erfahrungs- und wissenschaftlicher Begriffswelt und der Bildung von Ich-Identität auflöst in eine idealistische Produktionslogik. Hegel muss das kritische Konstitutionsproblem Kantens eliminieren. Das ist die unmittelbare Identifikation von theoretischer und praktischer Vernunft, von Produktion und Konstitution, wie sie extrem bei Fichte vorgezeichnet war; sie ist der falsche Preis, den die richtige Kritik an Kant zahlen musste. Habermas will deshalb auf eine materialistische Erkenntnistheorie hinaus, weil in dieser das Problem der Konstitution wieder auftauchen muss. Bei Marx gibt es ein Problem der Konstitution, wenn theoretische und praktische Vernunft, das Ich denke und das Ich handle, nicht unmittelbar sollen zusammenfallen können und müssen. Die unmittelbare Identifikation von theoretischer und praktischer Vernunft ist ja nur um den Preis des Idealismus möglich. Nur, indem Habermas gegen Hegel diese kritische Feststellung macht, fällt er zugleich hinter Hegel zurück, denn er adaptiert positiv die Begriffe von Transzendentalität und Konstitution unter der Abstraktion von der Ideologienkritik, die auch an diese Begriffe noch heranzutragen wäre. Er abstrahiert völlig von der metaphysischen Dimension, dem Problem der synthetischen Urteile apriori, die um die Begriffe des transzendentalen Subjekts und der Konstitutionsproblematik sich ranken. Horkheimers und Adornos Ideologienkritik am transzendentalen Subjekt entschleierte dies als den abstrakten Gesamtarbeiter, die metaphysische Travestie des kapitalistischen Produktionssubjekts.
Der Begriff der Totalität hat den von Transzendentalität insofern aufgehoben, als im idealistischen Totalitätsbegriff Hegels sich auf eine wenn auch verdinglichte Art und Weise Reflexion auf das Verhältnis von Empirie und Intelligibilität, Wertabstraktion und Gebrauchswert vollzieht. In den Begriff der Transzendentalität, den transzendentalen chorismos von empirischem und intelligiblem Subjekt, wie er praktisch wird im kategorischen Imperativ und dessen Umsetzung in der Terrorphase der französischen Revolution durch Robbespierre, geht die repressive und rigide Wertabstraktion von den besonderen Gebrauchswerten, Bedürfnissen, Interessen, Triebstrukturen und Individuen ein, auch in den idealistischen Begriff der Totalität, aber so, dass dieser Abstraktionsvorgang als Abstraktionsvorgang selbst durchsichtig wird und dass das Moment in seiner Gebrauchswertbesonderheit nur Moment eines Allgemeinen ist; oder anders gesagt: transzendentales Subjekt und Totalität im Hegeischen Sinne verhalten sich zueinander wie Wert und Wertform. Das transzendentale Subjekt artikuliert die Wertabstraktion, aber nicht deren Verdinglichungsprozess zur Wertform, die konkrete Unterwerfung des Gebrauchswerts unter die Wertabstraktion wie es sich im Begriff des Moments in der Totalitätskategorie darstellt. Der Begriff der Transzendentalität wird von Habermas formalisiert zu dem der Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung. Er abstrahiert sowohl von der metaphysischen Dimension des Transzendalitätsbegriffs wie von der Ideologienkritik, die an den Inhalt des Transzendentalitätsbegriffs zu heften ist, und überlässt sich einer positivistischen Interpretationsweise der »Kritik der reinen Vernunft«, die glaubt, dass die metaphysischen Inhalte und Nervpunkte des Transzendentalitätsbegriffs ohne Wahrheitsverlust aus diesem analytisch eliminierbar seien und die »Kritik der reinen Vernunft« gleichsam behandelt werden könnte wie eine moderne Sprachanalyse. Habermas hat einen positivistischen Interpretationsmaasstab an die »Kritik der reinen Vernunft« angelegt, wenn er von der metaphysischen Dimension des Transzendentalitätsbegriffs und der Ideologiekritik an diesem Begriff abstrahiert und Transzendentalität zum Inbegriff der Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung formalisiert und das ganze Problem des transzendentalen Idealismus, der ursprünglich synthetischen Einheit, damit ausschließt. Von daher kommt Habermas zu einem sehr verschwommenen, diffusen und kaum noch inhaltlich auszufüllenden Begriff von Erkenntnistheorie, denn deren Aufgabe ist es, ihrem Selbstverständnis zufolge, den Sinn von Erkenntnis darzulegen. Habermas führt nicht weiter aus, was dieser Sinn von Erkenntnis ist. Konkret gesprochen: Kantische Erkenntnistheorie wie Hegelsche Erkenntniskritik — die Hegel in der Einleitung zur »Phänomenologie des Geistes« lemmatisch skizziert — behandeln das Problem der Konstitution oder Produktion von Erfahrung, gegenständlicher Erfahrungs- und wissenschaftlicher Begriffswelt deshalb, weil es ihnen um das Problem der Ich-Identität des bürgerlichen Individuums geht. Kant, dessen Transzendentalitätsbegriff auf dem Standpunkt der Zirkulations- und Rechtssphäre steht, dessen Inbegriff bürgerlicher Individualität die Einheit der Person als das »ich denke, das alle meine Vorstellungen muss begleiten können« ist, muss dieses — und damit den Vorgang der Synthesis selber, den er als nicht-prozessualen auffasst, aus dem alle genetischen Momente getilgt sind — in einem »hiatus irrationalis«, den unauslotbaren Tiefen der menschlichen Seele, verankern. Diese unauslotbaren Tiefen der menschlichen Seele löst Hegel — schon der Tendenz nach — in gesellschaftliche Subjekt-Objekt-Verhältnisse auf, insofern sich die Einheit der Person überhaupt erst herausbildet als die konkrete Beziehung zwischen Subjekt und Objekt und nicht als formal-apriorische Beziehung eines vorweltlichen Subjekts auf mögliche formale Gegenstandsbedingungen. Marx schließlich dechiffriert jene unauslotbaren Tiefen der menschlichen Seele als die privateigentümlich organisierten Produktionsverhältnisse, in denen sich die bürgerliche Identität herausbildet. D.h., der Sinn von Erkenntnistheorie ist es, die Konstitution im Kantischen Sinne oder als produktionslogische Bildungsgeschichte im Hegeischen Sinne von Individualität, die Einheit der Person darzulegen. Erkenntnistheorie ist deshalb nicht positivistische formale Wissenschaftstheorie, weil in sie noch das konkrete menschliche Subjekt oder, wenn man so will, Individualisierung und Subjektivation als zentrales, emanzipatives Vernunftinteresse eingehen, wie es bei Kant in der geschichtsphilosophischen, Theorie und Praxis vermittelnden Frage »Was darf ich hoffen?« niedergelegt worden ist. Anders gesagt: Erkenntnistheorie und Erkenntniskritik sind Theorien der Individualität; Erkenntniskritik unterscheidet sich im Kern dadurch von reiner Erkenntnistheorie, dass sie die Genesis von Individualität, die konkrete Bildungsgeschichte, mit aufnimmt. Das enthält in metaphysischer Form die Hegelsche »Phänomenologie des Geistes« und das, was der verdinglichte Jargon »deutschen Bildungsroman« nennt, also der »Wilhelm Meister«. Hahermas abstrahiert von allen inhaltlichen Elementen des Kantischen Transzendentalitätsbegriffs, so dass auf ihn — in eingeschränkter Form — der Positivismusvorwurf anwendbar ist, den er dem überlieferten wissenschaftstheoretischen Positivismus macht. Nur um den Preis eines positivistischen Interpretationsmodus der »Kritik der reinen Vernunft« ist der Begriff der Transzendentalität zum Inbegriff der Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung formalisierbar, oder anders gesagt: nur um den Preis eines solchen Interpretationsmodus positivistischer Art ist der Inbegriff der Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung aus dem metaphysisch-inhaltlichen Bezugsrahmen, in dem er steht, nämlich dem der Einheit der Person und der allgemeinen Begründung von Erfahrung durch apriorische Beziehungen auf Gegenstandsbedingungen, formalisierbar.

Wir sehen also zum einen, dass Habermas mit einem formalisierten Transzendentalitätsbegriff arbeitet, den er positiv adaptiert; daher kann er den historischen Prozess der Transformation der Kantischen transzendentalen Konstitutionslogik in Hegels totale Produktionslogik — wobei die erstere auf dem Standpunkt des bürgerlichen Tauschverkehrs und Rechtsverkehrs steht, die zweite auf dem Standpunkt der bürgerlichen Ökonomie als abstrakter Arbeit — und schließlich die Aufhebung dieser totalen Produktionslogik in die materialistische Darstellungslogik Marxens nicht vollziehen. Darstellung im materialistischen Sinne Marxens meint die Kritik an der verdinglichten und verdinglichenden Konstitution und Produktion zugleich, nämlich ein bestimmtes Verhältnis von Gebrauchswerte produzierender und Waren produzierender Tätigkeit und von gegenstands- und begriffskonstitutiver Praxis. Das zweite, was Habermas positiv logischerweise mit dem Transzendentalitätsbegriff übernimmt, ist ein positiver Konstitutionsbegriff. Konstitution ist der erkenntnistheoretische Zentralbegriff. Wenn man sich allerdings die Frage stellt, wie denn dieser Begriff bestimmt werden könne, so wird man auf das überraschende Ergebnis stossen, dass er mit erkenntnistheoretischen Begriffen selber kaum sich kennzeichnen lässt. Der Begriff der Konstitution wird durchsichtig allein und erst auf dem Hintergrund einer ideologien-kritischen Reflexion. Konstitution im genuinen Sinn dieses Begriffs ist der Inbegriff bürgerlicher Rechts- und Staatsverfassungen, so wie man von konstitutioneller Monarchie spricht und wie das Grundgesetz der Bundesrepublik deren Verfassung, deren Konstitution ist. Konstitution bezeichnet also die aus der Wertabstraktion reduzierte Rechtsverfassung einer Gesellschaft und die Rechtssubjektivität.
Nicht zufällig stehen daher die drei Kritiken Kantens auch in einem rechtstheoretischen Begründungszusammenhang. Man kann sagen: die Kantische Rechtsphilosophie, die Metaphysik der Sitten, ist nicht die chronologische, aber die logische Voraussetzung der drei Kritiken der reinen Vernunft, der praktischen Vernunft und der Urteilskraft. Konstitution —• um es zu einer pointierten Hypothese zu formulieren — in der Kritik der reinen Vernunft Kantens ist die auf die Ebene des Erkenntnisvermögens übertragene französische Nationalversammlung der großen Revolution. Konstitution bedeutet eine Organisation des Erkenntnisvermögens nach Maassgabe bürgerlichen Rechtsverkehrs und bürgerlicher Rechtsverhältnisse. Von daher ist erklärbar, dass Konstitution auf der einen Seite ein Akt und. ein Vorgang der Synthesis ist, auf der anderen Seite diese in der psychologia rationalis verankerte ursprünglich synthetische Leistung der transzendentalen Apperzeption nicht auch als genetischer Prozess durchschaut wird; denn in den Begriff der Konstitution als der grundlegenden politischen und menschheitsrechtlich verankerten Rechtsverfassung gehen Momente der Genesis—das ist der Produktion— nicht ein, da die zirkulationsbegründete Konstitution, die Fortsetzung der Wertform der Ware, im Rechtssubjekt begründet ist, das sich aus der charaktermaskierten Gleichgültigkeit und deshalb dem gleichen Gelten der miteinander in feindseliger Konkurrenz friedlich verkehrenden Warenbesitzer ergibt. Denn die in diesem Sinne zirkulationsbegründete Konstitution muss Momente der Produktion verschleiern, so wie die Zirkulationssphäre in ihrer fetischisiertesten Form des zinstragenden Kapitals, des sich zu sich selbst verhaltenden Geldes, des Geld heckenden Geldes, G-G', alle Elemente des Produktionsprozesses zum ideologischen Verschwinden gebracht hat. Konstitution ist also nicht zufällig reine Geltung als nicht prozessualer Prozess der Herausbildung von gegenständlicher Objektivität. Konstitution ist, dies zu wiederholen, die auf die Ebene des Erkenntnisvermögens projizierte bürgerliche Rechtsverfassung. Das bedeutet, nicht zufällig und nicht bloß als metaphorische Analogie begreift Kant die Kritik der reinen Vernunft als einen Gerichtshof. Wie er in einem bedeutsamen Abschnitt am Ende der Kritik der reinen Vernunft über die Vernunft im polemischen Gebrauche anführt, soll die Kritik der reinen Vernunft diese aus dem kriegerischen Naturzustand in den friedlichen bürgerlichen Rechtszustand umsetzen. Nicht zufällig ist der explizite Analogieverweis auf Thomas Hobbes' Leviathan, auf die absolutistische und etatistische Pazifizierung des bürgerkriegerischen Naturzustands. Denn, so sagt Kant, die Vernunft im Naturzustand trägt ihre Streitigkeiten nicht kritisch, sondern dogmatisch, d.h. nicht friedlich, sondern durch Krieg aus. Die Kritik der reinen Vernunft aber trägt die Streitigkeiten der Vernunft und ihre Antinomien nicht mit den Mitteln des Krieges und der Gewalt, sondern mit den Mitteln des Prozesses und der Sentenz aus. Die Kritik der reinen Vernunft als Konstitutionsproblematik ist das Grundgesetz, die Verfassung und die Konstituante des Erkenntnisvermögens nach Maassgabe bürgerlicher Rechtssubjektivität und revolutionär-bürgerlichen Rechtsverkehrs. Das aber hat folgenreiche Konsequenzen für erkenntnistheoretische Reflexionen. Daraus folgt nämlich, dass eine positive Erkenntnistheorie, wie Habermas sie erneut anstrebt, eine logische Unmöglichkeit ist; sondern, so wie Marx keine positive Theorie der Produktion liefert, sondern eine Kritik der Produktion, so ist auch nur eine Kritik der Konstitution möglich. Anders gesagt: Konstitution ist nicht inhaltslos und keineswegs eine bloß formale Kategorie. Konstitution bedeutet immer die Verschleierung des ebenso genetischen wie geltungslogisch relevanten Bildungsprozesses von Erfahrungswelt nach dem Doppelcharakter einer fetischisierten und einer durchschauten Erfahrungswelt. Wenn die Rechtssubjektivität begründet verbunden ist mit dem Warenfetischismus, dann ist Konstitution immer die verschleierte Produktion fetischisierter Erfahrungswelten. In den Begriff der Konstitution geht der Doppelcharakter von Arbeit als konkreter und abstrakter Arbeit ein. Konstitutionskritik würde gerade die Entschleierung fetischisierter Erfahrungswelten nach Maassgabe materialistischer Darstellungslogik bedeuten; wobei materialistische Darstellungslogik heißt: die Darstellungsweise der Kritik der politischen Ökonomie klärt kritisch auf, was die Selbstdarstellung des Werts im Tauschwert, die Selbstdarstellung des Kapitals verdunkelt, verschleiert. Das aber heißt: Konstitutionskritik bedeutet nichts anderes als die Rekonstruktion des Zusammenhangs von Produktion und Konstitution.

Konstitution indem Sinne der geltungslogischen und methodologischen Trennung vom Produktionsprozess ist immer die Konstitution fetischisierter Erfahrungswelten nach Maassgabe der rechtssubjektiven Vorstellungswelten. In den Begriff der Konstitution gehen, ideologienkritisch gesehen, die Kategorien von Fetischisierung, Verdinglichung und Entfremdung ein. Deshalb kann es bei Marx keine positive Konstitutionstheorie geben. Daraus folgt auch, dass nach Maassgabe der Marxschen Idealismuskritik eine Konstitutionsproblematik nur möglich ist auf dem Boden einer immer schon konstituierten Gegenstandswelt nach Maassgabe des Begriffs gegenständlicher Tätigkeit. Gegenständliche Tätigkeit als die Totalität der Produktion, also Arbeit und Arbeitsteilung, verweist — im Gegensatz zu Hegel und Kant — auf die Konstitution der Erfahrungswelt. Arbeit liefert das Wahrnehmungsmaterial, das Perzeptionsmaterial. Arbeitsteilung ist der kategoriale Rahmen der Apperzeption, und zwar einer nicht transzendentalen Apperzeption, weil schon konkret, empirisch-materiell und gegenständlich gebundenen Apperzeption. Die gebrauchswertproduzierende Tätigkeit der konkreten Arbeit liefert das Perzeptions- und Wahrnehmungsmaterial, die wertsetzende Tätigkeit der abstrakten Arbeitsteilung liefert den nicht transzendentalen Apperzeptionsrahmen einer ideologisierten Kategorienwelt. Das heißt, abstrakte Arbeit ist wissenschaftskonstitutiv, begriffskonstitutiv und zugleich verantwortlich für die Ideologisierung des Begriffs, wobei Ideologie im Unterschied zum Mythos selbst ein Rationalitätsbegriff ist; der Mythos kann nicht wahr oder falsch sein, Ideologie aber kann wahr oder falsch sein und ist wahr und falsch, sie ist die richtige Widerspiegelung der falschen gesellschaftlichen Wirklichkeit und als falsches Bewusstsein die falsche Projektion einer richtigen gesellschaftlichen Wirklichkeit. Konstitution ist immer Konstitution ideologisierter Erfahrungs- und Begriffswelten; in sie geht das Moment der Ideologie als Begriff, ideologienkritisch durchleuchtet, selber ein. Von diesem grundlegenden Sachverhalt abstrahiert Habermas, darum steht er mit der positiven Adaption des Konstitutionsbegriffs auf dem Standpunkt des bürgerlichen Rechts. Das ist folgenreich für das Reduktionsargument, das er Marx vorwirft.

Um das zweite Argument noch einmal zusammenzufassen: Habermasens positive Adaption des Transzendentalitätsbegriffs ist nur um den Preis von dessen Formalisierung nach Maassgabe einer positivistischen Interpretationsweise, die an die Kritik der reinen Vernunft gerichtet wird, möglich. Zweitens: Habermas durchschaut den Konstitutionsbegriff nicht ideologienkritisch als Begriff bürgerlicher Rechtsverfassungen, in die die Logik der Zirkulationssphäre und damit das Verschwinden der Produktion eingeht und die Kant auf die Dimension des Erkenntnisvermögens, das nach Maassgabe eines Gerichtshofes behandelt wird, projiziert. Habermas steht damit auf dem Boden des bürgerlichen Rechts, nicht auf dem Boden der kritisch durchleuchteten Produktion. Daraus folgen Konsequenzen für die Fortsetzung seines Reduktionsarguments; wir haben gesehen, dass Habermas nur um den Preis eines von ihm selbst verengten, nämlich auf instrumentales Handeln reduzierten Produktionsbegriffs Marx einen insgesamt verengten Praxisbegriff vorwerfen kann, wobei Habermasens vermeintlich nicht verengter Praxisbegriff die gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen untereinander auf einen bloßen sprachlichen flatus vocis symbolischer und symbolisierender Handlungen reduziert, was keineswegs die gesellschaftliche Relevanz sprachlichen Verkehrs herabmindern soll, aber Habermas bindet den sprachlichen Verkehr nicht mehr an konkrete gegenständliche Individuen, er materialisiert ihn nicht mehr im Bezugsrahmen gegenständlicher Tätigkeit.

Meine These ist dies: weil Habermas mit dem Konstitutionsbegriff auf dem Standpunkt des bürgerlichen Rechts steht, konstruiert er schliesslich einen Eigentumsbegriff, der selbst verbürgerlicht ist, den er also nur nach Maßgabe verrechtlichten, juristisch sanktionierten Eigentums begreifen kann. Den verengten Produktionsbegriff und den verengten Praxisbegriff will Habermas Marx gerade dort nachweisen, wo dieser alle Elemente ökonomischer Intersubjektivität wirtschaftlicher Verkehrsformen, nämlich Produktion und Zirkulation, Distribution und Konsumtion in einer allgemeinen, gleichwohl historisch in der Erfahrung der universalisierten Warenproduktion verankerten Bestimmung in der Einleitung des Rohentwurfs zu geben versucht. Habermas versucht dort nachzuweisen, dass Marx die primäre Distribution des Privateigentums an den Produktionsmitteln, die bekanntlich auf gewaltsamen Klassenkämpfen, also auf Revolutionen beruht, nicht dem Produktionsbegriff subsumieren kann, sondern dass Distribution eine nicht aus Produktion gleich instrumentalem Handeln ableitbare Grosse ist. Es stimmt sehr wohl, dass die primäre Distribution an den Produktionsmitteln und damit die Klassenkämpfe und Revolutionen nicht aus einem instrumentalisierten Arbeitsbegriff abgeleitet werden können, wohl aber aus der Totalität des Produktionsbegriffs von Arbeit und Arbeitsteilung, wie Marx es auch tatsächlich vornimmt. Wenn die primäre Distribution an den Produktionsmitteln, die auf Gewalt, Klassenkampf und Revolution beruht, nicht dem Begriff der Produktion als des Prinzips von Geschichte — das in der Naturgeschichte der Geschichte erst zur Entfaltung drängt, so dass Geschichte selber ein Produkt von Geschichte ist — integrierbar ist, wäre nicht nur nicht Produktion allein das Prinzip von Geschichte, sondern es würde auch eine Prinzipialisierung der gewaltsamen Erscheinungsformen der Geschichte der Klassenkämpfe bedeuten und die Unaufhebbarkeit der Gewalt beinhalten, was Engels in seiner Polemik gegen Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaften im Sinne der materialistischen Theorie deutlich klargelegt hat. Anders gesagt: man erhielte dann aus der Habermasschen Erkenntnistheorie das paradoxe Resultat, dass er auf der einen Seite den Begriff der gesellschaftlichen Praxis als der intersubjektiven Verkehrsformen derart entmaterialisiert, dass er revolutionäre Praxis auf sprachliches Handeln reduziert und Fragen progressiver Gewaltanwendung nicht zulässt, und auf der anderen Seite die faktisch vorhandene Gewalt der Gesellschaft zu einer ewigen naturgeschichtlichen Tatsache hypostasiert. Diese Dialektik von verschleierter Gewaltanerkennung und offener pazifistischer Gewaltablehnung ist die traditionelle Ideologie des Bürgertums. Aber selbst wenn aus der Verselbständigung des primären Distributionsmoments nicht eindeutig eine Hypostasierung der Gewalt zu einem Prinzip von Geschichte zu folgern wäre, ist die Habermassche Argumentation, an dieser Stelle gegen Marx gerichtet, grundfalsch. Habermas schreibt: "Die definitorischen Versuche, alle Momente der gesellschaftlichen Praxis unter den Begriff der Produktion zu bringen, können nicht verschleiern, dass Marx mit sozialen Voraussetzungen der Produktion rechnen muss, die eben nicht wie Arbeitsmaterial, Arbeitsinstrument, Arbeitsenergie und Arbeitsorganisation unmittelbar zu den Elementen des Arbeitsprozesses selber gehören. Marx will mit guten Gründen den kategorialen Rahmen so fassen, dass »vorökonomische Tatsachen« für den Mechanismus der gattungsgeschichtlichen Entwicklung nicht in Betracht kommen. Aber jene in der Produktion eingeschlossene Distribution, das institutionalisierte Gewaltverhältnis also, das die Verteilung der Produktionsinstrumente festlegt, ruht auf einem Zusammenhang symbolisch vermittelter Interaktionen, der sich in Bestandteile der Produktion, in Bedürfnis, instrumentales Handeln und unmittelbares Konsumieren allen definitorischen Gleichsetzungen zum Trotz nicht auflösen lässt.« (6) Der Begriff der primären Distribution an den Produktionsmitteln ist, wie ich in der Tat meine, insgesamt dem Produktionsbegriff zu subsumieren und zwar dann, wenn der Produktionsbegriff, wie dies bei Marx praktisch geschieht, wirklich nicht nur Arbeit als instrumentales Handeln, sondern Arbeit und Arbeitsteilung material wie kategorial umfasst.

Dieses Verhältnis von Produktion und Distribution ist deshalb so wesentlich, weil daran das Verhältnis der Kritik der politischen Ökonomie zur Theorie der Klassenkämpfe, zur Theorie der Revolution, aufleuchtet und die Frage entsteht, ob die Klassenkämpfe selbst wiederum objektiv und ökonomiekritisch verankert werden können Wenn man der Habermasschen Argumentation folgt, so kann die primäre Distribution an den Produktionsmitteln, also die gewaltsame Verkehrsform der Klassenkämpfe, die ebenso auch kulturkonstitutiv vermittelt ist, deshalb nicht aus der Produktion abgeleitet werden, weil instrumentales Handeln nicht aus sich selbst heraus kommunikatives Handeln entlässt. Aus der Logik der Technik folgt nicht die Verkehrsform der Sprache, das ist sicherlich richtig; aber wie wir nachgewiesen haben, ist dieser Produktionsbegriff selbst ein verengter, denn Marx meint mit Produktion immer Arbeit und Arbeitsteilung. Als Konsequenz folgt daraus meine These: die primäre Distribution an den Produktionsmitteln ist deshalb in die Totalität des Produktionsbegriffs integrabel, weil sie eine neue Form der Arbeitsteilung nicht nur konstituiert, sondern auch eine neue transitorische Form von Arbeitsteilung selbst darstellt.

Anmerkungen

(1): Diese Arbeit ist aus einem Referat entstanden, das H.-J. Krahl am 6 2.1970. kurz vor seinem Tode, in einem Seminar zum Problem der Marxschen Krisentheorie gehalten hat. Den ersten Teil hat er nachträglich frei auf Tonband gesprochen; den zweiten und dritten Teil konnte er nicht mehr diktieren. Wir fügen daher unter den Fußnoten 2 und 3 entsprechende Passagen aus den »Schulungsprotokollen, bzw aus Mitschriften von Genossen, an. um die geplante Argumentationsrichtung anzudeuten. Da insbesondere die Ausführungen über Sprache als mögliches Vermittlungsglied zwischen der Kritik der politischen Ökonomie und der revolutionären Theorie des Klassenkampfes höchst problematisch sind, weisen wir besonders auf ihre Vorläufigkeit hin. (Anm.d.Hg.)

(2): Marx zufolge ist Sprache praktisches Bewusstsein; sie ist aus Arbeitsteilung entstanden, das praktische Bewusstsein der geteilten Arbeit. Aus der Marxschen Theorie geht aber nicht hervor, wieso Marx imstande war, die Arbeitsteilung seiner eigenen Gesellschaft zu durchschauen, wenn auch sein Bewusstsein durch das gesellschaftliche Sein bestimmt war. Wenn in Sprache und Bewusstsein keine Momente enthalten sind, die gewissermaßen über die Bestimmung des Bewusstseins durch das gesellschaftliche Sein hinausgehen, wie kann man dann die Gesellschaft kritisch erkennen? Was ist aber dieses Moment, das über die Bestimmung des Bewusstseins durch das gesellschaftliche Sein hinausgeht und wodurch wird es konstituiert? Marx hat eine objektive Antwort darauf: Die Konkurrenz, sagt er, isoliert die Proletarier nicht nur voneinander, sondern bringt sie auch zusammen bringt sie in den Verkehr miteinander, und dieses Zusammenbringen bedeutet die Fähigkeit zur Synthesis (Vgl. Deutsche Ideologie, MEW Bd. 3, S.61 Fussn.)
Das ist eine objektive Interpretation, aber sie erklärt eines nicht: Die Kritik der politischen Ökonomie beansprucht als revolutionäre Theorie, die Bedingungen einer Veränderung der Gesellschaft aufzuzeigen. Um diese aufzuzeigen, muss sie zunächst einmal die Bedingungen beschreiben die die Bildung von Klassenbewusstsein verhindern: das falsche Bewusstsein. So mündet das Warenkapitel in das Fetischkapitel, wo falsche Bewusstseinsformen aufgezeigt werden. Die Kritik der politischen Ökonomie konnte hinreichend die Bestimmung des Bewusstseins aus dem gesellschaftlichen Sein erklären, aber Marxens Postulat ist es ja, dass die Menschen Geschichte mit Bewusstsejn machen, d.h. das Verhältnis von Sein und Bewusstsein sich umkehrt
Dass die Kritik der politischen Ökonomie als revolutionäre Theorie der Herrschaftsentschleierung und der gesellschaftlichen Dynamik unvermittelt ist zur Theorie des historischen Materialismus als der Theorie und Geschichte der Klassenkämpfe, rührt einerseits daher, dass für Marx die Revolution eine immer schon vorgefundene und vom Proletariat nicht machbare, sondern nur transformierbare Tatsache ist. Nachdem die Revolution nach 1871 ausblieb, hat Marx so gut wie kein revolutionstheoretisch relevantes Wort mehr gesagt Die Kritik des Gothaer Programms geht auf die Konstruktion der künftigen Gesellschaft ein aber sagt nicht wie die Revolution zustande kommt.
Wenn man andererseits davon ausgeht, dass Produktion als Prinzip von Geschichte Arbeit und Arbeitsteilung ist und dass gleichwohl alle Geschichte eine Geschichte von Klassenkämpfen ist - ich trenne letzt absichtlich analytisch, obwohl die analytische Trennung Ideologie ist aber sie ist e ne Marxsche und es geht um die Bedingungen einer Theorie der Revolution -, so ist es logisch nicht möglich, diese Produktion und das Bewusstsein von Produktion zu den Klassenkämpfen zu vermitteln. Hier geht eine Lücke in die Marxsche Konstruktion der Geschichte ein, und ich glaube sie bezeichnen zu können mit „Sprache“.
Familie, Sprache und Arbeitsteilung sind meiner Meinung nach die Prinzipien, die in der Geschichte als Geschichte zur Entfaltung kommen. Ich bin der Meinung -und das haben z.B. Horkheimer und Adorno in der Dialektik der Aufklarung gesehen -, dass Sprache zwar aus Arbeitsteilung entsteht aber nicht blosse Widerspiegelung der Arbeitsteilung sein kann, weil sonst nicht erklärbar ist, wie. man die Gesellschaft richtig erkennen kann.
Marx muss nicht nur die Bedingungen angeben, unter denen das Bewusstsein vom gesellschaftlichen Sein bestimmt wird. denn ein vom gesellschaftlichen Sein bestimmtes Bewusstsein ist ja falsches Bewusstsein; er muss auch die Bedingungen angeben, wie man mit Bewusstsein das gesellschaftliche Sein bestimmt. Das ist nötig für die Bildung von Klassenbewusstsein.
Ich sage nicht, Sprache tritt gleichwertig als Prinzip neben den Begriff der Produktion; aber ich meine dass in dem Augenblick, wo Warenproduktion, Tauschverkehr und Geld sich entwickeln Sprache ein Moment enthalt, das über die Bestimmung des Bewusstseins durch das gesellschaftliche Sein hinausgeht.
Sprache wäre damit konstitutiv für einen Typus von Arbeitsteilung, und zwar für jenen, der durch abstrakte warenproduzierende Arbeit gekennzeichnet ist. In primitiven Gesellschaften dagegen sind Arbeitsteilung und Sprachverhalten durch den familiären Verband menschlichen Verhaltens bestimmt. Das ändert sich, wo Tauschverhältnisse die Bestimmung menschlichen Verhaltens durch den familiären Verband zurückdrängen. Wenn rationale Tauschbeziehungen die Individuen in Kommunikation über Arbeitsteilung und Tauschwerte drängen, Sprache durch Arbeitsteilung bestimmt wird, dann sind sprachliche Beziehungen, die Wissenschaft hervortreiben, genetische Bedingungen von Klassenbewusstsein. Diese hat Marx aber nicht systematisch als Bedingungen für Klassenbewußtsein angegeben. Die Determination von Bewusstsein an der Basis ist in der Sprache als Ideologie angelegt. Wissenschaftliche Erkenntnis verläuft aber anders. Wenn Sprache in diesem Sinne ignoriert würde, ware erstens nicht einzusehen, wie die Sprache Marxens jene Verbindung durchschneiden kann. Wenn zweitens die Sprache an Arbeitsteilung einseitig gebunden sein sollte, dann könnte es aufgrund der Klassenbedingungen des Proletariats keine proletarische Organisation geben Drittens kann die kategoriale Struktur der Wirklichkeit nicht nach der Beziehung von Basis und Überbau begriffen werden, es sei denn, man verfällt der „Weltanschauung“, Abbildtheorie oder Ontologie.
Sprache dient der Konstitution von Bewusstseinsformen. Sie ist auch Prinzip von Gesellschaft - als Produkt des Bewusstseins ist sie unterschieden von abstrakter Arbeit.

(3): Marxens Begriff der Arbeit ist zu überprüfen. Die These wäre, dass der Begriff der Arbeit, insofern er auf wertsetzende Arbeit verkürzt ist, selbst noch auf dem »Standpunkt des Kapitals“ verbleibt. Wenn der Marxsche Arbeitsbegriff einen revolutionstheoretischen Sinn haben soll, dann muss der Begriff der produktiven Arbeit klassentheoretische Konsequenzen haben. In seinem entfalteten System hat Marx einen restringierten Produktionsbegriff, indem er produktive Arbeit auf wertsetzende beschränkt.
Wenn produktive Arbeit allein als wertsetzende bestimmt wird, kommt das Problematische daran etwa bei der Diskussion der intellektuellen Arbeit heraus. Marx sistiert hier die Dialektik seines Produktionsbegriffs, der Produktion einerseits als produktive Arbeit nicht wertsetzender Gestalt, als Selbstverwirklichung, andererseits als Produktivität des Kapitals bestimmt: So kritisiert Marx z.B. im Rohentwurf (S. 504 f.) an A. Smith die schematische Trennung von Arbeit und als Freiheit begriffener Ruhe; er interpretiert dagegen Arbeit als selbstgesetzten Zweck und Selbstsetzung, als Vergegenständlichung des Subjekts und Selbstverwirklichung und damit als eine Gestalt von Freiheit in der Entfremdung. Das Schema, Arbeit mit Zwang und Musse mit Freiheit zu assoziieren, begreift er als Moment bürgerlicher Ideologie. Dagegen setzt er die Dialektik von freier Arbeit und ruhigem, freiwilligem Zwang. An dieser Stelle bestimmter Arbeit also als Emanzipationskategorie.
Im Begriff der Arbeit wäre die Vermittlung von kapitalproduktiven und kapitaldestruktiven (subjektiv-negierenden) Momenten zu entfalten. Da Arbeit als Kategorie der Emanzipation systematisch nicht in die Kritik der politischen Ökonomie eingeht, kommt Marx zu einer »ökonomistischen« Interpretation des Arbeitsbegriffs, was Revolutionstheoretische Konsequenzen für den Klassenbegriff hat. Seine klassentheoretischen Grundkategorien des Kapitalismus, wie Lohnarbeiter, Kapitalist und Grundeigentümer, sind nicht vermittelt mit politisch agierenden Klassen, vielmehr vorrangig nach ihrer objektiven Stellung im Produktionsprozess bestimmt. Die objektivistische Bestimmung von Klassen durch ihre Zurechnung zum Produktionsprozess hat eine doppelte Konsequenz: eine industrie-proletarische Verkürzung des Revolutionssubjekts und die Hervorkehrung von Bewusstseinskategorien allein im Hinblick auf die Konstitution der Klasse für sich.
Wenn die „negatorische“, d.h. die kapitaldestruktive Seite der Arbeit entfaltet würde, dann gehörten alle diejenigen zur revolutionären Klasse, die an der „Produktion von Sittlichkeit“ arbeiten. Eine Folge von Marxens „Versäumnis“ ist, dass die Arbeiterbewegungen keine Spontaneitätskonzeptionen entwickelt haben, die z.B. an der Diskrepanz von faktischen kooperativen Formen der Industriearbeit und ihrer qualitativ rechtlichen Organisation zu entwickeln wären. Auch verdinglichte Produktivität hat ihre Momente von Selbstverwirklichung: nach Massgabe ihrer Klassenorganisation. Daran anknüpfend sollte sich die Dialektik von Legitimität und Legalität so darstellen lassen, dass sich eigene Emanzipationskategorien für die Arbeiterbewegung entwickeln liessen nach Massgabe ihrer Produktivität kapitalnegatorischer Momente. Erst im Rekurs auf proletarische Emanzipationskategorien liesse sich wissenschaftliche Arbeit im proletarischen Sinne durchschauen, könnte die Objektivation der Klasse zum Klassenkampf geleistet werden.

(4): Vgl. die Notizen zu den "Klassenkämpfen in Frankreich“, S.158ff. in diesem Band (Konstitution und Klassenkampf, Verlag Neue Kritik)

(5): Phänomenologie des Geistes, Hamburg (Meiner), 1952, S. 73

(6): Erkenntnis und Interesse“, Frankfurt, 1968, S. 75 Fussn.
 

Editorische Anmerkungen

Der Artikel erschien in "Konstitution und Klassenkampf", S.384ff und ist eine Spiegelung von http://www.krahlstudien.de/texte/produndklass.htm

Surfttip: http://www.hjki.de/