Tod in der Unterklasse
Über Sebastian wird viel geschrieben, doch sein politisches Vermächtnis wird kaum erwähnt

von Peter Nowak

12/06

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Es war vorauszusehen. Der Tod des Selbstmordattentäters Sebastian in NRW hat wieder einmal einigen JournalistInnen viel  Zeilengeld eingebracht. SozialpädogInnen, KulturwissenschaftlerInnen etc. nutzten die Gelegenheit, um die Psyche des jungen Mannes als solchen und die Befindlichkeiten von   Sebastian K. im Besonderen zu ergründen.

Katharina Rutschky sieht sich im Feuilleton der Frankfurter Rundschau angesichts des Selbstmordattentäters von Emstetten gleich an ein Erlebnis am Stadtrand Berlins erinnert, wo drei jungen Männer einen Hund aus einem eiskalten See retteten, und dabei selbst Leben und Gesundheit riskierten. Was die beiden Dinge miteinander zu tun haben? Eigentlich nichts, aber wenn es Zeilengeld bringt.. 

Natürlich haben sich die Kontroll- und Verbotsfreaks  aller Couleur die Gelegenheit nicht entgehen lassen, ihr Lamento über Jugendgewalt und Computerspiele zu wiederholen. Vor Generationen waren es noch das Fernsehen, noch früher der Jazz und andere Kulturneuerungen, welche die Jugend    verderben würden. Nur leider haben diese konservativen Klagen auch handfeste Folgen. Schon werden neue Gesetze und Bestimmungen diskutiert. Auch wer mal eben so in Rage sagt, „den bring ich um“, sollte vorsichtig sein. Er könnte als künftiger Selbstmordattentäter aus dem Verkehr gezogen werden. Wer gar Listen über Freund- und Feindschaften   führt, ist besonders verdächtigt. Vielleicht sind es ja dann Todeslisten.

Doch was überhaupt nicht oder nur am Rande erwähnt wird, sind die Erklärungen dieses Sebastian B. Schließlich hat er ja durchaus seine Weltsicht der Dinge verbreitet. Was bei SelbstmordattentäterInnen im Nahen Osten die Bekennervideos sind, ist bei ihm das Internet. 

Wenn in den Zeitungsberichten darauf überhaupt eingegangen wurde, dann nur um den Texten jegliche Plausibilität und Logik abgesprochen. Am deutlichsten sprach es die Feuilleton-Redakteurin der Frankfurter Rundschau Ina Hartwig aus. „Das völlig krause Weltbild des Bastian B. – bar jeder konsistenten Ideologie – ist angereichert mit moralischen Versatzstücken („ich war der Konsumgeilheit verfallen“) und gewürzt mit Gewaltlust („habe mir Rache geschworen“ und vor allem offenbart es eine drängende Nachruhmphantasie“. 

So stellt Hartwig schon mal    klar, wer in einer Klassengesellschaft etwas zu sagen hat. Ein junger Mann aus der Untersicht, wie Sebastian B., gehört ihrer Meinung nach garantiert  nicht dazu. Wenn im Feuilleton ständig über Konsum pro und Contra räsoniert    wird, sind das natürlich wichtige Beiträge zu einer Diskussion, wenn Sebastian B. darüber schreibt, sind es nur moralische Versatzstücke. Dass in einem Text, der ein Selbstmordattentat ankündigt, Gewalt vorkommt, dürfte eigentlich so überraschend nicht sein.  Für Zitate von Ghandi ist das in der Regel nicht der richtige Platz.

Natürlich sind die Erklärungen von Sebastian B. vielfach wirr, unausgereift und mit seinen Vergasungsphantasien gegenüber türkischen Mitschülern gibt es auch faschistoide Stellen darin. Die nachträgliche Relativierung des Autors ändert daran nichts, sie  macht eher deutlich, dass er sehr wohl gewusst hat, was er schreibt und welche Wirkung es hat.

Bemerkenswert ist eher, dass sich in seinen Erklärungen viele Elemente eines Jugendlichen finden, der sich auch einer linken Bewegung anschließen könnte.

So beschreibt er subjektiv sehr gut, wie sich junge Menschen fühlen, in der alles zur Ware wird:  

„Ich erkannte das die Welt wie sie mir erschien nicht existiert, das sie eine Illusion war, die hauptsächlich von den Medien erzeugt wurde. Ich merkte mehr und mehr in was für einer  Welt ich mich befand. Eine Welt in der Geld alles regiert, selbst in  der Schule ging es nur darum... “

Wahrscheinlich sind bei vielen 18jährigen, die heute auf Demonstrationen   gehen, die Weltbilder nicht weniger diffus. Erst im Laufe von politischen Auseinandersetzungen auf theoretischer und praktischer  Art gibt es Klärungsprozesse.

Diese Einsichten sind gepaart mit einer grundsätzlichen Lebensablehnung, die wahrscheinlich Versatzstücke aus der Gruftibewegung sein können, der sich Sebastian B. zurechnete. 

„Wozu das alles? Wozu soll ich arbeiten? Damit ich mich kaputtmaloche um  mit 65 in den Ruhestand zugehen und 5 Jahre später abzukratzen? Warum soll ich mich noch anstrengen irgendetwas zu erreichen, wenn es letztendlich sowieso für'n Arsch ist weil ich früher oder später krepiere? Ich kann ein Haus bauen, Kinder bekommen und was weiß ich nicht alles. Aber wozu? Das Haus wird irgendwann abgerissen, und die Kinder sterben auch mal. Was hat denn das Leben bitte für einen Sinn?“

Der Fall Sebastian B. zeigt sich einmal mehr, welches Potential eine Linke hierzulande hätte, und wie wenig es ihr gelingt, es auszunutzen. Junge Leute wie er wären  vor 10 oder 15 Jahren noch bei den Autonomen gelandet und hätten eine Politisierung durchlaufen. Heute gibt es in vielen Städten keine solchen linken Strukturen mehr und die Jugendlichen selbst mit kritischen Gedankengut flüchten sich in Irrationalismus und Tod.  

Die Schills von der Spree

Oder sie werden ein Fall für die Justiz und Kandidaten für geschlossene Jugendheime. Auf einer ganzen Seite konnten am 21.November 2006 im Tagesspiegel die Jugendrichterin Kirsten Heisig und ihr Kollege Günter Räcke ein Plädoyer von Law and Order und Null-Toleranz gegenüber Jugendlichen, vor allem mit nichtdeutschen Hintergrund ablegen.

Nach dem Vorbild der Lehrer an der Rütli-Schule im Frühjahr dieses Jahres inszenierten auch die beiden Richter, die sich wohl am schon gescheiterten Hamburger Richter Gnadenlos Barnabas Schill  ein Vorbild nahmen, als VertreterInnen der schweigenden Mehrheit, die sie in Deutschland zweifellos sind und als Mahner in letzter Minute. Dabei ist das, was sie fordern von der linken Mitte bis nach Rechtsaußen weitgehend Konsens.      Die Funktion solcher Interventionen ist klar. In Zeiten der kapitalistischen Krise, wo die Vorstellung aufgegeben wird, dass alle Mitglieder der Gesellschaft zumindest nicht hungern  müssen, wo statt „Bildung für Alle“ Elitenbildung für wenige propagiert wird, soll die Unterschicht durch geschlossene Heime, Arbeitszwang und ähnliche Instrumentarien bei der Stange gehalten werden. Im Interview spricht Richter Gnadenlos Heisig an einer Stelle die soziale Dimension selber  an:

„Weil diesen Jugendlichen der Zugang zum Handy und MP-3-Player verwehrt ist, verschaffen sie sich das mit Gewalt.“

Daher so das Fazit   des Richterduos werde auch Berlin an geschlossenen Jugendheimen in Zukunft nicht herumkommen.

Die Jugendlichen , die  noch mit dem Leben abgeschlossen haben, wie Sebastian B. sollen als ordentliche Zwangsmitglieder einer Klassengesellschaft mit wenig Verteilungsspielraum beizeiten lernen, wo der Hammer hängt.

Es ist nur die Frage, ob und wann es der Linken gelingt, unter diesen Jugendlichen wieder Fuß zu fassen. Damit sie einen Ausweg als ein Selbstmordattentat oder ein Leben zwischen Jugendheim und Gefängnis erkennen. 

Editorische Anmerkungen

Der Artikel wurde uns vom Autor am 29.11.2006 zur Verfügung gestellt.