Träume von einer Schule
23 Jahre leitete Brigitte Pick die Neuköllner Rütli-Schule. Heute sagt sie: Nicht die Schüler waren das Problem, sondern die Lehrer.

Von Susanne Vieth-Entus

12/06

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30. März 2006, kurz vor acht Uhr morgens. Brigitte Pick hat einen Traum: Sie geht zu ihrer alten Schule, aber alles ist plötzlich ganz fremd. Sie irrt herum, findet endlich eine offene Tür. Dann geht sie durch dunkle Gänge, gelangt in ihr altes Büro, aber da sitzt ein unbekannter Mann. Er telefoniert, fordert in frechem Ton neue Lehrer und mehr Hilfe. Das, denkt Brigitte Pick, muss der neue Schulleiter sein.

Das Telefon klingelt. Aus der Traum. Ob sie schon gehört habe, was an ihrer alten Schule los ist, will der Anrufer wissen. Brigitte Pick hat keine Ahnung. Die Hölle ist los an ihrer alten Schule, an der sie 36 Jahre lang aus und ein ging, 23 Jahre Leiterin war. Ihre ehemaligen Kollegen haben einen verzweifelten Brief geschrieben, weil sie nicht mehr weiter wissen:  "In vielen Klassen ist das Verhalten geprägt durch totale Ablehnung des Unterrichtsstoffes und menschenverachtendes Auftreten. Gegenstände fliegen zielgerichtet gegen Lehrkräfte. Einige Kollegen gehen nur noch mit Handy in bestimmte Klassen, damit sie über Funk Hilfe holen können."

 Brigitte Pick holt jetzt schnell die Zeitung aus dem Briefkasten, um nachzulesen, wovon der Anrufer berichtete. Währenddessen sammeln sich schon Reporter vor der Schule. Innerhalb weniger Stunden wird die Berliner Rütli-Schule zur bekanntesten Schule Deutschlands. Und Brigitte Pick hört fassungslos, was sich in ihrer Abwesenheit an der Schule zusammengebraut hat.

"Seit Anfang dieses Schuljahres ist die Schulleiterin erkrankt und wird in den vorzeitigen Ruhestand gehen."

Ja, Brigitte Pick war krank, als der Brief geschrieben wurde. Acht Monate zuvor hatte sie ein Nervenzusammenbruch aus dem Schulalltag gerissen. In diesen acht Monaten hatte das Kollegium versucht, die Schule am Laufen zu halten. Vergeblich, wie sich bald herausstellte.

 "Wir müssen feststellen, dass die Stimmung in einigen Klassen geprägt ist von Aggressivität, Respektlosigkeit und Ignoranz uns Erwachsenen gegenüber. Die Gewaltbereitschaft gegen Sachen wächst: Türen werden eingetreten, Papierkörbe als Fußbälle missbraucht, Knallkörper gezündet."

Brigitte Pick ärgert sich über solche Sätze. Auch heute noch, ein dreiviertel Jahr danach. Ihre Hände fahren durch die Luft, wenn sie beschreibt, wie sehr ihr diese Art der Anklage missfällt. Denn für sie sind nicht die Schüler das Problem, sondern die Lehrer, die nicht adäquat auf Schüler reagieren. Das hat sie Kollegen auch spüren lassen, als sie Rektorin war.

Die Reaktionen blieben nicht aus: Sie hofiere die Schüler, verbreite Angst bei den Lehrern, leite nach Gutsherrenart, neige zu Überreaktion im Stress - das alles führten die Kollegen gegen sie ins Feld, als es im Mai 2005 zu einer Lehrerbefragung kam. Eine klärende Aussprache erfolgte nicht mehr. Die Lehrer hätten ihr nicht offen sagen wollen, was sie vorher bei der Befragung geäußert hatten, sagt Pick. Es folgte der Nervenzusammenbruch.

Inzwischen ist die jetzt 60-Jährige im Vorruhestand. Es geht ihr besser mittlerweile. Dazu hat gewiss auch das Buch beigetragen, das sie geschrieben hat, um das Geschehene zu verarbeiten. Es wird im Februar erscheinen und handelt von der Rütli-Schule, vom gesellschaftlichen Versagen in Orten wie Neukölln, und es soll den Jugendlichen ein Gesicht geben, die "mehr oder weniger pauschal als gewalttätig, bildungsunfähig, aggressiv, fundamentalistisch, chaotisch beschrieben und angesehen werden".

Brigitte Pick lässt noch immer keine Gelegenheit aus, für die Schüler zu streiten und gegen die Lehrer Spitzen abzuschießen. Sie sitzt in ihrer Friedenauer Wohnung auf einem braunen Sessel vorm Bücherregal und erzählt, wie sie die Dinge sieht. Dabei gibt es sogar einen Punkt, in dem sie mit jenem Brief übereinstimmt.

"Wenn wir uns die Entwicklung unserer Schule in den letzten Jahren ansehen, so müssen wir feststellen, dass die Hauptschule am Ende der Sackgasse angekommen ist und es keine Wendemöglichkeit gibt. Welchen Sinn macht es, dass in einer Schule alle Schüler gesammelt werden, die weder von den Eltern noch von der Wirtschaft Perspektiven aufgezeigt bekommen?"

Auch Pick, die bekennende Linke, hat schon lange den Glauben daran verloren, dass sich mit Hauptschulen irgendetwas zum Guten wenden lässt. Bereits 1983, als sie die Rütli-Leitung übernahm, machte sie den Vorschlag, die Schule mit der benachbarten Realschule zusammenzulegen. Aber nichts geschah.

Wenn sie heute die alten Reden liest, die sie jährlich zum Abschied der ältesten Schüler hielt, sieht sie, dass es von Anfang an das Thema "Lehrstellenmangel" gab. Wie also, fragt sie über ihre Brille hinweg, sollten die Kinder Lust zum Lernen haben - so völlig ohne Perspektive. Natürlich habe sie versucht gegenzusteuern. Als eine der ersten Schulen bildete Rütli Schüler zu Streitschlichtern aus, es gab ein Anti-Schwänzerprojekt, Lehrerfortbildungen und "kaum einen runden Tisch, an dem ich nicht gesessen habe", sagt die burschikose Frau. Aber weder das Kollegium habe damals mitgezogen noch die Verwaltung. Immer wieder wurden Lehrer aus dem Berliner Osten in die Rütli-Schule geschickt, obwohl sie weder von Neukölln noch von Migrantenproblemen Ahnung hatten.

Da niemand freiwillig hierher wollte, wurden mitunter sogar Grundschullehrer zwangsversetzt, um Lücken zu stopfen. Das waren dann die Lehrer, die Brigitte Pick mitten in der Stunde um Hilfe riefen, wenn sie in ihren Klassen unterzugehen drohten. Viele dieser zwangsversetzten Lehrer stellten alle sechs Monate vergebliche Versetzungsanträge.

Eines steht fest: Auch vor Picks Ausscheiden war die Schule bekannt als hartes Pflaster. Klassenreisen waren ein unkalkulierbares Risiko. Selbst auf Wandertage gingen viele Lehrer mit Herzklopfen. Ein Besuch der Grünen Woche endete blutig. Zum Jahrestag des 11. September schossen Schüler Freudenböller ab, erzählt eine Lehrerin. Aber mit derlei Vorkommnissen befand sich die Schule in Gesellschaft anderer Hauptschulen. Pick bleibt dabei, dass sie eine "funktionierende Schule hinterlassen" habe, weil sie Konflikte stets gelöst habe. Das aber sei nach ihrem Ausscheiden unterblieben.

"Unsere Bemühungen, die Einhaltung der Regeln durchzusetzen, treffen auf starken Widerstand der Schüler. Diesen Widerstand zu überwinden, wird immer schwieriger."

"Wenn sie zu erkennen geben, dass sie die Kinder nicht mögen, werden sie die Früchte tragen" - so kommentiert Brigitte Pick die Machtlosigkeit der Lehrer. Sie schätzt, dass nur ein Drittel von ihnen mit den Schülern zurechtgekommen ist. Als sie solche Einschätzungen nach dem Brief öffentlich zum Besten gibt, bringt sie die Kollegen noch mehr gegen sich auf. Dazu passt, dass sich weder ihr kommissarischer noch ihr endgültiger Nachfolger jemals nach ihrem Befinden erkundigt haben. Es herrscht Schweigen. Eine Amtsübergabe hat nie stattgefunden.

Manchmal hält es Brigitte Pick nicht in ihrem Sessel. Dann springt sie auf in ihrer schwarzen Jeans, um Unterlagen zu suchen oder etwas zu kopieren, was ihr wichtig erscheint. Zum Beispiel die Verlagsankündigung ihres Buches. Es heißt "Kopfschüsse" (VSA-Verlag, 200 Seiten). Der Titel hat nur vordergründig mit Wilhelm Tell, dem Apfel und dem Rütli-Schwur zu tun. Eigentlich meint sie damit, dass die politisch Verantwortlichen einen "Kopfschuss" haben müssen, wenn sie das bildungs- und sozialpolitische Elend in manchen Regionen der Stadt jahrzehntelang hinnehmen.

"Der Gesamtanteil der Jugendlichen nichtdeutscher Herkunft beträgt 83,2 Prozent. In unserer Schule gibt es keinen Mitarbeiter aus anderen Kulturkreisen."

Lange hat Brigitte Pick geglaubt, etwas zur Lösung des Problems beitragen zu können. Sie, die Zehlendorferin vom Dreilinden-Gymnasium, Tochter eines Bankkaufmanns, hatte sich ja bewusst für Neukölln und für Rütli entschieden. Hatte versucht, arabische oder türkische Muttersprachler an die Schule zu holen, aber das Geld reichte nicht. Schließlich nahm sie Kontakt zum Quartiersmanagement auf, um auf diesem Weg Sozialarbeiter finanzieren zu können. Als sie bewilligt wurden, war Pick schon krankgeschrieben.

Jetzt kann der neue Schulleiter sich über die Sozialarbeiter freuen und darüber, dass das Kollegium aufgefrischt wurde: Vier von elf Lehrern, die unbedingt weg wollten, durften gehen, zwei neue kamen. Plötzlich geht all das, was jahrelang nicht ging, und ihr Nachfolger erntet in gewisser Weise die Früchte des Skandals. Aber was sind das für Früchte? "Aus dem System Hauptschule kann sowieso nichts werden", sagt Brigitte Pick. Sie beneidet den Neuen nicht. Aber ab und zu träumt sie noch von ihrer alten Schule.

Editorische Anmerkungen

Den Artikel erhielten wir über die elternliste mailing list nach unserer Ankündigung, dass Brigitte Pick im nächsten Jahr das Buch "Kopfnüsse"  herausbringen will.