Antonio Gramsci über die
BEZIEHUNGEN ZWISCHEN WISSENSCHAFT, RELIGION, ALLTAGSVERSTAND.

12/07

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Religion und Alltagsverstand können keine geistige Ordnung bilden, weil sie sich nicht einmal im Einzelbewußtsein, geschweige im Kollektivbewußtsein, auf eine Einheit und einen Zusammenhang zurückführen lassen: sie sind nicht »frei« auf Einheitlichkeit und Zusammenhang zurückzuführen; denn dies könnte nur »autoritativ« erfolgen, wie es in gewissen Grenzen in vergangener Zeit tatsächlich geschehen ist. Das Problem der Religion, verstanden nicht im konfessionellen, sondern im laizistischen Sinn, als Glaubcnseinheit von Weltanschauung und einer ihr entsprechenden Verhaltensnorm: aber warum soll man diese Glaubenseinheit »Religion« und nicht »Ideologie« oder geradezu »Politik« nennen?

Es gibt tatsächlich keine Philosophie im allgemeinen: es gibt verschiedene Philosophien oder Weltanschauungen, und man trifft zwischen ihnen immer eine Wahl. Wie erfolgt diese Wahl? Ist diese Wahl eine bloß geistige Angelegenheit oder ist sie komplexer? Und geschieht es nicht oft, daß ein Widerspruch zwischen geistigem Faktum und Verhaltensnorm besteht? Welches wird dann die wirkliche Weltanschauung sein: die als geistiges Faktum logisch behauptete oder die aus der wirklichen Tätigkeit eines jeden Menschen hervorgehende, in seinem Handeln implizit enthaltene? Und da Handeln immer politisches Handeln ist, kann man nicht sagen, daß die wirkliche Philosophie eines jeden in seiner Politik vollständig enthalten ist? Dieser Kontrast zwischen Denken und Handeln, d.h. die Koexistenz zweier Weltanschauungen, deren eine sich in Worten, deren andere sich im tatsächlichen Handeln ausdrückt, ist nicht immer auf böse Absicht zurückzuführen. Böse Absicht kann eine ausreichende Erklärung für einige, einzeln betrachtete Individuen sein, oder auch für mehr oder minder zahlreiche Gruppen; jedoch reicht sie nicht aus, wenn der Kontrast in den Lebensäußerungen großer Massen auftritt: dann kann er nur Symptom tieferer geschichtlich-gesellschaftlicher Gegensätze sein. Das bedeutet, daß eine gesellschaftliche Klasse über eine eigene und sei es auch nur embryonale Weltanschauung verfügt, die sich sprunghaft und gelegentlich in der Aktion manifestiert, wenn eine solche Gruppe sich als organisches Ganzes bewegt. Diese Klasse hat, weil geistig unfrei und untergeordnet, die fremde Anschauung einer anderen Gruppe entliehen, vertritt sie mit Worten und glaubt ihr auch zu folgen, da sie ihr zu »normalen Zeiten« folgt, d. h. solange ihr Verhallen nicht unabhängig, sondern eben untergeordnet und unfrei ist. Daher kann man Philosophie nicht von Politik trennen. Man kann im Gegenteil beweisen, daß die Wahl einer Weltanschauung oder die Kritik an ihr selbst politische Gegebenheiten sind.

Es ist also zu erklären, warum zu jeder Zeit viele philosophische Systeme und Strömungen koexistieren, wie sie entstehen, sich verbreiten, warum sie bei ihrer Ausbreitung gewissen Bruchlinien und gewissen Richtungen folgen, etc. Das zeigt, wie wichtig es ist, die eigenen Welt- und Lebensintuitionen kritisch zu systematisieren. Dabei muß genau definiert werden, was mit »System« gemeint ist, damit der Begriff nicht im pedantisch-professoralen Sinne mißverstanden wird. Aber die Erarbeitung dieser Frage darf nur im Rahmen der Geschichte der Philosophie erfolgen. Sie zeigt die Entwicklung des Denkens im Lauf der Jahrhunderte und welch kollektive Anstrengung unsere jetzige, diese ganze vergangene Geschichte zusammenfassende Denkweise gekostet hat, sie zeigt sie auch in ihren Irrtümern und Delirien. Andererseits, wenn diese Irrtümer auch zurückliegen und korrigiert wurden, schließt das nicht aus, daß sie sich gegenwärtig nicht wiederholen könnten und noch einmal eine Korrektur erforderten.

Welche Vorstellung macht sich das Volk von der Philosophie? Man kann es aus den Redewendungen des gewöhnlichen Sprachgebrauchs rekonstruieren. Eine verbreitete Redensart ist: »die Dinge philosophisch nehmen«, was, einmal analysiert, nicht völlig zu verwerfen ist. Es ist wahr, daß in dieser Redensart eine Aufforderung zur Resignation und zur Geduld enthalten ist. Der wichtigste Punkt scheint indes die Aufforderung zum Nachdenken zu sein und dazu, sich vernünftig klarzumachen, das Geschehene sei im Grunde rational und müsse als solches begriffen werden, indem man seine eigenen rationalen Kräfte konzentriert und sich nicht von heftigen und instinktiven Impulsen mitreißen läßt. Man könnte diese Redensarten des Volkes, in denen die Begriffe »Philosophie« und »philosophisch betrachtet« vorkommen, mit ähnlichen Aussprüchen von volkstümlichen Schriftstellern vergleichen, wie sie die großen Wörterbücher sammeln. Man wird sehen, daß ihre Bedeutung sehr präzis ist und in der Überwindung der tierischen und elementaren Leidenschaften liegt, in einer Auffassung der Notwendigkeit, die dem eigenen Handeln eine bewußte Richtung verleiht. Dies ist der gesunde Kern des Alltagsverstands, der darum bon sens genannt werden könnte und verdiente, weiter entwickelt und einheitlich und kohärent gemacht zu werden. Deshalb ist wohl auch die Trennung der sogenannten »wissenschaftlichen« Philosophie von jener volkstümlichen und »vulgären« Philosophie, die nur ein auseinanderfließender Ideen- und Meinungskomplex ist, unmöglich.

Aber hier stellt sich das Grundproblem jeder Weltanschauung, jeder Philosophie, die zu einer kulturellen Bewegung, einer »Religion«, zu einer praktischen Aktivität geworden ist, zu der die Philosophie die theoretische »Prämisse« darstellt (eine »Ideologie« könnte man sagen, wenn man dem Terminus Ideologie eben die höhere Bedeutung einer Weltanschauung verliehe, die sich implizit in der Kunst, dem Recht, der ökonomischen Tätigkeit, in allen individuellen und kollektiven Lebensäußerungen manifestiert). Es ist das Problem, die ideologische Einheit des gesellschaftlichen Blocks zu bewahren, der ja gerade durch diese bestimmte Ideologie zementiert und vereinigt wurde. Die Macht der Religionen und besonders der katholischen Kirche bestand und besteht darin, daß sie deutlich die Notwendigkeit spürte, die Einheit der Lehre für die gesamte »religiöse« Masse zu wahren. Sie kämpfen gegen die Trennung der intellektuell höher stehenden Schichten von den niedrigeren Schichten. Die römische Kirche hat immer einen äußerst zähen Kampf dagegen geführt, daß sich »offiziell« zwei Religionen bildeten, die der »Intellektuellen« und die der »einfachen Seelen«. Dieser Kampf war für die Kirche selbst nicht ohne große Unannehmlichkeiten, aber sie sind mit dem geschichtlichen Prozeß verknüpft, der die gesamte bürgerliche Gesellschaft ändert und der en bloc eine ätzende Kritik der Religionen enthält. Um so mehr springt die Organisationsfähigkeit des Klerus auf kulturellem Gebiet ins Auge und das abstrakt rationale und richtige Verhältnis, das die Kirche in ihrem Einflußbereich zwischen Intellektuellen und den einfachen Leuten hat herstellen können. Ohne Zweifel sind die Jesuiten in erster Linie die Schöpfer dieses Gleichgewichts gewesen. Um es zu konservieren, haben sie der Kirche eine fortschrittliche Richtung verliehen, die gewissen Bedürfnissen der Wissenschaft und der Philosophie entgegenkommt, aber in einem so langsamen und methodischen Rhythmus, daß die Veränderungen von der einfachen Masse nicht wahrgenommen werden, obwohl sie den »Integralisten« »revolutionär« und demagogisch vorkommen.

Eine der Hauptschwächen der Immanenzphilosophien besteht gerade in ihrem Unvermögen, keine ideologische Einheit zwischen oben und unten, den Intellektuellen und den »Einfachen« hergestellt zu haben. In der Geschichte der abendländischen Kultur zeigte sich dies auf europäischer Ebene, nämlich an dem unmittelbaren Mißerfolg der Renaissance und teilweise auch der Reformation gegenüber der römischen Kirche. Diese Schwäche zeigt sich in der Behandlung der Schulfrage. Die Immanenzphilosophien haben noch nicht einmal den Versuch unternommen, eine Anschauung zu entwickeln, die die Religion in der Kindererziehung hätte ersetzen können: daher der pseudo-historische Sophismus, mit dem nichtreligiöse (nichtkonfessionelle), in Wirklichkeit atheistische Pädagogen das Zugeständnis des Religionsunterrichts machen, da die Religion die Kindheitsphilosophie der Menschheit sei, die sich in jeder - nicht metaphorisch gemeinten - Kindheit erneuere. Der Idealismus hat sich auch kulturellen Bewegungen des »ins Volk Gehens« gegenüber ablehnend gezeigt, die sich in den sogenannten Volkshochschulen und ähnlichen Institutionen manifestierten; und nicht allein wegen deren Mängel, denn in einem solchen Falle haue man versuchen können, es besser zu machen. Immerhin waren diese Bewegungen des Interesses wert und verdienten, untersucht zu werden: sie hatten Erfolg in dem Sinne, daß bei den »einfachen Leuten« aufrichtiger Enthusiasmus und ein ausgeprägter Wille vorhanden waren, sich zu einer höheren Form der Kultur und der Weltanschauung emporzuarbeiten. Jenen volkspädagogischen Bemühungen fehlten aber jegliche organische Struktur philosophischen Denkens und organisatorische Festigkeit und kulturelle Zentralisation. Man hat den Eindruck, daß sie den ersten Kontakten zwischen den englischen Händlern und den Negern Afrikas glichen: sie gaben minderwertige Waren, um Gold zu erhalten. Andererseits konnten eine organische Struktur des Denkens und kulturelle Festigkeit nur dann erreicht werden, wenn die Intellektuellen und die »Einfachen« dieselbe Einheit bildeten wie sie zwischen Theorie und Praxis herrschen soll, wenn also die Intellektuellen auf organische Weise die Intellektuellen jener Massen gewesen wären, wenn sie die Probleme und Prinzipien, die die Massen durch ihr praktisches Handeln schufen, ausgearbeitet und kohärent gemacht, und so einen kulturellen und gesellschaftlichen Block gebildet hätten. So stellt sich erneut die bereits angedeutete Frage: Gibt es eine wirkliche philosophische Bewegung nur in Form einer spezialisierten Kultur für begrenzte Gruppen von Intellektuellen oder ist sie nur dann wirklich eine philosophische Bewegung, wenn sie während der Erarbeitung eines wissenschaftlich kohärenten, dem Alltsgsverstand überlegenen Denkens nie vergißt mit den "Einachen"in Kontakt zu bleiben, und gerade in diesem Kontakt die Quelle für die /u untersuchenden und zu lösenden Probleme sieht? Nur durch diesen Kontakt wird eine Philosophie »geschichtlich«, reinigt sie sich von intellektualistischen Elementen individueller Natur und wird »Leben«.(1)

Eine Philosophie der Praxis kann zunächst nur polemisch und kritisch auftreten, als Überwindung früherer Denkweisen und des bestehenden konkreten Denkens (oder der bestehenden kulturellen Welt). Folglich vor allem als Kritik des »Alltagsverstandes« (nachdem sie - auf dem Boden des Alltagsverstandes stehend - bewies, daß »alle« Philosophen sind und es sich nicht darum handelt, ex novo eine Wissenschaft in das individuelle Leben »aller« einzuführen, sondern darum, eine bereits vorhandene Tätigkeit zu erneuern und »kritisch« zu machen) und dann als Kritik der Philosophie der Intellektuellen, die zur Philosophiegeschichte Anlaß gegeben hat; sie kann (und sie entwickelte sich in der Tat wesentlich aus der Tätigkeit besonders begabter Individuen) als eine Serie von »Höhepunkten« in der Entwicklung des Alltagsverstandes betrachtet werden, zumindest des Alltagsverstandes der gebildetsten Schichten der Gesellschaft und durch diese wiederum auch des Alltagsverstandes des Volkes. Somit muß eine Einleitung zum Studium der Philosophie die im Entwicklungsprozeß der allgemeinen Kultur entstandenen Probleme synthetisch darstellen. Die allgemeine Kultur spiegelt sich nur teilweise in der Geschichte der Philosophie wider, die dennoch mangels einer Geschichte des Alltagsverstandes (unmöglich zu konstruieren wegen fehlenden dokumentarischen Materials) wichtigster Bezugspunkt bleibt. Solchermaßen können jene Probleme kritisiert, ihr wirklicher Wert (wenn sie noch einen haben) oder ihre vergangene Bedeutung als überwundene Glieder einer Kette aufgezeigt werden, und man kann die neuen aktuellen Probleme oder die aktuelle Formulierung alter Probleme feststellen.

Das Verhältnis zwischen »höherer« Philosophie und Alltagsverstand wird von der »Politik« gesichert, wie auch das Verhältnis zwischen dem Katholizismus der Intellektuellen und dem der »Einfachen« von der Politik garantiert wird. Der Unterschied ist jedoch fundamental. Muß die Kirche ein Problem der »Einfachen« aufgreifen, so ist das ein Symptom für einen Bruch in der Gemeinschaft der »Gläubigen«, der nid« dadurch geheilt werden kann, daß die »Einfachen« auf das Niveau der Intellektuellen gehoben
werden (die Kirche stellt sich noch nicht einmal dieses Problem, das ideell und ökonomisch über ihre gegenwärtigen Kräfte ginge). Vielmehr wird eine eiserne Disziplin auf die Intellektuellen ausgeübt, damit sie gewisse Grenzen der Unterscheidung nicht überschreiten und diese damit katastrophal und irreparabel machen. Früher wurden diese »Brüche« in der Gemeinschaft der Gläubigen durch starke Massenbewegungen geheilt, die zur Gründung neuer religiöser, um starke Persönlichkeiten (wie Dominikus, Fran-ziskus) versammelte Orden führten.(2)

Aber die Gegenreformation hat dieses Emporkeimen von Kräften aus dem Volk sterilisiert: der Jesuitenorden ist der letzte große religiöse Orden reaktionär-autoritären Ursprungs und repressiven »diplomatischen« Charakters, dessen Entstehen die Erstarrung des katholischen Organismus kennzeichnete. Die später entstandenen religiösen Orden haben eine äußerst geringe »religiöse« und eine sehr große »disziplinäre« Wirkung auf die Masse der Gläubigen, sie sind Auswüchse oder Fangarme der Gesellschaft Jesu oder sind es geworden - Werkzeuge des »Widerstands«, um erworbene politische Positionen zu halten, aber nicht entwicklungsfähige Kräfte der Erneuerung. Der Katholizismus ist »Jesuitismus« geworden. Der Modernismus hat keine »religiösen Orden«, sondern eine politische Partei, die christlichen Demokraten, hervorgebracht.(3)

Die Position der Philosophie der Praxis steht der katholischen Philosophie antithetisch gegenüber: die Philosophie der Praxis hat nicht die Tendenz, die »Einfachen« in ihrer primitiven Philosophie des Alltagsverstandes zu belassen, sondern will sie vielmehr zu einer höheren Lebensauffassung führen. Wenn sie auf der Notwendigkeit des Kontaktes zwischen Intellektuellen und Einfachen besteht, dann nicht, um die wissenschaftliche Tätigkeit zu begrenzen und eine Einheit auf dem niedrigen Niveau der Massen beizubehalten, sondern gerade um einen geistig-moralischen Block zu bilden, der, politisch gesehen, einen intellektuellen Fortschritt der Massen, und nicht nur kleiner Intellektuellengruppen, ermöglicht. Der aktive Mensch aus der Masse handelt praktisch, hat aber kein klares theoretisches Bewußtsein dieses seines Handelns, das auch eine Erkenntnis der Welt ist, indem es sie verändert. Sein theoretisches Bewußtsein kann sogar historisch gesehen im Gegensatz zu seinem Handeln stehen. Man kann beinahe sagen, er habe ein zweifaches theoretisches Bewußtsein (oder ein widersprüchliches Bewußtsein): ein seinem Handeln implizites Bewußtsein, das ihn real mit allen seinen Mitarbeitern in der praktischen Veränderung der Wirklichkeit vereint, und ein oberflächlich explizites oder verbales, aus der Vergangenheit übernommenes, kritiklos akzeptiertes Bewußtsein. Dennoch ist diese »verbale« Anschauung nicht ohne Konsequenzen: sie verknüpft ihn mit einer bestimmten gesellschaftlichen Klasse, beeinflußt sein moralisches Verhalten, seine Willensrichtung in mehr oder minder energischer Weise, möglicherweise in einem Grad, daß die Widersprüchlichkeit des Bewußtseins keine Aktion, keine Entscheidung, keine Wahl mehr erlaubt und einen Zustand moralischer und politischer Passivität bewirkt. Das kritische Selbstverständnis erfolgt also durch einen Kampf politischer »Hegemonien« und kontrastierender Zielvorstellungen erst auf ethischem, dann auf politischem Gebiet, bis es zu einem höheren Gebilde der eigenen Anschauung der Wirklichkeit vorstößt. Das Bewußtsein, Teil einer bestimmten hegemonialen Kraft zu sein (d. h. das politische Bewußtsein), ist die erste Phase einer weiteren, fortschreitenden Selbsterkenntnis, wo Theorie und Praxis schließlich zu einer Einheit gelangen. Folglich ist auch die Einheit von Theorie und Praxis keine mechanische Gegebenheit, sondern historisches Werden, dessen ursprüngliche und elementare Phase in der »Unterscheidung«, der »Loslösung«, der instinktiven Unabhängigkeit liegt und bis zum wirklichen und vollständigen Besitz einer kohärenten und einheitlichen Weltanschauung fortschreitet. Daher muß man betonen, daß die politische Entwicklung des Begriffs Hegemonie nicht allein einen politisch-praktischen, sondern auch einen großen philosophischen Fortschritt darstellt. Er bezieht notwendigerweise eine geistige Einheit mit ein und setzt diese voraus, sowie eine Ethik auf Grund einer Wirklichkeitsanschauung, die den Alltagsverstand überwunden hat und - sei es auch noch innerhalb gewisser enger Grenzen - kritisch geworden ist.

Jedoch ist während der jüngsten Entwicklung der Philosophie der Praxis die Vertiefung des Begriffs der Einheit von Theorie und Praxis noch in einem Anfangstadium: es sind noch Reste von Mechanizismus geblieben, weil man von der Theorie als »Komplement«, »Zubehör« der Praxis spricht, die Theorie als Magd der Praxis ansieht. Es ist wohl richtig, auch diese Frage historisch, als einen Aspekt der politischen Lage der Intellektuellen, zu sehen. Kritische Selbsterkenntnis bedeutet historisch und politisch die Bildung einer Elite von Intellektuellen: eine Menschenmasse »unterscheidet« sich nicht und wird nicht »für sich« unabhängig, wenn sie sich (im weiten Sinne) nicht organisiert Es gibt keine Organisation ohne Intellektuelle, d. h. ohne Organisatoren und Führer, und ohne eine konkrete Manifestation der theoretischen Seite des Theorie-Praxis-Nexus in Form einer »spezialisierten«, mit begrifflich philosophischer Arbeit befaßten Schicht. Aber dieser Prozeß der Heranbildung von Intellektuellen ist lang, schwierig, äußerst widerspruchsvoll, wobei die »Treue« der Massen manchmal einer schweren Prüfung umerzogen wird. (Und Treue und Disziplin sind zunächst die Form, in der sich die Zustimmung der Masse und ihre Mitarbeit an der Entwicklung des gesamten kulturellen Phänomens äußern.) Der Entwicklungsprozeß ist an eine Dialektik Intellektuelle - Masse gebunden, die Schicht der intellektuellen entwickelt sich quantitativ und qualitativ, aber jeder Sprung zu einer neuen »Weitläufigkeit« und Komplexit der Intellektuellenschicht ist an eine analoge Bewegung der Masse der Einfachen gebunden, die sich zu höheren Kulturstufen erhebt und zugleich ihren Einflußbereich erweitert, mit mehr oder weniger wichtigen individuellen oder klassengebundenen Vorstößen auf die Schicht der spezialisierten Intellektuellen hin. Jedoch wiederholen sich im Prozess ständig Momente, in denen zwischen Masse und Intellektuellen (oder gewissen Intellektuellen oder einer Gruppe von ihnen) eine Trennung erfolgt, ein Kontaktverlust und es entsteht der Eindruck des »Akzessor sehen«, Komplementären, Untergeordneten. Auf dem »praktischen«' Element des Theorie-Praxis-Nexus zu bestehen, nachdem beide Elemente gespalten, getrennt und nicht bloß unterschieden wurden (dies ist eben eine bloß mechanische und konventionelle Operation), bedeutet, daß man eine relativ primitive, eine noch ökonomischkorporative Phase durchläuft, in der sich der allgemeine Rahmen der »Basis-Struktur« quantitativ verändert und die entsprechende Überbau-Qualität zwar im Entstehen begriffen ist, sich aber noch nicht organisch entwickelt hat. Man muß die Bedeutung der politischen Parteien in der modernen Welt bei der Erarbeitung und Verbreitung der Weltanschauungen hervorheben, da sie die entsprechende Ethik und Politik entscheidend beeinflussen, d. h. fast als geschichtliche »Experimentatoren« dieser Anschauungen fungieren. Die Parteien treffen individuell unter der handelnden Masse eine Auswahl. Diese Auswahl erfolgt auf praktischem wie auf theoretischem Gebiet, und das Verhältnis zwischen Theorie und Praxis ist um so enger, je radikaler und vital erneuernd und antagonistischer sich diese Anschauungen den alten Denkweisen gegenüber verhalten. Deshalb kann man sagen, daß die Parteien Schöpfer einer neuen integralen und totalitären Intellektualität sind, Schmelztiegel der Vereinigung von Theorie und Praxis, verstanden als realer geschichtlicher Prozeß. Man versteht, daß die individuelle Mitgliedschaft und nicht die lose indirekte Mitgliedschaft vom Typ der Labour-Party zur Parteibildung notwendig ist, denn die Leitung »der gesamten ökonomisch-aktiven Masse« erfolgt dann nicht nach alten Schemata, sondern auf dem Wege der Erneuerung, die in ihren ersten Stadien nur vermittels einer Elite Massencharakter annehmen kann. Bei dieser Elite ist die der menschlichen Tätigkeit implizite Anschauung in gewisser Weise schon zu einem systematischen, kohärenten, aktuellen Bewußtsein und einem präzisen, entschiedenen Willen geworden. Eine dieser Phasen kann man in jener Diskussion untersuchen, in der sich die neuesten Entwicklungen der Philosophie der Praxis manifestieren, einer Diskussion, die in einem Artikel von D.S. Mirskij, Mitarbeiter der Cultura (4) zusammengefaßt wurde. Man kann sehen, wie sich der Übergang von einer mechanistischen, bloß äußerlichen Anschauung zu einer aktivistischen Anschauung vollzogen hat, die - wie bemerkt wurde - sich einem richtigen Verständnis der Einheit von Theorie und Praxis nähert, obwohl sie deren synthetische Bedeutung noch nicht völlig erkannt hat. Man kann beobachten, wie das deterministische, fatalistische, mechanistische Element ein unmittelbares ideologisches »Aroma« der Philosophie der Praxis war, eine Form von Religion und Reizmittel (aber im Sinne der Rauschgifte), das durch den »subalternen« Charakter bestimmter gesellschaftlicher Schichten sich als geschichtlich notwendig erwies und als solches gerechtfertigt ist. Wenn man im Kampf die Initiative nicht ergreifen kann und der Kampf selbst aus einer Reihe von Niederlagen besteht, wird der mechanische Determinismus zu einer erstaunlichen Kraft des moralischen Widerstands, des Zusammenhalts, des obstinaten und geduldigen Durchhaltevermögens. »Ich bin im Augenblick besiegt, aber auf lange Sicht arbeitet die Macht der Dinge für mich.« Der reale Wille verkleidet sich, in einem Akt des Glaubens an eine gewisse Rationalität der Geschichte, in eine empirische und primitive Form leidenschaftlicher Vorherbestimmung, die wie ein Ersatz der Prädestination, der Vorsehung etc. der konfessionellen Bekenntnisse aussieht. Man muß die Tatsache betonen, daß auch in einem solchen Fall in Wirklichkeit eine starke willensmäßige Aktivität besteht, ein direkter Eingriff in die »Macht der Dinge«, aber eben in einer verhüllten, impliziten Form, die sich ihrer selbst schämt; und deshalb ist das Bewußtsein widersprüchlich, ermangelt einer kritischen Einheit. Aber wenn der »Subalterne« zum Führer und Verantwortlichen für die ökonomische Aktivität der Massen wird, wird von einem gewissen Punkt an der Mechanizismus zur drohenden Gefahr. Es kommt zu einer Revision der gesamten Denkweise, weil sich der gesellschaftliche Status änderte. Der Herrschaft der »Macht der Dinge« werden engere Grenzen gesetzt. Warum? Weil im Grunde der Subalterne gestern eine Sache war und heute nicht mehr Sache, sondern geschichtliche Person, ein Protagonist, ist. War er gestern unverantwortlich, weil einem fremden Willen gegenüber »resistent«, so fühlt er sich heute verantwortlich, weil er nicht mehr widerspenstig, sondern handelnd und notwendig aktiv und unternehmend ist. Aber war er gestern je bloßer »Widerstand«, bloße »Sache«, bloße »Unverantwortlichkeit«? Gewiß nicht. Man muß vielmehr hervorheben, daß der aktive und reale Wille von Schwachen sich in das Gewand des Fatalismus kleidet. Deswegen sollte man immer auf die Fragwürdigkeit des medianischen Determinismus hinweisen, der als naive Philosophie der Massen erklärbar und nur als solche ein von innen kommendes Element der Kraft ist, aber zur Ursache von Passivität und blöder Selbstgenügsamkeit wird, sobald er als reflektierte und kohärente Philosophie von Intellektuellen übernommen wird, und das, ohne daß man wartet, bis der Subalterne führend und verantwortlich geworden ist. Ein Teil auch der subalternen Massen ist immer führend und verantwortlich, und die Philosophie dieses Teiles geht immer der Philosophie des Ganzen voraus, nicht allein als theoretische Antizipation, sondern auch als aktuelle Notwendigkeit.

Daß die mechanistische Auffassung eine Religion der Subalternen gewesen sei, ergibt eine Analyse der Entwicklung der christlichen Religion. Sie war bis zu einer gewissen geschichtlichen Periode und unter bestimmten geschichtlichen Bedingungen eine »Notwendigkeit«, eine notwendige Form des Willens der Volksmassen, und als solche besteht sie noch weiter. Sie war eine bestimmte Form der Rationalität der Welt und des Lebens und schuf den allgemeinen Rahmen für die reale praktische Tätigkeit. Im folgenden Abschnitt eines Artikels der Civiltä Cattolica (Heidnischer und christlicher Individualismus, 5. März 1932) scheint mir diese Funktion des Christentums gut charakterisiert: »Der Glaube an eine sichere Zukunft, an die Unsterblichkeit der zur Glückseligkeit bestimmten Seele, die Sicherheit, in die ewige Seligkeit eingehen zu können, waren Triebfedern für eine intensive Arbeit innerer Vervollkommnung und geistiger Erhebung. Hier hat der wahre christliche Individualismus den Impuls zu seinen Siegen gefunden. Alle Kräfte des Christen waren auf dieses edle Ziel gerichtet. Vom spekulativen, die Seele im Zweifel entnervenden Schwanken befreit, und von ewigen Prinzipien erleuchtet, fühlte der Mensch die Hoffnungen-Wiederaufleben; in der Gewißheit, von einer höheren Macht Im Kampf gegen das Übel gestützt zu werden, tat er sich Gewalt an und besiegte die Welt.« Aber auch in diesem Fall versteht man darunter das naive Christentum, nicht das jesuitisch verformte Christentum, das zu einem Narkotikum für die Volksmassen geworden ist.

Aber die Position des Calvinismus, der mit seiner ehernen Prädestinations- und Gnadenlehre eine große Expansion des Unternehmungsgeistes bewirkt (oder zur Form dieser Bewegung wird) ist noch ausdrucksvoller und bedeutsamer.(5)

Warum und wie verbreiten sich die neuen Weltanschauungen und werden populär? Beeinflussen sie (wie und in welchem Maße) während dieses Verbreitungsprozesses (der zugleich Altes ersetzt und sehr oft Neues und Altes kombiniert) die rationale Form, in der die neue Anschauung kommentiert und dargestellt wird, beeinflussen sie die Autorität ihres Kommentators und die der Denker oder Wissenschaftler (soweit sie zumindest generell anerkannt und geschätzt werden), auf die der Kommentator sich zu seiner Unterstützung beruft, und beeinflussen sie die Zugehörigkeit zur Organisation derjenigen, die die neue Anschauung vertreten (nachdem sie jedoch der Organisation aus anderen Motiven beigetreten sind)? In der Wirklichkeit .variieren diese Elemente je nach Gesellschaftsklasse und Kulturstufe der entsprechenden Gruppe. Aber die Untersuchung interessiert besonders hinsichtlich der Volksmassen, die ihre Anschauungen langsamer ändern, und die sie auf jeden Fall nie ändern, indem sie sie in sozusagen »reiner« Form übernehmen, sondern sie machen sie sich immer nur in mehr oder minder bizarren und sonderbaren Kombinationen zu eigen. Die rationale, logisch kohärente Form, das gründliche Abwägen, das kein positives oder negatives Argument von einigem Gewicht vernachlässigt, hat seine Wichtigkeit, ist aber bei weitem nicht entscheidend; es kann in untergeordneter Weise entscheidend sein, wenn die betreffende Person sich bereits in einer intellektuellen Krise befindet, zwischen Altem und Neuem hin und her treibt, den Glauben an das Alte verloren und sich noch nicht für das Neue entschieden hat etc.

Folgendes kann man über die Autorität der Denker und Wissenschaftler sagen: Sie ist im Volk sehr groß, aber faktisch hat jede Anschauung ihre Denker und Wissenschaftler, und die Autorität ist entsprechend verteilt; es besteht weiterhin für jeden Denker die Möglichkeit zu unterscheiden, zu bestreiten, es gerade auf diese Weise gesagt zu haben etc. Daraus ist zu schließen, daß die Verbreitung neuer Anschauungen aus politischen, in letzter Instanz gesellschaftlichen Gründen erfolgt, daß aber das formale Element der logischen Kohärenz, das autoritative und das organisatorische Element dieses Prozesses eine sehr große Rolle spielen, sobald sich - sei es bei den Einzelnen, sei es bei zahlreicheren Gruppen - eine allgemeine Orientierung vollzogen hat. Daraus folgert man jedoch, daß in den Massen als solchen die Philosophie nur als Glaube gelebt werden kann. Man stelle sich übrigens einmal die intellektuelle Position eines Mannes aus dem Volk vor. Er hat sich Meinungen, Überzeugungen, Kriterien der Unterscheidung und Verhaltensnormen gebildet. Jeder Vertreter eines ihm entgegen gesetzten Standpunktes kann - sofern er ihm intellektuell überlegen ist - seine Argumente besser vorbringen, ihn logisch sozusagen in den Sack stecken etc. Sollte aber deswegen der Mann aus dem Volk seine Überzeugungen ändern? Weil er diese in der unmittelbaren Diskussion nicht zur Geltung bringen kann? Aber dann könnte es ihm ja geschehen, seinen Standpunkt einmal pro Tag zu ändern, d. h. jedesmal, wenn er auf einen intellektuell höherstehenden ideologischen Gegner trifft. Auf welchen Elementen beruht also seine Philosophie? Und besonders seine Philosophie in jener Form, die für ihn als Verhaltensnorm von höchster Wichtigkeit ist? Unzweifelhaft ist das wichtigste Element nichtrationalen, glaubensmäßigen Charakters. Aber Glauben an wen und was? Besonders an die Gesellschaftsklasse, der er angehört, wenn sie diffus denkt wie er. Der Mann aus dem Volk denkt, daß sich einfach nicht so viele irren können, wie der argumentierende Gegner ihn glauben machen will, es stimme zwar, daß er selbst nicht fähig sei, seine Gründe vorzubringen und zu entwickeln wie der Gegner, aber d?ß es in seiner Gruppe jemanden gebe, der dies könne, gewiß auch besser als dieser Gegner hier. Und er erinnert sich daran, einmal eine Darstellung der Elemente seines Glaubens weitläufig, zusammenhängend gehört zu haben, so daß er davon überzeugt wurde. Er erinnert sich der Gründe nicht konkret und wüßte sie auch nicht zu wiederholen, aber er weiß, daß es sie gibt, weil er sie hat darlegen hören und von ihnen überzeugt wurde. Daß er einmal durchschlagend überzeugt wurde, ist der beständige Grund für das Andauern dieser Überzeugung, auch wenn er die ihr zugrundeliegenden Argumente nicht mehr zusammenbringt.

Aber diese Überlegungen führen zu dem Schluß, daß die neuen Überzeugungen der Volksmassen extrem labil sind, besonders wenn sie den orthodoxen (auch neuen) Anschauungen zuwiderlaufen, die den allgemeinen Interessen der herrschenden Klassen gesellschaftlich konform sind. Man kann dies sehen, wenn man über den Erfolg der Religionen und Kirchen nachdenkt. Die Religion oder eine bestimmte Kirche erhält sich ihre Gemeinschaft der Gläubigen (in gewissen Grenzen der Notwendigkeiten der allgemeinen historischen Entwicklung), wenn sie permanent und organisiert den eigenen Glauben stützt, unermüdlich dessen Apologetik wiederholt in jedem Augenblick mit den stest gleichen Argumenten kämpft und eine Hierarchie von Intellektuellen unterhält, die dem Glauben zumindest den Schein der Würde des Denkens geben. Jedesmal, wenn aus politischen Gründen die Kontinuität des Verhältnisses zwischen Kirche und Gläubigen gewaltsam unterbrochen wurde, wie während der Französischen Revolution, waren die von der Kirche erlittenen Verluste nicht zu errechnen und, hätte der Umstand der erschwerten Religionsausübung eine gewisse Zeit überschritten, so kann man sich vorstellen, daß die Verluste definitiv gewesen wären. Eine neue Religion wäre entstanden, wie sie übrigens in Frankreich in Kombination mit dem alten Katholizismus entstanden ist. Daraus lassen sich bestimmte Notwendigkeiten für jede kulturelle Bewegung ableiten, die dahin tendiert, den Alltagsverstand und generell die alten Weltanschauungen zu ersetzen: i. nie müde zu werden, die eigenen Argumente zu wiederholen (wobei ihre literarische Form wechseln kann): die Wiederholung ist das wirksamste didaktische Mittel, um auf die Volksmentalität einzuwirken; 2. unermüdlich zu arbeiten, um intellektuell immer umfassendere Volksschichten intellektuell zu fördern, dem amorphen Massenelement Persönlichkeit zu verleihen, was bedeutet, an der Bildung eines neuen Typs von Intellektuellen-Eliten zu arbeiten, die direkt aus der Masse hervorgehen und gleichwohl mit ihnen in Verbindung bleiben, um zu »Korsettstangen« zu werden. Wird diese zweite Notwendigkeit erfüllt, so verändert sie wirklich das »ideologische Panorama« einer Epoche. Andererseits können diese Eliten sich nicht bilden und entwickeln, ohne daß eine hierarchische Gliederung der Autorität und intellektuellen Kompetenz entsteht, die in einem großen einzelnen Philosophen gipfeln kann, falls er fähig ist, sich konkret die Bedürfnisse der massiven ideologischen Gemeinschaft zu vergegenwärtigen, und zu verstehen, daß sie nicht die Wendigkeit eines individuellen Gehirns haben kann, und falls es ihm dennoch gelingt, die kollektive Lehre formal in einer Weise auszuarbeiten, die der Denkweise eines Kollektivdenkers am meisten entsprechend und angepaßt ist.

Es ist evident, daß eine derartige massenwirksame Konstruktion nicht »willkürlich« um irgendeine Ideologie herum errichtet werden kann. Der formal konstruktive Wille einer Persönlichkeit oder einer Gruppe, die sich dies aus einem den eigenen philosophischen oder religiösen Überzeugungen entspringenden Fanatismus vornimmt, genügt nicht. An der Art, wie die Masse einer Ideologie anhängt oder nicht anhängt, erweist sich die reale Kritik der Rationalität und Geschichtlichkeit der Denkweisen. Die willkürlichen Konstruktionen scheiden mehr oder weniger schnell aus dem historischen Wettkampf aus, auch wenn es ihnen auf Grund einer Kombination unmittelbar günstiger Umstände gelingt, sich einer gewissen Popularität zu erfreuen; die Konstruktionen hingegen, die den Bedürfnissen einer komplexen und organischen geschichtlichen Periode entsprechen, werden sich schließlich immer durchsetzen und vorherrschen, auch wenn sie viele Zwischenphasen durchlaufen, in denen sie sich nur in mehr oder minder bizarren und sonderbaren Kombinationen behaupten können. Diese Überlegungen werfen viele Probleme auf: die wichtigsten lassen sich in der Beschaffenheit und in der Qualität der Beziehungen zwischen den verschiedenen intellektuell qualifizierten Schichten ausdrücken, d. h. in der Bedeutung und in der Funktion, die der schöpferische Beitrag der höherstehenden Gruppen haben kann und soll in Verknüpfung mit der organischen Fähigkeit der intellektuell untergeordneten Gruppen zur Diskussion und zur Erarbeitung neuer kritischer Begriffe. Es handelt sich also darum, die Grenzen der Freiheit der Diskussion und der Propaganda festzulegen. Die Freiheit darf nicht administrativ und vom Polizeistandpunkt aus begriffen, sondern muß im Sinne der Selbstbeschränkung aufgefaßt werden, die die Führer ihrer eigenen Tätigkeit auferlegen, also eigentlich im Sinne der Fixierung einer kulturpolitischen Linie. Mit anderen Worten: wer fixiert die »Rechte der Wissenschaft« und die Grenzen der wissenschaftlichen Forschung? Und können diese Rechte und Begrenzungen eigentlich festgelegt werden? Die Erforschung neuerer und besserer Wirrheiten, klarerer und kohärenter Formulierungen der Wahrheiten sollte der freien Initiative der einzelnen Wissenschaftler selbst überlassen sein, auch wenn sie ständig die wesentlichsten Prinzipien zur Diskussion stellen. Es wird übrigens leicht festzustellen sein, wenn dergleichen Initiativen interessierte Motive nichtwissenschaftlicher Natur zugrunde liegen. Es ist auch unschwer vorstellbar, daß die individuellen Initiativen diszipliniert und geordnet werden, durch das Sieb von Akademien oder kultureller Institutionen verschiedener Art gehen und erst nach einer Selektion veröffentlicht werden etc.

Es wäre interessant, in einem Land jene kulturelle Organisation konkret zu untersuchen, die die ideologische Welt in Bewegung hält, und ihr praktisches Funktionieren zu beobachten. Eine Untersuchung des Zahlenverhältnisses zwischen dem beruflich sich aktiver Kulturarbeit widmenden Personal und der Bevölkerung der einzelnen Länder wäre auch nützlich, bei annähernder Berechnung der freien Kräfte. Die Schule in allen Abstufungen und die Kirche sind, was das beschäftigte Personal betrifft, die beiden führenden kulturellen Organisationen eines Landes. Die Zeitungen, Zeitschriften und der Buchhandel, das Privatschulwesen, sei es als Ergänzung des Staatsschulwesens, sei es als Kulturinstitution vom Typ der Volkshochschulen. Andere Berufe verkörpern in ihrer spezialisierten Tätigkeit eine nicht unerhebliche Fraktion, wie die Mediziner, die Offiziere, die Richter. Aber hervorzuheben ist, daß in allen Ländern, wenn auch in verschiedenem Maß, ein großer Riß zwischen Volksmassen und den intellektuellen Gruppen klafft, selbst bei so großen und den Randgebieten des nationalen Lebens nahen Gruppen wie den Lehrern und Pfarrern; und das, weil selbst dort, wo es die Regierenden betonen, der Staat als solcher keine einheitliche, kohärente und homogene Anschauung hat, so daß die intellektuellen Gruppen von Schicht zu Schicht und selbst innerhalb ein und derselben Schicht divergieren. Die Universitäten, von einigen Ländern abgesehen, üben keinerlei vereinheitlichende Funktion aus, oft hat ein freier Denker mehr  Einfluß als die gesamte Institution der Universität.

Über die geschichtliche Funktion der fatalistischen Auffassung von der Philosophie der Praxis könnte man eine Totenrede halten, wobei ihre Nützlichkeit für einen gewissen Geschichtsabschnitt verteidigt werden darf, aber gerade deswegen die Notwendigkeit betont werden muß, daß sie nun mit allen angebrachten Ehren zu begraben ist. Man könnte ihre Funktion wirklich mit der Gnaden- und Prädestinationslehre vom Beginn der Moderne vergleichen, die dann in der klassischen deutschen Philosophie und ihrer Auffassung der Freiheit als Bewußtsein der Notwendigkeit gipfelte. Sie war ein populäres Surrogat des Ausrufs »Gott will es so«, jedoch auch auf dieser primitiven und elementaren Stufe war sie der Beginn einer moderneren und fruchtbareren Anschauung als der, die im »Gott will es so« oder in der Gnadenlehre enthalten war. Ist es möglich, daß »formal betrachtet« eine neue Anschauung anders als im groben, ungeschlachten Gewand einer Plebs auftritt? Und dennoch gelingt es dem Historiker mit der gebotenen Übersicht, festzustellen und zu verstehen, daß die immer rauhen und steinigen Anfänge einer neuen Welt höherwertiger sind als der Niedergang einer im Todeskampf liegenden Welt und ihrer Schwanengesänge.

Anmerkungen

1) Vielleicht ist es vom »praktischen« Gesichtspunkt aus nützlich, die Philosophie vom Alltagsverstand zu unterscheiden, um den Übergang von einem zum anderen Moment besser bestimmen zu können: in der Philosophie ist die individuelle Erarbeitung des Denkens das charakteristische Merkmal, im Alltagsverstand indessen überwiegt der diffuse Charakter allgemeinen Denkens einer bestimmten Epoche in einem bestimmten Milieu des Volkes. Aber jede Philosophie tendiert dahin, in einem ebenfalls begrenzten Milieu (dem aller Intellektuellen) Alltagsverstand zu werden. Deswegen muß eine Philosophie erarbeitet werden, die - weil sie bereits verbreitet ist, oder wegen ihrer Verbindung mit dem praktischen oder ihm impliziten Leben eine Tendenz zur Verbreitung hat - ein erneuerter Alltagsverstand wird mit der Kohärenz und der Kraft der individuellen Philosophien: das kann nicht eintreten, wenn man nicht ständig die Notwendigkeit des kulturellen Kontaktes mit den »Einfachen« verspürt.

2) Die Ketzerbewegungen des Mittelalters waren eine Reaktion auf das Polikastertum der Kirche und ihres Ausdrucks, der scholastischen Philosophie, und basierten zugleich auf den Konflikten, die sich durch die Entstehung der Kommunen ergaben. Der Bruch zwischen Masse und Intellektuellen innerhalb der Kirche wurde durch das Auftreten jener religiösen Volksbewegungen »geflickt«, die in Form der Bettelorden und in einer neuen religiösen Einheit von der Kirche wieder absorbiert wurden.

3) Dazu die (von Steed in seinen Memoiren erzählte) Anekdote vom Kardinal, der dem englischen katholikcnfreundlichen Protestanten erklärt, daß die Wunder des Heiligen Gennaro für das einfache Volk von Neapel Glaubensartikel seien, nicht aber für die Intellektuellen, daß auch das Evangelium »Übertreibungen« enthielte und auf die Frage: »Aber sind wir keine Christen?« antwortet: »Wir sind Prälaten«, d. h. Politiker« der Kirche von Rom.«

4) Wahrscheinlich ist der Aufsatz "Demokratie und Partei im Bolschewismus" in "Demokratie und Partei", hrsg v. P. R. Rohden, Wien 1932, gemeint. [Ital. Ausg.]

5) Vgl. dazu Max Weber: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. Gesammelte An/salze zur Rcligionfsoziologie. I. Tübingen 1914 und Dernard Groethuysen:Origines de l'esprit bourgeois en France. /: L' Eglise et la bourgeoisie. Paris 1927. [D. Hrsg.]

 

Editorische Anmerkungen

Der Text wurde entnommen aus:

Antonio Gramsci, Philosophie der Praxis, Eine Auswahl, hrg. und übersetzt von Christian Riechers, fotomechanischer Nachdruck als Organisationausgabe der KPD 1979, ohne Ort, basierend auf der Ausgabe von
Fischer, Frankfurt am Main. 1967, S. 132-146

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