Allgemeine Geschichte des Sozialismus und der sozialen Kämpfe
 
 
von
Max Beer

12/07

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XI. VÖLKERKRIEG UND REVOLUTION (1914—1920)    Zur Kapitelübersicht

1. Versagen und Spaltung der II. Internationale.

Die im Busen der kapitalistischen Ordnung sich immer erneuernden und sich progressiv steigernden Widersprüche und Gegensätze entfachten in ihren elementaren Kollisionen einen Weltbrand, den vorzubilden oder zu symbolisieren auch die schöpferischste Phantasie der großen mytheazeugenden Zeitalter versagt haben würde.

Seiner nach ihm kommenden zweiten Generation, also seinen Enkeln, weissagte Heinrich Heine im Juli 1842 über Weltkrieg und Weltrevolution: „Wilde, düstere Zeiten dröhnen heran, und der Prophet, der eine neue Apokalypse schreiben wollte, müßte ganz neue Bestien erfinden, und zwar so erschreckliche, daß die älteren Johanneischen Tiersymbole dagegen nur sanfte Täubchen und Amoretten wären..."

Der Sturm raste durch die Weltgeschichte. Aus dem Kampfe zwischen Entente (England-Frankreich-Rußland) und Zweibund (Deutschland-Österreich), begonnen im August 1914, wurde ein Ringen des Menschengeschlechts gegeneinander.

Bei Ausbruch des Weltkrieges schieden sich die kriegführenden Völker nicht in Kapitalisten und Proletarier, sondern in Alliierte und Zweibund. Die meisten sozialdemokratischen Parteien, mit Ausnahme der Bolschewiki, handelten nach nationalen Motiven und kämpften gegeneinander als Feinde. Im Innern der kriegführenden Länder herrschte vorerst der Burgfriede (franz. union sacree, engl. industrial truce); wirtschaftliche Konflikte wurden vermieden; nach außen hin standen sich Völkergruppen gegenüber, wie die Diplomatie sie seit Jahrzehnten gebildet hatte. Die Scheidungslinie wurde also nicht gezogen durch den sozialistisch-proletarischen Klassenkampf, sondern durch den kapitalistischen Imperialismus.

Da ein Teil Belgiens im August 1914 von deutschen Heeresteilen besetzt wurde, konnte das Internationale Sozialistische Büro nicht in Brüssel verbleiben. Der Sekretär Huysmans zog nach dem Haag und bildete zusammen mit den holländischen Führern das Büro, während Vandervelde in die belgische Regierung eintrat. Huysmans bemühte sich vergeblich, eine internationale Konferenz zusammenzubringen; nur die Neutralen kamen 1917—18 in Kopenhagen zusammen und appellierten an die Sozialisten der kriegführenden Länder, dem Krieg ein Ende zu machen. Die „alliierten" Sozialisten hielten am 17. Februar 1915 eine Konferenz in London ab und verlangten die Fortsetzung des Krieges; nur die Bolschewiki und Menschewiki lehnten die Teilnahme an der Konferenz ab. Am 12. bis 13. April 1915 waren die deutschen und österreichisch-ungarischen Sozialisten zu einer Konferenz in Wien zusammen. Nach und nach wurde es doch vielen Sozialisten klar, daß sie sich auf einem Irrwege befanden, daß sie den alten Überzeugungen untreu wurden, und sie versuchten zum internationalen Standpunkt zurückzukehren.

Die ersten internationalen Zeichen der Spaltung waren die Minderheitskonferenzen in Zimmerwald und Kienthal: im September 1915 versammelten sich in Zimmerwald (Schweiz) revolutionäre und unabhängige Sozialisten aus Rußland (Lenin, Sinowjew, Radek), Deutschland (Ernst Meyer, Ledebour, Hoffmann usw.), Frankreich (Blanc, Brizon, Loriot usw.), sowie aus einigen neutralen Ländern und forderten die Anwendung des Klassenkampfprinzips („Burgkrieg, nicht Burgfrieden"). Die Zimmerwalder Linke — geführt von den Bolschewiki — wurde die Keimzelle der III. Internationale. Eine ähnliche Konferenz tagte April 1916 in Kienthal (Schweiz). Auf beiden Konferenzen fehlten die Engländer, da ihnen die britische Regierung die Pässe verweigerte. Nach Ausbruch der russischen Revolution (März 1917) lud Huysmans die II. Internationale zu einer Konferenz nach Stockholm, aber da die französische und die britische Regierung den Delegierten die Pässe verweigerte, konnte die Konferenz nicht stattfinden.

Inzwischen gewannen in den einzelnen kriegführenden Ländern die oppositionellen Strömungen an Anhang. In Deutschland war Karl Liebknecht der erste, der gegen den Burgfrieden auftrat (Dezember 1914). Mit ihm wirkten Rosa Luxemburg, Leo Jogiches, Franz Mehring und ein kleiner Kreis, die im März 1915 die Zeitschrift „Internationale" und etwas später den Spartakusbund gründeten und von Zeit zu Zeit „Spartakusbriefe" in Umlauf setzten, die in schärfster Weise den Prinzipienverrat der offiziellen Parteipolitik brandmarkten. Ein Jahr später trat in der SPD. eine größere Spaltung ein: 18 Fraktionsmitglieder, geführt von Haase, bildeten die Sozialistische Arbeitsgemeinschaft, die sich im April 1917 als Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands (USPD.) konstituierte. Die USPD. zusammen mit dem Spartakusbund wirkte für die Re-volutionierung der Geister. — In Frankreich machte sich iiuf den Tagungen der Parteiausschüsse ebenfalls eine oppositionelle Strömung bemerkbar, die von Jean Longuet geführt wurde, aber die französische Opposition war viel weniger revolutionär als die USPD. Links von der zentristischen Opposition entstand jedoch nach und nach eine kommunistische Gruppe, die auf dem Parteitag von Tours (Dezember 1920) ihren Antrag auf Anschluß an die III. Internationale mit 3252 gegen 1450 Stimmen durchsetzte. Die Partei spaltete sich in eine sozialdemokratische und kommunistische. — In England spaltete sich die kommunistische Gruppe von den alten sozial-

demokratischen Parteien ab und verwandelte sich 1920—1921 in eine Kommunistische Partei. Ähnliche Spaltungen vollzogen sich in den Balkanländern, Italien, Holland, Schweden, Norwegen, Dänemark und in den Vereinigten Staaten von Amerika. Man darf also sagen: Während der Kriegs- und Nachkriegs jähre kamen die prinzipiellen und taktischen Gegensätze, die 1889—1914 in der II. Internationale entstanden waren, zum vollen Durchbruch. Die reformistischenund die revolutionären Tendenzen gewannen feste Gestalt und verkörperten sich nach einigen Schwankungen in zwei besonderen, einander bekämpfenden allgemeinen Organisationen, die SAI. (Sozialistische Arbeiterinternationale, Fortsetzung der alten II. Internationale) und die III. (kommunistische) Internationale.

Behandeln wir vorerst die SAI. in ihrem Wiederaufleben 1919—1928.

2. Erneuerung der II. Internationale.

Am schwierigsten war es, die reformistischen (sozialdemokratischen) Parteien wieder zu einem gewissen Zusammenwirken zu bringen. Die verwundeten nationalistischen Gefühle der französischen und belgischen Mehrheit sträubten sich mächtig, die deutsche sozialdemokratische Mehrheit als Genossen anzuerkennen; und die pazifistischen Minderheiten fanden es schwierig, mit den nationalistischen Mehrheiten in derselben Internationale zu sitzen. Diese erste Nach-kriegskonferenz der Sozialdemokratischen Parteien tagte in Bern in der ersten Februarwoche 1919, in der die Vertreter der deutschen Sozialdemokratie gezwungen wurden, eine Art Schuldbekenntnis abzulegen. Die Konferenz sprach sich gleichzeitig für die Demokratie gegen die Diktatur aus, wobei jedoch die Minderheitsvertreter sich gegen jede Brandmarkung der russischen Sowjetrepublik verwahrten, in der Hoffnung, daß es noch gelingen könnte, eine einheitliche Internationale, also einschließlich der Bolsche-wiki, herzustellen. Als auf den folgenden Konferenzen diese Hoffnung sich als trügerisch erwies, gründeten die Minderheiten auf einer in Wien im Februar 1921 abgehaltenen Konferenz die „Internationale Arbeitsgemeinschaft Sozialistischer Parteien" (IASP. oder die Wiener resp. die 2 i/2-Internationale), die in allen wichtigen Fragen eine Mittelstellung zwischen der II. und der III. Internationale einnahm. Von beiden Gruppen wurden dann von Zeit zu Zeit besondere Konferenzen abgehalten, da aber im Laufe der Jahre 1921—1923 die Parteien der IASP. immer schwächer wurden, und zwar teils durch Anschluß ihrer Mitgliedschaften an die III. Internationale, teils durch Wiedereintritt in die alten sozialdemokratischen Organisationen, so folgte die IASP. der Einladung der II. Internationale zu dem in Hamburg während der Pfingsttage 1923 abgehaltenen Kongresse, auf dem die Verschmelzung zustande kam: die IASP. löste sich auf und trat in die II. Internationale ein, die sich hinfort „Sozialistische Arbeiterintemationale" (SAI.) nennt. Der Hamburger Kongreß (1923) wird als der erste der Nachkriegs-Serie der internationalen sozialdemokratischen Kongresse betrachtet. Seitdem tagten Kongresse der SAI. im August 1925 in Marseiile und im August 1928 in Brüssel. Der Marseiller Kongreß ist also der zweite, der Brüsseler der dritte. Es hat hier keinen Zweck, auf die zahlreichen Resolutionen dieser Kongresse einzugehen, aber die Grundzüge der Anschauungen und der Taktik der SAI. dürfen etwa wie folgt formuliert werden:

Die revolutionären Erhebungen, die in den Jahren 1917—1920 in Ost- und Mitteleuropa stattfanden, waren keine sozialen, proletarischen Revolutionen. Die kapitalistische Ordnung ist nicht zusammengebrochen. Rußland erlebte eine bäuerlich-bürgerliche Revolution. Im alten Habsburgerreiche siegten die bis dahin unterdrückten Nationalitäten, deren ideologischer Kern bürgerlich ist. In Deutschland siegte die Demokratie; dasselbe gilt von den Eroberungen der Arbeitermassen in Belgien (allgemeines Wahlrecht) und Großbritannien (vollständiges Wahlrecht). Gleichzeitig aber schützten die sozialdemokratischen und die Arbeiterparteien der SAI. ihre Länder vor dem Bolschewismus. Sie hielten die Ordnung aufrecht; wo die alte politische Ordnung zusammenbrach und ökonomische Wirren

entstanden, waren es die Sozialdemokraten, die in die Bresche sprangen, um den wirtschaftlichen Wiederaufbau zu ermöglichen. Die Sozialdemokratie hat sich als staatserhaltende Macht erwiesen. Sie beansprucht deshalb, am politischen und wirtschaftlichen Wiederaufbau als gleichberechtigter Faktor teilzunehmen, damit der Wiederaufbau kein rein kapitalistischer sein soll. Mit anderen Worten: die Sozialdemokratie soll in Staat und Wirtschaft mitbestimmen und die Interessen der Arbeiterschaft hierbei wahrnehmen.

Dies ist das Wesen der Anschauungen und der Taktik der der SAI. angeschlossenen Parteien. Hieraus entspringt parlamentarisch die Koalitionsregierung, wirtschaftlich die Arbeitsgemeinschaft zwischen Unternehmern und Gewerkschaften — außenpolitisch eine skrupellose Interventionshetze gegen die Sowjetunion(1).

Das hervorstechendste Kennzeichen der Nach-kriegs-Sozialdemokratie ist ihre Einwilligung zur Beteiligung an Koalitionsregierungen oder Übernahme der Regierung ohne eine eigene Mehrheit für sich zu haben, also auf die Hilfe der bürgerlichen Parteien angewiesen zu sein. Diese Eventualitäten waren bis 1914 unmöglich. Nur in Frankreich hatten sich einzelne Sozialisten in den Jahren 1899—1904 an den bürgerlichen Regierungen beteiligt, so zum Beispiel: Millerand, Briand, Viviani, aber sie wurden von der großen Mehrheit der Arbeiterbewegung nicht anerkannt oder sie wurden aus der Partei ausgeschlossen. Hingegen wird seit 1918 die Übernahme der Regierung oder die Beteiligung an der Regierung durch die sozialdemokratischen Parteien (einschließlich der Arbeiterparteien), auch wenn deren Fraktionen in der Minderheit sind, doch als richtig anerkannt. Man hält — nach der neuen Lehre Karl Kautskys — die Koalitionsregierung — und nicht die Diktatur des Proletariats — für das Übergangsstadium vom Kapitalismus zum Sozialismus. In Deutschland, Deutsch-österreich, Lelgien, Großbritannien, Dänemark, Schweden, Tschechoslowakei sind Koalitionsregierungen oder Minderheitsregierungen in den Jahren 1918 bis 1929 mehrmals vorgekommen. Diese Parteien betrachten dies nicht als eine Abweichung von der Klassenkampflehre, wenn auch kleine Minderheiten unter ihnen — linke Flügel — gegen den Eintritt der Sozialdemokratie in eine Koalitionsregierung zahmen Einspruch erheben. Diese sozialdemokratische Taktik wird fast überall von den Gewerkschaften gebilligt und unterstützt. Koalitionsregierung ist nur der politische Ausdruck der ökonomischen Arbeitsgemeinschaft zwischen Kapital und Gewerkschaften.

3. Lenin und der Leninismus(2).

Als sich die Sozialdemokratie in allen kapitalistischen Staaten unter den Erschütterungen des Weltkrieges in eine vaterländische, kleinbürgerlich-reformistische Partei umwandelte mit den Losungen der Wirtschaftsdemokratie und der Koalition mit den bürgerlichen Parteien, erlebte der revolutionäre Marxismus seine theoretische und organisatorische Wiedergeburt in der Kommunistischen Internationale. Ihre Begründer und Vorkämpfer waren die Bolschewiki, die dem Marxismus treugebliebenen radikalen russischen Sozialdemokraten; ihr überragender theoretischer, politischer und organisatorischer Führer war Lenin.

Lenin (oder, wie er eigentlich hieß: Wladimir Iljitsch Uljanow) ist 1870 in Simbirsk (jetzt: Uljanowsk) als Sohn eines Schulinspektors geboren. Mit 17 Jahren mußte er, wie oben berichtet, erleben, daß sein älterer Bruder Alexander wegen Beteiligung an einem Attentat auf Alexander III. gehängt wurde. Schon als Student (Jurist) wurde Lenin wegen revolutionärer Umtriebe verfolgt. Von Anfang der 90 er Jahre an wirkte er in der unterirdischen Arbeiterbewegung Petersburgs, war Mitbegründer des „Kampfbundes zur Befreiung der Arbeiter" (1895), verfaßte Flugschriften über die täglichen Nöte des Fabrikproletariats (über Strafgelder-Unwesen usw.). Die Lektüre der Schriften von Marx hatten Lenin zum überzeugten Marxisten und Sozialdemokraten gemacht. So war denn auch sein Schicksal: Verhaftungen, Verbannung nach Sibirien, schließlich das Exil im Auslande (Deutschland, England, Schweiz). Eine Fülle größerer und kleinerer literarischer Arbeiten über die kapitalistische Entwicklung Rußlands, die Agrarfrage, und vor allem über parteitaktische Probleme entstanden. Von 1900—1903 gab Lenin im Ausland zusammen mit Plechanow und anderen den „Funken" (Iskra), das illegale Zentralorgan der russischen Sozialdemokratie, heraus. In der russischen Partei vollzog sich damals unter Lenins Führung die klare und scharfe Scheidung von allem Reformismus und Opportunismus. Auf dem Parteitag in London 1903 machte sich der linke (bolschewistische) Flügel der Partei mit Lenin an der Spitze organisatorisch selbständig. Es kam die Revolution 1905, dann die furchtbare Reaktionsperiode, und wieder seit 1912 ein Aufschwung der Bewegung. Lenin war in allen diesen Jahren der unbestrittene Leiter der Bolschewiki und der unerbittliche Bekämpfer der Menschewiki (Reformisten). Die Novemberrevolution 1917 krönte sein Werk. Mit einer ans Übermenschliche grenzenden Arbeitskraft übernahm Lenin die Führung des ersten Arbeiterstaates der Welt. 1918 wurde er durch das Attentat einer Sozialrevolutionärin schwer verletzt. An den Folgen, vor allem aber aufgerieben durch die außergewöhnliche Arbeitslast ist Lenin 1924 gestorben.

Was Marx und Engels für die Herausbildung des wissenschaftlichen Sozialismus und der Arbeiterbewegung im 19. Jahrhundert bedeutet haben, das bedeutet Lenin für die theoretische und praktische Ausgestaltung des modernen Kommunismus. Es ist daher verständlich, daß man nach dem Tode Lenins den ganzen Gehalt seiner Lehre und seines Wirkens im Worte „Leninismus" zusammenfaßte. Diese Bezeichnung wollte keinen Gegensatz zum Marxismus zum Ausdruck bringen. Lenin war Zeit seines Lebens orthodoxer Marxist(3). „Der Leninismus ist der Marxismus der Epoche des Imperialismus und der p roletarischen Re volution", so hat Stalin 1924 formuliert (s. Stalin: „Probleme des Leninismus", 1926, S. 70). Damit ist klar gesagt, in welcher Richtung der Leninismus eine Anwendung, eine Aktualisierung und damit die marxistische Weiterführung des Marxismus ist.

1. D er Leninismus und die Marxsche Philosophie. Die marxistische Weltanschauung ist von Lenin vollständig übernommen worden. In einer sehr umfangreichen Streitschrift „Materialismus und Empiriokritizismus" hat Lenin 1909 den dialektischen Materialismus von Marx und Engels gegen die Versuche einer sich an den Philosophen Ernst Mach anlehnenden revisionistischen Verwässerung geradezu leidenschaftlich verteidigt. Mit dieser restlosen Anerkennung und ständigen Anwendung des philosophischen Marxismus festigte Lenin die Weltanschauung des dialektischen Materialismus und machte sie zur Grundlage aller wissenschaftlichen Forschung im heutigen Rußland.

2. Der Leninismus und die Marxsche Ökonomie. Die Marxsche Ökonomie erfuhr durch Lenin insoweit eine Erweiterung, als die imperialistische Entwicklung des Kapitalismus zu Lebzeiten von Marx und Engels noch nicht ausgereift war. Wenn auch Engels in seiner Entwicklung des Sozialismus (1891) bereits das Kommen eines Monopol-Kapitalismus vorausgesagt hat, die Details der imperialistischen Epoche konnte er damals noch nicht aufzeigen. Lenin hat das ökonomische Inventar des Kapitalismus der gegenwärtigen Periode aufgenommen, hat den Tatbestand des Imperialismus und den Versuch seiner theoretischen Durchleuchtung durch das marxistische Zentrum (Hilferdings Finanzkapital 1910) überprüft und die notwendigen marxistischen Schlußfolgerungen daraus gezogen („Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus", 1917). Besonders wichtig wurde die ökonomische Analyse des modernen Reformismus, wobei Lenin die Herausbildung einer „Arbeiteraristokratie" auf Grund der kolonialen Extraprofite der Kapitalistenklasse feststellte. Dieses Studium der imperialistischen Erscheinungen gab Lenin auch die Einsicht in die notwendige Verschmelzung der proletarischen Weltrevolution mit den kolonialen Befreiungsbewegungen gegen die imperialistischen Großmächte. Und die Untersuchung der weltwirtschaftlichen Verbundenheit der ungleichmäßig vorwärtsschreitenden kapitalistischen Staaten zeigte, warum die Kette des weltkapitalistischen Systems reißen konnte in einem Lande wie Rußland, das eben wirtschaftlich und politisch das schwächste Glied der Kette darstellte.

3. Der Leninismus und die marxistische Politik. Die größte Bereicherung brachte der Leninismus dem Gebiet der marxistischen Politik. Freilich war es auch hier nur die konsequente Anwendung der Marxschen Staats- und Revolutionslehre, die von Lenin in seiner berühmtesten Schrift „Staat und Revolution, die Lehre des Marxismus vom Staat und die Aufgaben des Proletariats in der Revolution" (1917) aus dem Schrifttum von Marx und Engels wieder ausgegraben und zum erstenmal systematisch zusammengestellt worden ist. Lenin, der Führer der ersten siegreichen proletarischen Revolution, war durch die welthistorische Entwicklung auf politische Probleme gestoßen, die eben nun erst theoretisch und praktisch erschlossen werden konnten. Auch für Marx war — nach seinem eigenen Wort (Brief an Weydemeyer vom 5. März 1852) — die Forderung der proletarischen Diktatur als Übergangsstaat zum vollendeten Kommunismus die zentrale Losung. Wie würde eine solche Diktatur aussehen?! Dafür hatte zu Marx' Lebzeiten die Pariser Kommune nur ein sehr beschränktes Anschauungsmaterial geliefert. Lenin stellte jetzt im einzelnen die Unterschiede zwischen bürgerlicher Demokratie und proletarischer Diktatur fest und entwickelte die Sowjetverfassung des siegreichen Proletariats. Eingehend untersuchte er die Voraussetzungen der proletarischen Revolution und die Aufgaben der Partei. Die proletarische Revolution kann jedoch nur zum Siege gelangen auf Grund der Verbindung von Proletariat und Bauerntum. Es war begreiflich, daß für die Arbeiterrevolutionäre in dem ungeheuren russischen Agrarreich die Agrarfrage von vornherein eine andre Rolle spielen mußte als in Westeuropa. Doch bewies sich die Universalität des Marxismus auch hier: Lenin konnte sich auch zu diesem Punkt auf Lehren von Marx und Engels berufen, die freilich die SPD. längst vergessen hatte. Engels schrieb 1894 von dem Bauern als dem „natürlichen Bundesgenossen" des Arbeiters, und Marx hatte schon 1856 von der Notwendigkeit gesprochen, „die proletarische Revolution durch eine Art zweiter Auflage des Bauernkrieges zu unterstützen" (Marx-Engels Briefwechsel, II, 108). In Lenins Politik wurde das Kampfbündnis mit dem Bauern zur entscheidenden Forderung. Die Arbeiterklasse muß in diesem Bund dank ihrer höheren wirtschaftlichen Entwicklungsstufe die „Hegemonie" (Führerrolle) haben. Ein anderes politisches Hauptstück war für Lenin die Betonung des Rechtes der nationalen Selbstbestimmung bis zur Lostrennung eines unterdrückten Volkes. Auch diese Seite der Leninschen Politik ergab sich aus den russischen Staatseigentümlichkeiten, — der Zarismus hatte sich ja eine Unzahl kleiner Nationalitäten rücksichtslos einverleibt. Mit politischem Weitblick verstand es Lenin, alle diese Völker durch größtes nationales Entgegenkommen mit der proletarischen Revolution zu verbinden(4). Lenin war überhaupt ein genialer Politiker, der bei schärfster theoretischer Klarheit und Unbeugsamkeit vor taktischen Kompromissen nie zurückschreckte, wenn die „Hurra-Lösung" eines Problems eben noch nicht möglich war. So war es Lenin, der sich 1918 zum Frieden von Brest-Litowsk verstand, um für den Aufbau der Roten Armee „eine Atempause" zu erhalten; so war es Lenin, der 1921 den Abbau des Kriegskommunismus durchsetzte, um durch die Einführung der „Neuen ökonomischen Politik" die Gewinnung der breiten Bauernmassen sicherzustellen.

Aus der bewußten Hinarbeit auf die Eroberung der proletarischen Diktatur ergab sich für Lenin die „Bolschewisierung" seiner Partei — und ebenso der Internationale — als einer Zusammenfassung aller entschlossenen „Berufsrevolutionäre": strenger demokratischer Zentralismus, eiserne Disziplin, Sicherungen für illegale Weiterführung der Partei und Vorbereitung revolutionärer Massenaktionen und des bewaffneten Aufstandes. Damit trat an die Stelle des westeuropäischen sozialdemokratischen Parteitypus, einer Vereinigung von örtlichen „Wahlvereinen", die um die Betriebszellen als politische Kristallisationspunkte sich sammelnde revolutionäre Kampfgemeinschaft der Kommunisten. Und an Stelle der selbständigen, durch die II. Internationale nur locker zusammengefaßten Landesparteien traten die Landessektionen der Kommunistischen Internationale.

„Die Kommunistische Partei ist der organisatorischpolitische Hebel, mit dessen Hilfe der fortgeschrittenste Teil der Arbeiterklasse die gesamte Masse des Halbproletariats auf den richtigen Weg lenkt." (Aus den von Lenin entworfenen Leitsätzen des II. Weltkongresses der Kommunistischen Internationale 1920.) Lenin, der große anfeuernde Taktiker der Revolution, war trotz allem ein energischer Bekämpfer des Putschismus. In seiner letzten Schrift „Die Kinderkrankheit des Radikalismus im Kommunismus" (1920) schrieb er: „Mit der Avantgarde allein kann man nicht siegen" (S. 80). Und als „Grundgesetz der Revolution" bezeichnete Lenin: „Nur wenn die Unterschichten nicht in alter Weise leben wollen und die Oberschichten in alter Weise nicht leben können, nur dann kann die Revolution siegen" (S. 73).

Die in steter Folge erscheinende deutsche Ausgabe von Lenins „Sämtlichen Werken" (— z. Z. sind 13 Bände bereits veröffentlicht —) offenbart die gewaltige, vielseitige theoretische wie praktische Arbeit dieses größten Marxisten nach Marx und Engels.

4. Die Russische Revolution 1917 und der Aufbau des Sozialismus.

Die Riesenverluste, die sich der russische Militarismus im Weltkrieg geholt hatte, die Korruption im Staatsapparat, die wirtschaftliche Erschöpfung im Innern des Landes, dazu die aufwühlende revolutionäre Agitation der Sozialdemokratie, insbesondere der Bolschewiki, sowie die zahme Kritik der bürgerlichen demokratischen Opposition — alles das führte im Februar 1917 zu einer gewaltigen Steigerung der revolutionären Streiks (432000 Streikende) und Massendemonstrationen in Petersburg und anderen Industrieorten. Die Truppen gingen zum Volke über. Der Zarismus brach zusammen. Am 25. März unterzeichnete der Zar seine Abdankungsurkunde. Eine großbürgerliche „provisorische Regierung" nahm die Zügel in die Hand. Aber als zweites revolutionäres Zentrum hatte sich neben ihr der Sowjet der Petersburger Arbeiterdeputierten aufgetan, in dem freilich die Bolschewisten anfangs nur eine geringe Rolle spielten. Die imperialistische Koalitionsregierung, in der nach mehrfachem Personenwechsel der Salonrevolutionär Kerenski ans Ruder kam, dachte nicht daran, dem Ruf des Volkes nach Frieden und Brot zu entsprechen. Sie stürzte sich von neuem in den Weltkrieg. Kerenski bereitete mit großem Tamtam eine neue Offensive auf der galizischen Front vor, was von den sozialistischen und Sozialrevolutionären Arbeiterführern, mit alleiniger Ausnahme der Bolschewiki, propagandistisch unterstützt wurde. Auch der Führer der französischen Sozialpatrioten, der jetzige Direktor des Genfer Arbeitsamtes, Albert Thomas, hielt damals an der russischen Front Reden für den Krieg „bis zum siegreichen Ende", und das Mitglied der Labour-Party, Henderson, plädierte im Petersburger Sowjet für die Fortsetzung des Krieges. Die große Junioffensive brach jedoch nach wenigen Wochen zusammen. Die Armee war klüger als ihre Generäle. Dafür gelang es aber Kerenski, auf der inneren Front einen Sieg — freilich den letzten — zu erringen: eine spontan entstandene bewaffnete Demonstration der Bolschewiki am 15. Juli in Petersburg wurde niedergeschlagen, ihre Zeitungen wurden verboten, die Parteidruckereien zerstört; Massenverhaftungen fanden statt, Lenin mußte in Verkleidung aus Petersburg fliehen. Aber es half doch nichts mehr. Die Armee und die Arbeiterschaft löste sich immer entschiedener von der menschewistischen kriegs- und koalitionsfreundlichen Führung ab — das ließ der Wechsel in der Zusammensetzung der Sowjets gut erkennen — und griff die bolschewistische Forderung: „Alle Macht den Räten" auf. Und auf dem Lande wirkte sich die Verschleppung der versprochenen Bodenreform auch immer stärker gegen die Regierung und ihren Sozialrevolutionären Agrar-minister Tschernow aus. Im September 1917 wurdevom Petersburger Proletariat der monarchistische Generalsputsch Komilows zurückgeschlagen. Am 7. November stürzte der planmäßig vorbereitete bewaffnete Aufstand der Bolschewiki die Schattenregierung Kerenskis.

Der 2. Allrussische Kongreß der Arbeiter-, Soldaten- und Bauernräte proklamierte die Sowjet Verfassung. Lenin trat an die Spitze. Die Dekrete über den Frieden und die Landverteilung eröffneten die gewaltigste Macht- und Besitzverschiebung, die die Geschichte je gesehen hat. Über 50 Millionen Deßjatinen Land wurden den schaffenden Bauernhänden übergeben. Das Volk stand auf, eine ungeheure Welle revolutionärer Besitzergreifungen ging durch das Land, die Großgrundbesitzer und Großkapitalisten wurden hinweggefegt, überall wurden Sowjets gebildet. Die Revolution entriß der kapitalistischen Ausbeutung und der imperialistischen Unterdrückung ein Sechstel der Erdoberfläche. Das war zum erstenmal in der Geschichte eine proletarische Revolution, d. h. eine Revolution, die die mit eignem Blut errungene Macht nicht vertrauensselig wieder an eine höhere Klasse abtrat. Der alte staatliche Machtapparat wurde zerschlagen oder löste sich, wie die Armee, von selbst auf. Die Bauern stimmten, wie Lenin sagte, mit ihren Füßen für den Frieden. Der letztere Umstand ermöglichte es dann freilich der deutschen Regierung, der jungen Sowjetrepublik den Raub- und Gewaltfrieden von Brest-Litowsk aufzuzwingen (März 1918).

Vor der siegreichen Revolution erhoben sich sofort die gewaltigsten Aufgaben. Vor allem hatte sie ihre Stellung zu behaupten gegenüber dem vereinten Ansturm der zaristischen und bürgerlichen, inländischen und ausländischen Konterrevolutionäre, die, mit Entente-Waffen ausgerüstet, mit imperialistischem Golde gespeist, und vom Segensspruch der Sozialdemokraten begleitet, das europäische und asiatische Sowjetrußland in das Chaos des Bürgerkrieges rissen. Unter größten Schwierigkeiten wurde erst im Feuer dieses „internationalen Krieges gegen die Sowjetrepublik" die Rote Armee organisiert, wobei man sogar die fachmännische Mitarbeit bürgerlicher Militärspezialisten nicht entbehren konnte, die freilich unter die scharfe Kontrolle von Arbeiterkommissaren gestellt wurden. Die Rote Armee konnte jedoch nur siegen, weil überall das werktätige Volk mit ihr war, weil keiner der gegenrevolutionären Generäle eine wesentliche Unterstützung von der Einwohnerschaft erhielt, in deren Gebiet die „Befreier" eingedrungen waren. Aber es bedurfte doch von 1918—1921 der furchtbarsten Anspannung des Sowjetstaates, um alle konterrevolutionären Bandenführer: Kornilow, Dutow, Kaledin, Petljura, Kraßnow, Denikin, Koltschak, Awalow, Judenitsch, Wrangel und wie sie alle hießen, und neben ihnen die englischen, französischen und japanischen Interventionstruppen auf einer Gesamtfront von 8000 km Ausdehnung zu erledigen oder vom russischen Boden zu vertreiben.

Natürlich hatte dieser Kampf die wirtschaftliche Zerrüttung, die schon der imperialistische Krieg und die Geburtswehen der Revolution mit sich gebracht hatten, noch gesteigert. Alles Verfügbare mußte der Kriegsführung geopfert werden. Von der durch den staatlichen Apparat verteilten Gesamtmenge von Fleisch, Fisch und Zucker erhielt im Jahre 1920 die Rote Armee 60 o/o, von den Männerschuhen 900/0 usw. Dazu war die landwirtschaftliche Produktion 1920 auf 48 o/o des Vorkriegsniveaus heruntergegangen, die Bruttoproduktion in der Großindustrie sogar auf 18 o/o. 57 o/o aller Lokomotiven waren reparaturbedürftig usw. Daher erwuchsen außerordentliche wirtschaftliche Schwierigkeiten in den Beziehungen zur Bauernschaft, deren Produkte man requirieren mußte und denen der Kriegskommunismus den freien Handel gesperrt hatte, während die sozialisierte Industrie ihnen doch noch nicht genügend gewerbliche Produkte liefern konnte. Lenin zerhieb diesen Knoten von Gefahren 1921 durch die Einführung der „Neuen Ökonomischen Politik" („Nep"). Es war „die Verbindung der sozialistischen Großindustrie mit den Kleinwirtschaften der einfachen Warenproduktion auf der Grundlage der Marktverhältnisse".

Auf diesem Boden vollzieht sich nun seit 1921 in einem Tempo, das alle Erwartungen überflügelt, der Aufbau des Sozialismus trotz aller Abschnürung von der Weltwirtschaft und allen offenen und versteckten Rankünen der kapitalistischen Großstaaten. Die bäuerlichen Kleinwirtschaften wurden dabei als Verkäufer, Käufer und Produzenten durch die verschiedenen Formen des staatlichen Genossenschaftswesens immer mehr zusammengefaßt, bis nunmehr durch die gradezu stürmische Kollektivisierung der Agrarwirtschaft im Rahmen des Fünfjahrplans die direkte sozialistische Großproduktion auf dem Lande mächtig emporwächst. (Am i. Mai 1931 waren in der Sowjetunion 12 Millionen Bauernwirtschaften = 48,6 o/o aller armen und Mittelbauernwirtschaften kollektiviert.) Das Vorkriegsniveau ist auf allen Gebieten der Produktion schon seit 1927 überschritten und 1930 verdoppelt; das „Einholen und Überholen" der technisch entwickeltsten Großstaaten ist in vollem Gang. In umfassenden statistischen Voranschlägen (Fünfjahresplan 1928—33!) findet die sozialistische Planwirtschaft ihren höchsten Ausdruck. Und die Praxis überholt noch alle Planziffern („Fünfjahrplan in 4 oder gar 3 Jahren!") unter dem Ansporn des „sozialistischen Wettbewerbs" und der „Stoßbrigaden". So ist die wirtschaftliche Gesamtlinie festgelegt, durch die eine alle alten Maßstäbe überwältigende Elektrifizierung und Industrialisierung des ehemaligen Agrarstaates in die Wege geleitet ist. Dieses Land des „Sozialistischen Aufbaues" kennt als einziges in der Welt keine Arbeitslosigkeit mehr, hat den Siebenstundentag und die Fünftagewoche zur Norm gemacht und sichert der Arbeiterschaft einen steigenden Anteil am rasch wachsenden Ertrag der Arbeit (1930 war der Reallohn 1500/0 des Vorkriegslohnes).

Dem Beschauer des „Neuen Rußland" drängt sich die kulturelle Revolution in den Arbeiter- und Bauernmassen am stärksten ins Bewußtsein: die Liquidierung des Analphabetentums, der Ansturm in die Fach- und Hochschulen — die Hochschulen vermehrten sich von 91 im Jahre 1913 auf 134 im Jahre 1926—, der Massenandrang in die Museen und Theater, die in mustergültiger Weise zu wirklichen Volksinstituten hergerichtet worden sind usw. 74,8 o/0 der Fabrik- und Werkdirektoren sind ehemalige Arbeiter, 71,40/0 der Richter sind Arbeiter und Bauern. In der höchsten gesetzgebenden Körperschaft sitzen 64,9 o/0 Arbeiter und Bauern. In den Volksschulen der Sowjet-Union wird in 62 Sprachen unterrichtet, von denen einige zum Teil erst jetzt ihr eigenes Schrifttum erhalten haben. Während die einmalige Auflagenziffer sämtlicher Zeitungen im zaristischen Rußland 2,7 Millionen betrug, erreichte sie 1931 die Zahl von 30,8 Millionen Exemplaren, an denen über 2 Millionen Arbeiter- und Dorfkorrespondenten mitarbeiten. Die Säuglings-Sterblichkeit hat sich von 1913 bis 1926 von 27,3 auf 18,7 pro 100 vermindert. So ist Sowjetrußland das einzige Land der Welt, in dem die breiten Massen — trotz aller unleugbaren Schwierigkeiten der Übergangsperiode und aller weltkapitalistischen Anfeindungen — zum ersten Male die Früchte dieser Arbeit selbst bestimmen und ernten können.

Aber noch in einer anderen Beziehung ist die russische Volksseele durch den Sozialismus aufgeschlossen: es ist das Bewußtsein der internationalen Z usammengehörigk e it mit allen noch Unterdrückten und Ausgebeuteten der kapitalistischen Welt. Kein Land, das solchen lebendigen Anteil nimmt an allen Befreiungskämpfen des Proletariats, ob es sich um den englischen Bergarbeiterstreik 1926, oder die chinesische Revolution oder die Opfer des Berliner Blut-Mai (1929) handelt. Sowjetrußland ist für alle klassenbewußten Proletarier der Welt zum wahrhaften „Vaterland" geworden, zur „Heimat" ihrer sozialen Hoffnungen und ihres revolutionären Zukunftsideals.

In einem Rückblick konnte Juni 1930 der eiserne siegessichere Führer der Sowjetunion, Stalin, sagen: „Diese Jahre haben bewiesen, daß das kapitalistische Wirtschaftssystem bankrott ist, daß aber das Sowjetsystem demgegenüber Vorteile bietet, von denen kein bürgerlicher Staat, und sei es selbst der ,demokratischste', auch nur zu träumen wagt."

5. Die Deutsche Revolution und Konterrevolution seit 1918.

Auch die deutsche Novemberrevolution 1918 war eine Frucht der Kriegsmüdigkeit und der wirtschaftlichen Verelendung der breiten Volksmassen. Die beiden größten Kraftzentren der Gegenwart gaben schließlich den Ausschlag: die Übermacht des Weltkapitalismus, die sich in der militärischen Übermacht der Ententestaaten verkörperte und nicht mehr zu brechen war, andrerseits die proletarische Revolution Rußlands, die den Massen den rettenden Ausweg zeigte. Die revolutionäre Aktivität der deutschen Proletarier wurde angespornt durch die unterirdische Propaganda des Spartakusbundes, einiger linksradikaler Gruppen und der Unabhängigen Sozialisten. So kam es schließlich zum Zusammenbruch. Ende September 1918 hatte der deutsche Militarismus den Krieg verloren; das Hauptquartier selbst drang verzweifelt auf Einleitung von Waffenstillstandsverhandlungen. Prinz Max von Baden, unterstützt von den Sozialdemokraten Scheidemann und Bauer, übernahm am i. Oktober die Reichskanzlerschaft des neuen „parlamentarisierten" Deutschlands. Aber diese allzu dürftige „Revolution von oben" konntezum Leidwesen der sozialdemokratischen Drahtzieher doch die „Revolution von unten" nicht mehr aufhalten. Sie begann dann am 3. November in Kiel mit dem Aufstand der Matrosen, die sich weigerten, noch am Ende des Krieges zu einer Seeschlacht und in den sicheren Heldentod zu fahren. Am 5. und 6. November ging in Hamburg, Lübeck und Bremen die Macht an die Arbeiter- und Soldatenräte über. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Revolution von Stadt zu Stadt nach Mittel- und Süddeutschland (Stuttgart, München). Am 9. November siegte die Revolution auch in Berlin.

Mit verblüffender Geschwindigkeit verstanden es die Sozialdemokraten, das Übergewicht ihrer Zahl und ihres Apparates in die Wagschale zu werfen und sich an die Spitze der vom Spartakusbund und den revolutionären Betriebsobleuten vorbereiteten Bewegung zu stellen. Prinz Max von Baden übergab das Reichskanzleramt an Friedrich E b e r t, der ihm mit Tränen in den Augen versicherte: „Ich hasse die Revolution wie die Sünde." Der Kaiser dankte ab und zog sich vom Hauptquartier nach Holland zurück, nachdem er noch am Tage vorher erklärt hatte: „Die Truppe steht zu mir, morgen marschieren wir gegen die Heimat." Die Erledigung der Kaiserkrone zog den Sturz der übrigen deutschen Dynastien nach sich, die Revolution siegte fast unblutig im ganzen Deutschen Reich, wie sie einige Tage vorher in Österreich gesiegt hatte.

Doch wurde diese deutsche Revolution, die mit ihren „Arbeiter- und Soldatenräten" und dem Ruf nach Sozialisierung und Bewaffnung des Proletariats deutlich über eine bloß bürgerliche Revolution hinausgewachsen war, schon von ihren ersten siegreichen Vorstößen an durch die Konterrevolution unterhöhlt und bald zu Fall gebracht. Nicht der offene monarchistisch-feudale Offiziersputsch war die eigentliche Gefahr. Als ein solcher sich später einmal — im Kapp-Putsch (März 1920) — hervorwagte, brach er nach wenigen Tagen in sich zusammen. Der Kapitalistenkiasse genügte vollkommen die sozialdemokratisch-bürgerliche Konterrevolution. Und es erschien ihr viel zweckmäßiger, gerissene sozialdemokratische Arbeiterführer mit der Bekämpfung der proletarischen Revolution zu betrauen als Typen der engstirnigen Junker- und Militärkaste.

Die sozialdemokratischen Revolutionsführer haben auch wirklich Außerordentliches geleistet, um die Novemberrevolution nicht zu einem Sieg des revolutionären Proletariats werden zu lassen, sondern sie behutsam auf das Gleis einer bürgerlichen Revolution umzuleiten. Zwei Erinnerungsblätter sollen unvergessen bleiben: Am 4. November, nach dem spontanen Ausbruch der Kieler Matrosenrevolte, schien hohe Gefahr, daß das russische Beispiel der Novemberrevolution von 1917 aufgegriffen werden würde. Es galt also, schleunigst die unbequeme Vertretung des russischen Sowjetsstaates in Berlin zu beseitigen. Der Staatssekretär Scheidemann ließ zu diesem Zweck eine der russischen Botschaft gehörende Kurierkiste platzen, in die vorher von der deutschen Polizei Spartakistische Flugblätter hineinbugsiert worden waren. Daraufhin wurde die Russische Botschaft, ohne daß man ihr Aussprachemöglichkeit gewährte, in der Morgenfrühe des 6. November aus Deutschland ausgewiesen (5).

Am 10. November war durch die politisch siegreichen Arbeiter- und Soldatenräte in Berlin der Rat der Volksbeauftragten aus 3 Mehrheits- und 3 Unabhängigen Sozialisten, mit Ebert an der Spitze, gebildet worden. Am gleichen Tage noch verständigte sich aber Ebert mit dem Generalquartiermeister Groener, dem Nachfolger Ludendorffs, in geheimer Aussprache über die Beseitigung des Rätesystems, die Säuberung Berlins und die Entwaffnung der Spartakisten durch vorzubereitenden Einmarsch von 10 Divisionen in Berlin (Geständnis Groeners im Münchener Dolchstoßprozeß). Es war das gleiche Manöver wie in den Januartagen 1918, als die revolutionär entfachten Munitionsarbeiterstreiks in Berlin und im Reich der wilhelminischen Regierung gefährlich zu werden drohten. Da traten die Sozialdemokraten Ebert und Scheidemann in die Streikleitung ein, um, wie sie später unter Eid bezeugten, den Streik schnellstens abzuwürgen, was ihnen ja auch gelang und der deutschen Regierung den Raubfrieden von Brest-Litowsk ermöglichte.

Die Wucht der ihr in den Schoß gefallenen revolutionären Macht wandten die Führer der Sozialdemokratie vom ersten Tage ihres Regierungsantritts ausschließlich und systematisch nur gegen links an. So wurden die aus dem Boden der Novemberrevolution gewachsenen Arbeiter- und Soldatenräte im Laufe von wenigen Monaten überall in Deutschland erledigt, soweit sie nicht schon freiwillig zu Kreuze gekrochen waren, wie der „politische Selbstmörderklub", d. h. der i. Kongreß der Arbeiter- und Soldatenräte in Deutschland (Januar 1919). Die Streiks, durch die sich das Proletariat seinen Anteil an den revolutionären Errungenschaften sichern wollte, wurden von der sozialdemokratischen Regierung, einschließlich der Unabhängigen, mit allerhöchstem Bannfluch belegt und mit Strafexpeditionen bedroht. Das wichtigste aber war die Niederschlagung des Spartakusbundes, der i sich am 30. Dezember 1918 in die freilich organisatorisch noch schwache Kommunistische Partei Deutschlands umgewandelt hatte und allein für die wirkliche Diktatur des Proletariats eintrat. Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, die großen Führer des revolutionären Marxismus in Deutschland, brandmarkten Tag für Tag in den flammenden Artikeln ihrer am 9. November begründeten „Roten Fahne" den unerhörten Verrat der Regierungssozialisten an der Revolution, die Greueltaten gegen revolutionäre Proletarier (Salvenfeuer in eine Demonstration am 6. Dezember — 18 Tote! — Beschießung der Volksmarine-Division im Marstall am 24. Dezember — 11 Tote usw.). Die Reichsregierung wollte unbedingt Spartakus erledigen. Als man daher genügend Militär um Berlin gesammelt hatte, enthob man am 4. Januar völlig grundlos den mit den Kommunisten sympathisierenden Polizeipräsidenten Eichhorn seines Amtes. Das war, wie später zugestanden wurde, eine beabsichtigte Provokation, und sie gelang. Das Berliner Proletariat besetzte zum Protest das Vorwärtsgebäude und das Polizeipräsidium. Nun bot sich Noske der Regierung als „Bluthund" (nach seinem eigenen Wort) an, und wurde Militärdiktator. Eine Bande geschickt arbeitender Spitzel und Provokateure stand ihm zur Seite. Die Regierungstruppen marschierten schwer bewaffnet in Berlin ein, und ein wildes Morden begann. Spartakus war vogelfrei. Kopfprämien wurden auf Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg ausgesetzt. Der „Vorwärts" hetzte in giftigen Versen zu ihrer Ermordung. Und am 15. Januar 1919 sind denn auch beide verhaftet und von Reichswehroffizieren bestialisch erschlagen worden. Damit war der proletarischen Revolution der Kopf genommen. Ein paar andere noch gefährlich erscheinende revolutionäre Führer wurden bald darauf in gleicher Weise erledigt: Eisner (am 21. Februar), Jogiches (am 10. März) usw. Und der Noskiden-Hunnenzug wälzte sich zermalmend durch Deutschland von einem revolutionären Brandherd zum nächsten (Bremen, Hamburg, Gotha, Halle, Braunschweig, Leipzig, Chemnitz, Mannheim usw.). Die aufflackernden Generalstreiks (so im Ruhrgebiet, in Thüringen, in Sachsen usw.) bleiben isoliert und sinken wieder in sich zusammen. Die bayrische Räterepublik (vom 6. April bis i. Mai 1919) geht am Verrat der Sozialdemokratie, die sie ins Leben gerufen hatte, zugrunde. Der Kommunist Levinö aber wird am 5. Juni in München standrechtlich erschossen. So siegt die bürgerliche Revolution auf der ganzen Linie — gegen das Proletariat l Im Anschluß an die Beilegung des Kapp-Putsches (1920) wurden dann noch die zum revolutionären Kampf bereiten Proletarier des Ruhrgebietes una Mitteldeutschlands durch militärische Übermacht erdrückt. Der weiße Terror und die Justizmaschine besorgten das Übrige. Aber das deutsche Volk erhielt am u. August 1919 seine schön geschriebene demokratische Verfassung.

Überschauen wir das Ergebnis der Novemberrevolution: Die sozialdemokratische Koalitionsregierung hatte dem Proletariat nichts gebracht, was ihr eine rein bürgerliche Regierung nach einer rein bürgerlichen Revolution nicht auch hätte einräumen müssen. Der 8-Stunden-Tag ist nach dem Kriege in anderen kapitalistischen Staaten ebenfalls gewährt worden, und das Betriebsrätegesetz war ein Hohn auf den Rätebegriff. Aber das Proletariat mußte auf diese armseligen Zugeständnisse, die im Laufe der Jahre fast sämtlich wieder zurückgenommen worden sind, noch draufzahlen mit dem Verlust seiner besten, opferwilligsten und revolutionärsten Anhänger. An die 20000 Proletarier sind durch Noske hingemordet worden. Die Präsidentschaft Eberts war die Kulisse, hinter der sich die Knebelung der radikalen kommunistischen Opposition vollzog. Die 10 Jahre des Regierungssozialismus — 1918—1928 — haben dem regierungsfeindlichen Kommunismus unendlich viel mehr an Gefängnis- und Zuchthausstrafen, an Zeitungsverboten, ruinierenden Beschlagnahmen und Verfolgungen gebracht, als Bismarck über die einst regierungsfeindliche Sozialdemokratie in den 12 Jahren des Ausnahmegesetzes (1878—1890) verhängt hatte. Freilich, die nunmehr so glänzend erprobte Sozialdemokratie durfte Ministersessel, Landratsposten, Polizeipräsidentenstellen und viele tausend kleinerer Ämter besetzen. Bestechungsgelder, die die bürgerliche Klasse vielleicht noch nicht einmal in dem Ausmaß zu zahlen nötig gehabt hätte; die SPD. hätte es wahrscheinlich auch billiger getan!

Anmerkungen

1) Vgl. J. Lenz, Die II. Internationale und ihr Erbe (1889 bis 1929), Berlin 1930.

2) Von hier ab ist der Schluß des Werkes ausschließlich von Dr. Hermann Duncker

3) Vgl. Lenin, Karl Marx (Kleine Leninbibliothek Bd. i [1931]). verfaßt.

4) Für diese Gebiete sind die ökonomischen und kulturellen Errungenschaften durch die Revolution ungeheuer. In Kirgisistan gab es vor der Errichtung der Sowjets 15 Ärzte, 70 Schulen und 4000 Schüler, jetzt aber 307 Ärzte, 596 Schulen und 58000 Schüler.

5)  Als die russische Arbeiter- und Bauernrepublik am 15. November 1918 der jungen deutschen Republik zwei Eisenbahnzüge Mehl als Geschenk anbot, lehnten die Volksbeauftragten — ausgerechnet war es der unabhängige Sozialist Haase —, dieses brüderliche Anerbieten schnöde ab, und die Wiederaufnahme der Beziehungen zu Rußland wurde auf Betreiben Kautskys planmäßig hinausgezögert.

Editorische Anmerkungen

Max Beer, Allgemeine Geschichte des Sozialismus und der sozialen Kämpfe, mit Ergänzungen von Dr. Hermann Duncker, S. 607-

Der Text ist ein OCR-Scan by red. trend vom Erlanger REPRINT (1971) des 1931 erschienenen Buches in der UNIVERSUM-BÜCHEREI FÜR ALLE, Berlin.

Von Hermann Duncker gibt es eine Rezension dieses Buches im Internet bei:
http://www.marxistische-bibliothek.de/duncker43.html

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