Handelt es
sich um einen Sieg? Um einen halben Erfolg, oder eine totale
Schlappe? Diese Frage, die sich gewöhnlich - für jede Seite -
nach einem sozialen Konflikt stellt, lässt sich derzeit im
Hinblick auf die jüngsten französischen Streikbewegungen nur
schwer beantworten. Eine Bewertung dürfte vorläufig nicht
„schwarz“ oder „weiß“ ausfallen, sondern in irgendwelchen
Grautönen. Die von manchen Beobachtern befürchtete historische
Niederlage für die französischen Gewerkschaften mit über den
Arbeitskampf hinausreichendem Symbolwert - die mit jener ihrer
britischen Kollegen im Bergarbeiterstreik in Nordengland 1984/85
gegenüber dem triumphierenden Thatcherismus vergleichbar gewesen
wäre - ist ausgeblieben. Aber ob beispielsweise die in jüngerer
Vergangenheit oft kämpferisch aufgelegten Eisenbahner aus den
Erfahrungen der letzten Wochen die Lehre davon trugen, dass
sozialer Widerstand „sich lohnt“ und erfolgreich sein kann,
bleibt erst noch abzuwarten.
Dynamik der Selbstorganisierung
Positiv ist
in der Bilanz des jetzt – vorläufig? - beendeten
Eisenbahnerstreiks hervorzuheben, dass es eine echte Dynamik der
Basisbeteiligung und der Abstimmung in Vollversammlungen gegeben
hat. Tatsächlich waren die Gewerkschaftsapparate eine Woche lang
– bis der Ausstand auf der Kippe zu stehen kam – nicht „Herren
der Lage“, auch wenn ihnen dies eine Zeitlang selbst zupass kam,
um nicht öffentlich in Verantwortung für die Entscheidung zum
Fortgang des Streiks gezogen werden zu können.
Laut Angaben der linken Basisgewerkschaft SUD Rail (SUD
Schienenverkehr), die mit 15 Prozent bei der Eisenbahn die
zweistärkste Gewerkschaft und die Entwicklung von
Selbstorganisierung und Selbstbestimmung im Streik stark anschob,
haben 20.000 Bahnbeschäftigte tagtäglich an den rund 200
Vollversammlungen in ganz Frankreich teilgenommen. Das
Unternehmen SNCF hat insgesamt rund 160.000 Beschäftigte, von
denen auf dem Höhepunkt eine starke Hälfte im Streik war, in der
Schlussphase ein gutes Viertel.
Gegen Ende
der Streikbewegung hat die Teilnahme an diesen
Basisversammlungen, in denen jeweils für ein Bahndepot oder
einen Bahnhof über die Fortführung oder Beendigung des
Arbeitskampfs abgestimmt wurde, sogar zu- und nicht abgenommen.
Während ein Teil der Beschäftigten, vorübergehend etwa aus
finanziellen Gründen oder auch auf Dauer, die Arbeit wieder
aufnahm, wurde ein anderer Teil – im Rahmen einer gewissen
Polarisierung - dadurch zur Übernahme von mehr
Selbstverantwortung im Streik getrieben.
Auf lokaler
Ebene fällt das Bild allerdings unterschiedlich aus. Mancherorts
waren die Vollversammlungen eher davon geprägt, dass die
Vertreter der unterschiedlichen Gewerkschaften ihre jeweiligen
Erklärungen verlasen, die Redeliste abgearbeitet wurde und
danach alle Teilnehmer ihrer Wege gingen. Andernorts hingegen
kam eine reale kollektive Dynamik zustande. Im Bahndepot von
Melun östlich von Paris, wo SUD Rail stark verankert ist, wurden
etwa die Örtlichkeiten dauerhaft besetzt. Auch nach dem Ende der
Redebeiträge und der Abstimmung blieben die Leute zusammen. Die
Beschäftigten veranstalteten ein Kulturprogramm, neue
Liebesbeziehungen wurden geknüpft, Tag und Nacht brannten
Ölfeuer in gelben Fässern auf den Streikposten. In Melun fiel es
den Beschäftigten laut vorliegenden Berichten verdammt schwer,
in der Schlussphase die Arbeit wieder aufzunehmen. Das Ende des
Streiks erfolgte hier nicht ohne Tränen.
Verhandeln zwecks Quadratur des Kreises
Ansonsten
wird es unter anderem von den konkreten Ergebnissen der
Verhandlungen abhängen, die am vergangenen Mittwoch (21.
November) bei der französischen Bahngesellschaft SNCF und am
Montag (26. November) bei den Pariser Verkehrsbetrieben der RATP
eröffnet worden sind. Aller Wahrscheinlichkeit wird alles darauf
hinauslaufen, dass die konservative Regierung sich zwar mit dem
Kernpunkt ihres „Reform“vorhabens durchsetzen kann und die
Lebensarbeitszeit nun auch für die Transportbediensteten auf 40
Beitragsjahre zur Rentenkasse ausdehnen wird – die Eisenbahner
und anderen betroffenen Berufsgruppen aber aufgrund von
Kompensationen und Anrechnungsmodalitäten dies aber zunächst in
der Praxis kaum spüren werden.
Diese
könnten einerseits in einer stärkeren Anhebung des Grundlohns
bestehen. Bislang beziehen die Eisenbahner einen Gutteil ihres
Lohns in Form von Gehaltszusätzen und Prämien wie etwa Nacht-
und Wochenendzuschlägen, die aber bei der späteren Pension
grundsätzlich nicht mit einberechnet werden. Deshalb fallen die
Renten für die Eisenbahner auch, bei gleichem Lohnniveau, im
Durchschnitt um neun Prozent niedriger aus als für andere
Berufsgruppen. Die Rede ist nun davon, zumindest einen Teil
dieser Zuschläge – wie seit langem gefordert worden war – in den
Grundlohn, der allein für die Kalkulation der Rentenhöhe
herangezogen wird, mit einzurechnen. Was nur logisch wäre, da
Wochenend-, Feiertags- und Nachtarbeit zu den regelmäßigen,
tagtäglichen Arbeitsbedingungen vieler Eisenbahner gehört.
Ferner ist
die Rede davon, den Grundlohn in den letzten Monaten der
Berufskarriere um 2,5 bis maximal 5 Prozent anzuheben. Das würde
die SNCF nicht wirklich viel kosten (die anvisierten
Zugeständnisse ihrer Direktion werden im Moment auf 90 Millionen
Euro jährlich beziffert, bei einem Umsatz in Höhe von mehreren
Milliarden), aber die Pensionen automatisch erhöhen, da die
Eisenbahnerrenten sich nach den letzten sechs Monaten vor der
Pensionierung richten. Hingegen sind für die anderen
Berufsgruppen an diesem Punkt in jüngerer Zeit erhebliche
Verschärfungen in Kraft getreten: So wurde für die
Privatbeschäftigten früher die durchschnittliche Lohnhöhe der
letzten 10 Berufsjahre herangezogen, seit der allgemeiner
„Rentenreform“ von 2003 ist es jedoch jener der letzten 25
Berufsjahre. Automatische Wirkung: Dies wird die Pensionen in
Zukunft noch spürbar absenken. Private Rentenversicherungen und
ihre „Angebote“ behelligen das Publikum schon heute ständig in
der Werbung und mit der Zusendung unerbetener E-Mails: Ihre
Anbieter wissen, dass viele Lohnabhängige in einigen Jahren von
ihren Pensionen nicht werden leben können. Ein riesiger Markt
tut sich nun für die Privatwirtschaft auf.
Erreichen
die Transportbediensteten dieses Zugeständnis tatsächlich, dann
könnte es dafür sorgen, dass zumindest in den kommenden 10 oder
12 Jahren die Strafbeträge (décotes) für fehlende Beitragsjahre
zur Rentenkasse die Eisenbahner nicht wirklich kratzen würden.
Denn dann könnten sie faktisch weiterhin relativ früh in Rente
gehen, und ihre Pensionsverluste durch die erfolgte Anhebung
ihres Grundgehalts auffangen oder abfedern lassen. Allerdings
wird dies für die heute jüngeren oder „mittelalten“
Beschäftigten etwa bei der Bahn nichts bringen, denn bis sie
einmal mit der Pensionierung dran sein werden, hätte die
Inflation den jetzigen Anstieg ihres Grundlohns längst
aufgefressen.
Daneben
versucht die CGT (ebenso wie andere Gewerkschaften) auch noch,
für bestimmte Beschäftigtengruppen aufgrund der ihren
Arbeitsbedingungen innewohnenden Zwänge Anrechnungsmodalitäten
herauszuhandeln. Dies würde bedeuten, dass bestimmte Kategorien
von Lohnabhängigen aufgrund ihrer erschwerten Arbeitsbedingungen
drei oder fünf Beitragsjahre zusätzlich anerkannt würden. Die
konservative Regierung hat es längst vorgemacht: Um die
Berufsgruppengewerkschaft der Lokführer (FGAAC) aus der
Streikfront herauszubrechen, hatte das Regierungslager den
Lokomotivführern Anfang November von sich aus fünf
Anrechungsjahre zugestanden. Mit dem Erfolg, dass die FGAAC
zunächst – als einzige Gewerkschaft – den Aufruf zum
unbefristeten Streik ab dem 14. November nicht mittrug. Nun
werden auch andere Gruppen in den Genuss einer solchen Regelung
kommen wollen.
Horizont: Fortgang der allgemeinen „Rentenreform“ im nächsten
Jahr
Solche
„Gegenleistungen“ an die Eisenbahner, im Falle einer Hinnahme
der so genannten Reform, hatte die andere Seite schon zu Beginn
der Auseinandersetzung längst einkalkuliert. Dennoch gibt es
einen Widerspruch, eine notwendige Spannung zwischen zwei
Ansprüchen. Einerseits sind Regierung und Bahndirektion zu
diversen faktischen Zugeständnissen bereit, um die Glut des
Arbeitskampfs auszutreten und um das zentrale „Symbol“ der
Reform – die obligatorischen 40 Beitragsjahre, die künftig
mindestens nominell auch bei der Bahn gelten würden – zu
„retten“. Andererseits wollen und „dürfen“ sie nicht allzu sehr
damit an die Öffentlichkeit treten, denn es könnten auch andere
Lohnabhängige auf die Idee kommen, Ähnliches für sich zu
fordern. Eines haben sie dabei stets im Hinterkopf: Auch wenn
ein Großteil des französischen Publikums es längst vergessen
hat, steht doch im kommenden Jahr die nächste Stufe der
allgemeinen „Rentenrefom“ ins Haus.
Die
regressive „Reform“, die der damalige Arbeits- und
Sozialminister – und jetzige Premier – François Fillon 2003 auf
den Weg brachte, beinhaltet ein „Bilanzziehen“ im kommenden
Jahr. Wie diese Bewertung ausfallen wird, lässt sich bereits
jetzt absehen: Sie wird auf ein „Weiter so“ hinauslaufen.
Bislang hat die 2003er Reform dazu geführt, dass die meisten
Berufsgruppen 40 Beitragsjahre lang einzahlen müssen, um eine
volle Pension zu beziehen. Aber fällt die Bilanz „positiv“ aus,
dann wird ab 2008 eine weitere Anhebung auf 41 Beitragsjahre, im
kommenden Jahrzehnt dann auf 42,5 Jahre erfolgen. Darauf hatten
die streikenden Transportbediensteten in den vergangenen Wochen
auch immer wieder hingewiesen, um dem Publikum oder jedenfalls
den anderen Lohnabhängigen klar zu machen, dass der Kampf um die
Verteidigung der Renten „alle“ (Lohn- und
Gehaltsempfänger/innen) betreffe, und eben nicht nur einzelne
Beschäftigtenkategorien mit „Sonderinteressen“. Nach dem Motto:
„Die nächste Verschlechterung für alle ist doch längst geplant!“
Diese Message kam aber – auch dank der weit verbreiteten
Manipulation der dominierenden Medien gegen den Transportstreik
– nicht herüber. Und ein Teil der öffentlichen Meinung hat
einfach ein verdammt kurzes Gedächtnis ; für ihn ist die
„Rentenreform“ von François Fillon längst Vergangenheit (2003),
und wenn im kommenden Jahr ihre „nächste Stufe“ ins Haus steht,
dann wird es eine böse Überraschung geben.
Dies
erscheint (unter gegebenen politischen Bedingungen)
unvermeidlich, falls die Widerstände gegen die Verlängerung der
Lebensarbeitzeiten in den letzten Bastionen – insbesondere den
Transportbetrieben – nun beruhigt werden können. Dann wird es
für die Regierung darauf ankommen, dass die Endergebnisse des
Eisenbahnerstreiks für die Beschäftigtenseite nicht als derart
positives Beispiel erscheinen, dass auch andere Lohnabhängige
sich darauf berufen und Ähnliches für sich fordern werden, um
die anstehenden Anhebung der obligatorischen Beitragsjahre zur
Rentenkasse auf dann 41 (und künftig gar 42,5) ihrerseits für
sich zu „kompensieren“.
Also müssen
Regierung und Bahndirektion – aus ihrer Sicht - im Prinzip dafür
sorgen, dass in das Verhandlungsergebnis, neben dem Zuckerguss,
auch noch mindestens eine bittere Pille eingebacken wird. Ins
Gespräch gebracht haben sie vor allem eine spürbare
Verschlechterung der Lohnbedingungen für alle neu eingestellten
Berufsanfänger. Ob sie damit durchkommen werden, bleibt
abzuwarten.
Wie substanzielle Zugeständnisse herausholen, wenn der Streik
vorbei (und der Druck vorläufig weg) ist?
Das
Hauptproblem aus gewerkschaftlicher (und Lohnabhängigen-)Sicht
wird dabei sein, dass die Beschäftigtenorganisationen faktisch
zu Beginn der Verhandlungen zur Mitte vergangener Woche den
Streik eingestellt und damit eine Vorabbedingung der Gegenseite
erfüllt hatten. Unter dem Druck einer fortdauernden
Streikbewegung lässt sich aber allemal mehr herausholen, als
wenn dieser Druck einmal weggefallen ist. Derzeit drohen sowohl
die CGT als auch die – relativ progressive – Transportföderation
(FGTE) des rechtssozialdemokratisch geführten Gewerkschaftsbunds
CFDT mit einem erneuten Streik, falls die am 20. Dezember
endende Verhandlungsperiode mit einem Scheitern oder
unbefriedigenden Ergebnissen ende. Allerdings ist höchst
fraglich, ob dann nochmals eine Dynamik zustande kommen kann,
zumal ein Arbeitskampf dann, ginge er unmittelbar los,
unweigerlich in die Weihnachtsferienperiode fallen würde. In dem
Falle wäre er aber definitiv in höchstem Maße unpopulär. Nach
der Urlaubszeit aber wird die Regierung ihre Dekrete zur
„Reform“ bereits verabschiedet haben, falls es vor dem 20.
Dezember zu keinem „Kompromiss“ kam. Als nicht unwahrscheinlich
gilt im Moment dennoch eine Wiederaufnahme von Arbeitskämpfen
bei der Eisenbahn im Januar 2008 - falls in den Verhandlungen
bis zur Weihnachtspause nicht viel für sie rüberkommen und der
jetzt begonnene einmonatige Verhandlungszyklus sich als Versuch,
die Beschäftigten bzw. die Gewerkschaften über den Tisch zu
ziehen, herausstellen sollte. Sofern jedenfalls die relevanten
Gewerkschaften nicht doch am Ende noch einem Butterbrot als
Verhandlungsergebnis zustimmen...
Entscheidung zum Anhalten des Streiks. Wäre tatsächlich „mehr
drin“ gewesen?
Tatsache
ist, dass es namentlich die CGT – mit rund 40 Prozent der
Stimmen bei den letzten Personalratswahlen stärkste Gewerkschaft
unter den Eisenbahnern – war, die ab dem (Mittwoch/Donnerstag)
21./22. November für das Aussetzen des Streiks gesorgt hat. Zwar
hat ihr Apparat in der Öffentlichkeit stets verkündet, dass
nicht die CGT-Leitung über die Fortführung oder Beendigung des
Arbeitskampfs entscheide, sondern die in „souveränen“
Vollversammlungen in den Bahndepots abstimmende Basis. Dies
wurde seitens der CGT auch betont, um nicht selbst für alle
Schritte im Arbeitskampf verantwortlich gemacht werden zu
können. Allerdings weiß der CGT-Apparat auch, was zu tun ist und
wie seine Angehörigen sich in Streikversammlungen zu verhalten
haben, wenn er einmal beschlossen hat, einen „auf der Kippe
stehenden“ Streik anzuhalten.
Nicht sicher ist jedoch, ob ohne diesen am 21.
November
erkennbar durch die CGT gefassten Beschluss zur „Aussetzung“ des
Arbeitskampfs wirklich „mehr drin gewesen“ wäre.
Denn die Streikbeteiligung war real am Abbröckeln – was freilich für
einen länger anhaltenden, unbefristeten Streik (für dessen „Überleben“
in der Regel die erste Woche entscheidend wirkt) nicht untypisch
ist. Nicht zuletzt muss daran erinnert werden, dass abhängig
Beschäftigte in Frankreich jeden Streiktag mit Lohnverlusten aus
der eigenen Tasche bezahlen, da sie nicht wie in Deutschland aus
gewerkschaftlichen Streikkassen alimentiert werden – im Gegenzug
können sie auch selbst über die Ausübung ihres Streikrechts
entscheiden, ohne von einem Apparat bevormundet zu werden. Bei
einem Streik, dessen Ausgang und Perspektiven unklar sind und
der sich in die Länge zieht, ist allerdings die Versuchung groß,
zwischendurch mal wieder einen Tag zu arbeiten und danach den
Ausstand wieder aufzunehmen. De facto war die Teilnahme am
Streik in der vergangenen Woche eine „rotierende“, die unter den
Beschäftigten wechselte – was per se kein negatives Bild ergibt.
Nach Angaben
der Direktion waren an den letzten Tagen des Arbeitskampfs 25
bis 30 Prozent des Gesamtpersonals der Bahngesellschaft SNCF im
Streik (gegenüber gut 60 Prozent zu Anfang), wobei dieser
Durchschnittswert jedoch insofern täuscht, als die Beteiligung
beim „rollenden Personal“ - Lokführer, Schaffner, Mechaniker -
wesentlich höher war als bei den Schalterbediensteten. Um eine
durchschlagende Wirkung zu erzielen, benötigt ein Streik jedoch
eher die Ersteren als die Letztgenannten. Auch bezieht die
Durchschnittsangabe der Bahndirektion die „weißen Kragen“,
höheren und leitenden Angestellten, die gewöhnlich loyal zum
Unternehmen stehen, mit ein.
Dennoch stand der Streik real auf der Kippe.
Das war etwa während des vierwöchigen Herbststreiks der
Eisenbahner im November/Dezember 1995 anders. Aber damals hatten
breite Sektoren der öffentlichen Meinung ihren Ausstand, trotz
Schwierigkeiten bei der Fortbewegung infolge wochenlang
ausbleibenden Nahverkehrs, ausdauernd unterstützt. Das war
dieses Mal anders. Anhaltende Sozialneidkampagnen der
bürgerlichen Rechten gegen die streikenden Beschäftigten als „Beschützer
überkommener Privilegien“, das erfolgreiche
Auseinanderdividieren der Lohnabhängigen – vor dem Hintergrund
von Verschlechterungen, die für andere Berufsgruppen bereits
2003 durchgedrückt werden konnten – und der Druck eines offensiv
vorgehenden konservativen Blocks taten ihre Wirkung. Nur ein
starkes Drittel der öffentlichen Meinung erklärte seine
Unterstützung für den Ausstand bei der Bahn. Und für die
vorletzte Novemberwoche hatte das Regierungslager für den Fall
eines Fortgangs des Streiks bereits massive Gegenmaßnahmen
angekündigt. So sollten UMP-Rathäuser private Ersatzbusse zur
Verfügung stellen, um den Transportsstreik ins Leere laufen zu
lassen. Auch war mit Gegenmobilisierungen von Rechts durchaus zu
rechnen. Insofern war das Risiko hoch, dass der Streik gegen die
Wand gelaufen wäre. Offenen „Verrat“ an den
Beschäftigteninteressen kann man der CGT deshalb in diesem Falle
nicht vorwerfen, unter Berücksichtigung des
Gesamt-Kräfteverhältnisses. (Das billige „Verrat-durch-die-Reformisten-wie-immer“-Geplapper
der Website WSWS, oder World Wide Web Site alias „die einzig
wahren Trotzkisten auf der Welt“, trifft es jedenfalls nicht.)
Negativ für ihre historische Bilanz schlägt dabei allerdings zu
Buche, dass die Lohnabhängigen heute nicht in dieser taktisch
verzwickten Situation wären, hätte die CGT-Führung nicht 2003
den damaligen Bahn- und Transportstreik offen abgewürgt. Im Zuge
des Kampfes gegen die allgemeine „Rentenreform“ waren die
Eisenbahner, die damals noch – vorübergehend – ihr „Sonderregime“
bei den Pensionierungsregeln behielten, damals spontan in den
Streik getreten. Unter dem Vorwand, dass die
Transportbediensteten von der damaligen Reform „nicht betroffen“
seien – ein Argument, das ständig durch die Regierungsseite
bemüht wurde, aber durchsichtig war, da mit der jetzt
vollzogenen Abschaffung der „Sonderregeln“ für die
Eisenbahnerrenten nach wenigen Jahren natürlich zu rechnen war –
hielt die CGT damals den Transportstreik an. Aus Angst, dieser
Ausstand könne in der öffentlichen Meinung „unpopulär“ sein.
Damals waren zwei Millionen Leute gegen die „Reform“ auf der
Straße, die öffentliche Meinung stand mehrheitlich hinter den
Protestierenden, und ein erfolgreiches Lahmlegen der
Transportmittel hätte dem sozialen Konflikt eine andere –
generalstreikähnliche – Dynamik verleihen können. Das wollte der
CGT-Apparat nicht, der ansonsten auch befürchtete, dass ihm die
Kontrolle entglitte. Heute sind die Transportbediensteten nun
isoliert, auf die Unterstützung und allgemeine soziale
Bewegungsdynamik von 2003 können sie nicht länger bauen, und die
Gegenseite ist in die Offensive getreten. Selbst wenn sie heute
ehrlich um eine Abwehr der neuen Angriffe bemüht wäre, dann
hätte die CGT durch ihr Verhalten vor vier Jahren die heutigen
Kampfaussichten geschwächt. Durch ihr damaliges Abwürgen des
Transportstreiks, aus Angst vor „Unpopularität“, hätte sie „Selbstmord
aus Furcht vor dem Tode“ begangen.
Studierendenprotest
Bei den
Studierenden sieht es in den letzten Novembertagen noch anders
aus. Auch nach dem Ende des Arbeitskampfs in den Transportmittel
blieb die Mobilisierung an den Universitäten noch aufrecht
erhalten – obwohl real damit zu rechnen ist, dass die
studentische Bewegung infolge des Fortfalls der
Eisenbahnerstreiks nicht mehr viel wird reißen können. Denn da
die Studierenden über keinen Hebel verfügen, um für ökonomische
Konsequenzen ihres Streiks oder „Verdienstausfälle“ für die
Wirtschaft zu sorgen, kann es der Regierung im Prinzip auch
aussitzen, falls sie mehrere Monate im Streik bleiben.
Die
sozialdemokratisch geführte, größte Studierendengewerkschaft
UNEF hat sich am Wochenende des 24./25. November offen gegen die
Fortführung des Streiks gestellt – zu einem solchen klaren Bruch
zwischen etablierter Gewerkschaft und
Selbstorganisierungsdynamik war es bei den Eisenbahnern und
anderen Beschäftigtengruppen nicht gekommen. Die Vertreter der
UNEF zogen aus der im nordfranzösischen Lille versammelten
Nationalen Streikkoordination aus, nachdem einigen ihrer
Delegierten ihre – angeblich aus Vollversammlungen bezogenen,
aber nicht überprüfbaren – Mandate aberkannt worden waren. Die
Kontrolle der Mandate sollte dazu dienen, ihren
Majorisierungsversuchen einen Riegel vorzuschieben, nachdem die
UNEF zuvor im Sprecherausschuss der Streikkoordination
vorübergehend eine Mehrheit ihrer Leute hatte platzieren können.
Real hat die UNEF allerdings wohl vor allem den aus ihrer Sicht
günstigsten Zeitpunkt genutzt, so lange sie bei Verhandlungen
mit der Hochschulministerin Valérie Pécresse überhaupt noch
etwas für sich erreichen kann, bevor die Streikfront
zusammenbricht oder aber die Regierung sich entschlossen zeigt,
den Rest des Studierendenprotests einfach „aussitzen“ zu können.
Praktisch ist dabei, dass die UNEF, anders als der Rest der aus
in Vollversammlungen gewählten Delegierten bestehenden
Streikkoordination, keinen Rückzug der „Loi LRU“ – zu deutsch
des „Gesetzes über Freiheit und Verantwortung der
Universitäten“, das ihren Rektoren eine finanzpolitische
Autonomie verschafft und den Rückgriff auf Mittel der
Privatwirtschaft ausweiten wird – fordert.
Sondern nur ihre „Verbesserung“.
Radikale
Linke, wie etwa libertäre Kommunisten bzw. Anarchokommunisten
und Trotzkisten der LCR, hatten gegen die Unef eine Dynamik der
Selbstorganisierung zu entwickeln versucht. Mancherorts waren
sie dabei aber zwischen zwei Kräften eingekeilt: Die Unef wollte
die Souveränität der Vollversammlungen real nicht anerkennen,
und wollte eine möglichst schwache Streikkoordination. Zugleich
erhoben mancherorts sich für superradikal haltende Anarchisten
oder ‚Totos’ – ein Kosewort für ‚Autonomes’ – das imperative
Mandat derart zum Dogma, dass de facto kein politischer
Willensbildungsprozess innerhalb der Streikkoordination möglich
geworden wäre. Nach ihrem Willen sollte jede örtliche
Vollversammlung ihren Delegierten haargenau Punkt für Punkt ihr
Abstimmungsverhalten diktieren, und sollten die gewählten
Delegierten darüber hinaus keinerlei Stellungnahme abgeben
können.
In einem
solchen Falle könnte man auch per Internet die Voten der
einzelnen Vollversammlungen addieren und es dabei bewenden
lassen. Dies verkennt aber die Entscheidungsdynamik in einer
nationalen Streikkoordination, wo im Laufe einer 48stündigen
Marathondiskussion neue Vorschläge auftauchen, aus zahlreichen
lokalen Bewegungen sich eine überregionale Bewegungsdynamik
herauszuschälen beginnt. Andere radikale Linke dagegen traten
für ein imperatives Mandat an den entscheidenden Punkten ein,
aber zugleich für die Möglichkeit, dass sich eine Debatte im
Rahmen einer überörtlichen Koordination entwickeln und in deren
Verlauf Entscheidungsbedarf zu neu auftauchenden Fragen
entstehen könne. An der Pariser Universität Tolbiac etwa
erklärten die Unef-Funktionäre hinter vorgehaltener Hand, dass
sie über das Agieren der „Superradikalen“ und
möchtegern-anarchistischen Schrumpfköpfe in den
Vollversammlungen zufrieden seien, da sie ihnen in die Hände
arbeitenden: Man selbst wolle ja eine möglichst schwache
Streikkoordination. Als Sprecher in den Medien sollte ihnen
zufolge ohnehin der hauptamtliche Apparat der Unef dienen.
Ende
vergangener Woche trat nunmehr der bisherige Chef der UNEF,
Bruno Julliard, von seinem Amt zurück. Nicht ohne zuvor am
Freitag zur Wiederaufnahme des Studienbetriebs und zum Abbruch
der Protestbewegung aufzurufen, nachdem Hochschulminister
Valérie Pécresse nunmehr hinreichende „Garantien“ bei der
Anwendung des Gesetzes über die Autonomie der Hochschule
abgegeben habe und „Fortschritte“ zu verzeichnen seien. Gerüchte
besagen, dass Julliard seinen Sessel deshalb zur Verfügung
gestellt bzw. seinem designierten Nachfolger überlassen habe,
weil er bei den Kommunalwahlen im kommenden März 2008 in Paris
für die „Sozialistische“ Partei kandidieren werde. Dies wird vom
Betreffenden jedoch bislang (noch?) dementiert.
Ob die
Dynamik der studentischen Mobilisierungen nun zusammenbricht
oder nicht, wird sich aber erst ab Anfang Dezember (nach
Redaktionsschluss) entscheiden. Denn während der Transportstreik
anhielt, hatten sich die Universitäten rapide geleert. Erst
danach, mit der Rückkehr der Studierenden, wird sich nun
abzeichnen, ob ein Mindestmaß an Bewegung fortbesteht oder ob
der Ausstand schon zu minoritär geworden ist.
Noch keine wirkliche gemeinsame Kampffront
Eine
mögliche „Konvergenz“ zwischen unterschiedlichen Kämpfen hätte
aus dem Streik- und Aktionstag der öffentlichen Dienste am 20.
November resultieren könne. Man kann jedoch nicht wirklich
festhalten, dass der Funke in einer Weise übergesprungen wäre,
die ein „Zusammenfließen“ der Kämpfe erlaubt hätte.
Frankreichweit gingen am 20. 11. nach Angaben der Polizei
375.000, laut CGT 700.000 Menschen auf die Straße.
Real darf man also wohl von einer halben Million ausgehen. In
Paris
sprachen die Veranstalter/innen von 70.000 Teilnehmer/innen.
Auffällig war jedoch, dass mehrere Kräfte auch unter den
OrganisatorInnen versuchten, die beiden Themenblöcke – die
Abwehrkämpfe gegen die Angriffe auf die Renten unter den
‚Régimes spéciaux' einerseits, die Lohn- und Arbeitsplatzfrage
in den übrigen öffentlichen Diensten auf der anderen Seite –
strikt auseinander zu halten. Dies gilt insbesondere für die
rechtssozialdemokratische CFDT, die offen dafür plädierte, beide
Anliegen zu trennen.
So tönte ihr
Generalsekretär François Chérèque am Vorabend der
Demonstrationen, man dürfe „nicht alles miteinander vermischen“,
denn sonst gebe es ein unübersichtliches Gemengelage „und die
Regierung pickt sich dann die Elemente heraus, auf die sie
antworten möchte“. Darüber hinaus griff er „Minderheiten“ an,
dass sie statt eines rein gewerkschaftlichen Kampfs „eine
globale, politische (Streik)bewegung möchten“. Chérèque flog
allerdings aus der Pariser Demonstration am 20. November hinaus
(Labour berichtete, nicht unerfreut). Nicht gar so offen für
eine säuberliche Trennung von Kampffronten und Anliegen
plädierte die CGT, die jedoch ihrerseits nichts dafür tat,
offensiv zu einer „Konvergenz“ und einem Zusammenfließen der
Kämpfe beizutragen.
Sonst könnte sie ja die Kontrolle verlieren…
Editorische
Anmerkungen
Den Artikel in der
vorliegenden Fassung erhielten wir vom Autor am 3.12.2007.
ES HANDELT SICH UM EINE
ÜBERARBEITETE LANGFASSUNG (AUF AKTUELLEM STAND) EINES ARTIKELS,
DER IN STARK GEKÜRZTER FORM AM DONNERSTAG FRÜH IN DER BERLINER
WOCHENZEITUNG ‚JUNGLE WORLD’ ERSCHIEN
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