Als
„bedeutungsloses Ereignis“ (non-événement) qualifiziert die
rechtsextreme, doch relativ parteiunabhängige Wochenzeitung
‚Minute’ in ihrer jüngsten Ausgabe vom 21. November 07 die
Wiederwahl von Parteichef Jean-Marie Le Pen an der Spitze des
Front National (FN). Es hatte keinen Gegenkandidaten für die
„Präsidentschaft“ der rechtsextremen Partei, die Jean-Marie Le
Pen seit ihrem Gründungskongress im Oktober 1972 anführt,
gegeben. Noch einmal blieb „der Kapitän“, wie Le Pen (Sohn eines
1942 auf eine Mine aufgelaufenen bretonischen Fischmeisters)
sich gerne selbst bezeichnet, alleiniger Herr an Bord. Ein
letztes Mal. Dieses Mal hatte der alternde Parteichef, der im
Juni kommenden Jahres 80 wird, immerhin erklärt, dass es sein
letztes dreijähriges Mandat an der Parteispitze sein werde.
Seine „letzte Amtszeit“ für die Jahre 2007-2010 läutet damit
auch offiziell eine „Übergangsphase“ ein.
97,67 % der
Stimmen für seine Wiederwahl hatte Jean-Marie Le Pen bekommen.
Der Rest entfiel auf (in der Regel bewusst) ungültig abgegebene
Stimmen, da, mangels Gegenbewerber, keine Gegenstimmen abgegeben
werden konnten. Das wäre alles nicht weiter der Rede wert, gäbe
es da nicht eine wichtige Neuerung in der Form: Es waren die
einzelnen Parteimitglieder, die (in der Regel per Briefwahl) vor
dem Kongress ihre Stimme für den neu-alten Parteichef oder auch
für die künftigen Mitglieder des „Zentralkomitee“ genannten
Leitungsgremiums abgaben. Und nicht, wie in der Vergangenheit,
die (theoretisch) gewählten, aber in der Praxis oft durch die
Bezirkssekretäre ernannten Kongressdelegierten, die früher in
offener Abstimmung per erhobener Hand den Chef „zu 100 Prozent“
im Amt bestätigten. Diesen Wandel hatte die Cheftochter Marine
Le Pen durchgesetzt, da sie vermutete, unter den „einfachen
Mitgliedern“ populärer zu sein als unter den Altfunktionären und
langjährigen Kadern der Partei, die ihren „Modernisierungs“bestrebungen
skeptisch gegenüber sehen.
Ein großer
Nachteil dabei: Diese Wahlmethode erlaubt, bei der Auszählung
auch festzustellen, wie viele Parteimitglieder der FN wirklich
hat. Und dies in einer Phase, wo die rechtsextreme Partei in
echten Schwierigkeiten und Engpässen steckt. Die reale Anzahl
der Mitglieder wurde darum auch beim FN-Parteitag in Bordeaux
vom 17./18. November wie ein Staatsgeheimnis gehütet: Die
Wahlergebnisse für die Führungsmitglieder wurden nicht in
absoluten Zahlen, sondern in Prozentergebnissen bekannt gegeben.
Übrigens blieb auch die Zahl der Teilnehmer an dem Kongress, der
dieses Mal mitgliederoffen war, geheimnisumwoben – die
Parteiführung unterließ jedes (offiziell angekündigte)
Auszählen, französische bürgerliche Medien bezifferten die
anwesenden Aktivisten jedoch auf rund 200.
‚Minute’,
die bei grundsätzlicher Sympathie für den FN eine gewisse
Unabhängigkeit gegenüber seiner aktuellen Parteiführung unter
Beweis stellt, gibt nunmehr die Anzahl der durch die Abstimmung
zu Tage getretenen Mitglieder des FN mit „13.000 bis 15.000“ an.
(Die Parteiführung behauptet offiziell, sie liege zwischen
40.000 und 80.000. Die letzten verfügbaren Zahlen, die
nachprüfbar sind, betreffen den letzten Moment unmittelbar vor
der großen Spaltung des FN im Dezember 1998 – Le Pen/Mégret -,
in deren Verlauf Gerichtsdiener die Mitgliederakten überprüften:
Damals gab es 42.000 Beitrag zahlende Parteimitglieder. Seitdem,
so lautet ein offenes Geheimnis, ist die Mitgliederzahl stark
zurückgegangen.) Gleichzeitig ist zu erfahren, dass die
Teilnahmequote an der Wahl von Parteichef und Vorstand, gemessen
an der offiziellen Mitgliederzahl, bei 51,4 % liege. Also
mutmaßlich irgendwo zwischen 6.000 und 8.000 Abstimmenden. Damit
dürfte unterdessen klar sein, dass die reale Mitgliederzahl des
FN, nach Abzug von Karteileichen, heute eindeutig im
einstelligen Tausenderbereich liegen dürfte. Also eine
vierstellige, und nicht mehr länger eine fünfstellige Anzahl
sein dürfte.
Unter den
prominenten Vorstandsmitgliedern, die zur (Wieder)Wahl standen,
erhielt Bruno Gollnisch mit 85,14 % das höchste Ergebnis, und
Marine Le Pen mit 75,76 % das zweithöchste. ‚Minute’
interpretiert dieses Ergebnis dergestalt, dass „fast alle ‚Marinisten’
für Bruno Gollnisch gestimmt haben, aber ein kleiner Teil der ‚Gollnischianer’
nicht für sie (die Le Pen-Tochter) votierte“. Die beiden
künftigen großen Rivalen im Streit um die Parteiführung und den
Kurs des FN haben nun, aller Wahrscheinlichkeit nach, dergestalt
Aufstellung bezogen. Zwar galt Gollnisch in den letzten Monaten
als „aus dem Rennen geworfen“, nachdem er im August eine schwere
Herzoperation erlitten hatte. In jüngster Zeit hat er allerdings
dennoch seinen Willen bekräftigt, doch künftig im Rennen um den
FN-Vorsitz dabei zu sein.
Als dritter
Mann könnte eventuell ein anderer langjähriger Kader, der –
ebenso wie Altfunktionär Gollnisch – „Marines“ Kurs potenziell
zu moderat und zu „modernisierungsfreudig“ findet, in Gestalt
von Carl Lang noch mitmischen. Anlässlich der Neuwahlen zu den
Führungsinstanzen auf dem Kongress von Bordeaux hatte Lang
zunächst auf eine erneute Kandidatur und damit auf seine
Wiederwahl ins „Zentralkomitee“ der rechtsextremen Partei
verzichtet. Allerdings hat Jean-Marie Le Pen ihn „aufgefischt“,
indem er ihn auf der Liste der von ihm persönlich ernannten
Mitglieder erneut in dieses Gremium hob. Damit bleibt Lang, der
als Vertreter der rassistischen Neuheiden gilt, vorläufig im
Rennen. Allerdings hört man nicht mehr viel vom vierten Anwärter
auf die „Präsidentschaft“ des FN, Jean-François Touzé, auch wenn
seine Linie „in der Sache“– die auf eine Wiedervereinigung der
französischen extremen Rechten, also mit den 1999 zusammen mit
Bruno Mégret abgegangenen Aktivisten, abzielt – unter den
Kongressteilnehmern populär zu sein schien. Denn der
Marine-Vertraute und jetzige Generalsekretär des FN, Louis Aliot,
erhielt nicht nur ein schlechtes Wahlergebnis zum Vorstand,
sondern wurde noch zusätzlich bei der Verkündung der
Stimmergebnisse ausgepfiffen. Ihm wird allem Anschein nach durch
die Kader vorgeworfen, dass er – im Namen der Bedürfnisse der
„Modernisierung“ – eine Wiederannäherung an die dereinst mit
Mégret aus der Partei ausgetretenen Rassenkundler und Neuheiden
verhindern möchte. „Wenn er allein so stark ist, dann soll er
sie doch selbst alleine aufstellen, seine Listen zu den
Kommunalwahlen (im März 2008)!“, tönte etwa ein
Kongressdelegierter, der Aliot zusammen mit anderen ausgebuht
hatte.
Zwischen
Marine Le Pen und Bruno Gollnisch dürfte damit nunmehr, hinter
den Kulissen, alsbald der Erbfolgekrieg entbrennen. ‚Minute’
spricht in diesem Zusammenhang von einem beginnenden
„Grabenkrieg“. Vor diesem Hintergrund könnte der FN in naher
Zukunft absehbar mit sich selbst beschäftigt sein. Allerdings
könnte es ihm zugleich auch gelingen, erneut Aufmerksamkeit in
der Öffentlichkeit zu gewinnen, indem er in den letzten Tagen
die neu ausgebrochenen Krawalle in den Pariser Banlieues
(Trabantenstädten) nutzt, um seine Agitation gegen „kriminelle
Ausländer“ und „Unruhestifter“ zu verstärken. Unglücklicher
Zufall ist es, dass just in diesem Moment ein prominentes
Führungsmitglied der Partei – Jean-Michel Dubois – in der Parser
Vorstadt Villiers-le-Bel, wo die jüngsten Unruhen ihren Ausgang
nahmen, im Wahlkampf steht: Dort, im Umkreis von Sarcelles, wird
in Kürze ein durch den Abgang des bisherigen
Wahlkreis-Abgeordneten Dominique Strauss-Kahn nach Washington
(wo er neuer Direktor des Internationalen Währungsfonds IWF
geworden ist) frei gewordener Abgeordnetensitz neu zu besetzen
sein. Dazu findet eine so genannte ‚élection partielle’ oder
„Teilwahl“ statt, wie es im französischen System üblich ist, wo
es keine Landeslisten bei den Parlamentswahlen gibt. Der
FN-Kandidat Dubois verstand es kurz nach Ausbruch der Riots
geschickt, die in Teilen der Gesellschaft aufgebrochenen Ängste
aufzugreifen und sich in Szene zu setzen. Ob es der extremen
Rechten insgesamt gelingt, von den Auswirkungen dieser Situation
zu profitieren und verstärkt Wasser auf ihre Mühlen zu lenken,
bleibt unterdessen noch abzuwarten.
Editorische
Anmerkungen
Den Artikel in der
vorliegenden Fassung erhielten wir vom Autor am 3.12.2007.