Die verkehrte Schule in der verkehrten Gesellschaft

von Hans-Peter Waldrich

12/07

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Als Anfang der siebziger Jahre der Kulturkritiker Ivan Illich die Abschaffung der Schule forderte, weil er sie als Herrschaftsinstrument, als Konditionierungsanstalt und als  Gefängnis betrachtete, stieß er in der Öffentlich keit auf breite Resonanz. Zur gleichen Zeit hatte auch der französische Philosoph Michel Foucault die Schulen als Teil der großen Einsperrung beschrieben, mit der die abendländische Zivilisation seit der Neuzeit ihre unproduktiven und missliebigen Elemente bedachte, um sie entweder in den Produktionsprozess einzugliedern oder wenigstens davon abzuhalten, diesen zu stören.

Als nun die »Entschulungsdebatte« losbrach und der nahezu unvermeidliche Bedingungszusammenhang zwischen dem Schulwesen und den Herrschaftsverhältnissen historisch unterschiedlicher Gesellschaftsformen deutlich wurde, stellte sich die Frage, ob denn Schule überhaupt etwas anderes sein könne als eine Stätte, an der Kinder und Jugendliche so weit verbogen und zugerichtet werden, bis sie in das enge Getriebe einer wenig am Glück des Einzelnen interessierten Erwachsenenwelt hineinpassen. Doch, was sollte an die Stelle der abgeschafften Schule treten?

Weniger radikal als die Forderung, die Zwangsanstalten der Schulen aufzulösen, erschien es da her, die fundamentale Veränderung des Schulwesens zu propagieren. Die pädagogischen Institutionen sollten gründlich reformiert und umgestaltet werden. Ihr Ziel sollte nun nicht mehr die rigide Sozialisation nach der Maßgabe der für die jeweiligen Eliten nützlichen Arbeitsbedingungen  sein. An die Stelle der Herrschaft über Individuen sollte deren Emanzipation treten. So wanderten Begriffe wie Befreiung, Überwindung der Klassengesellschaft, emanzipatorische Erziehung in die Schulbücher und sogar in die Richtlinien und Lehrpläne. Kinder und Jugendliche sollten ihre Position und die ihnen zugemutete Rolle in der kapitalistischen Gesellschaft erkennen und lernen, wie man sich im Sinne von Freiheit und Selbstrealisation gegen solche Zwangszuweisungen wehrt. Im Hintergrund stand der Gedanke einer kollektiv vorangetriebenen Veränderung, die den auch im Deutschen Grundgesetz impliziten Emanzipationsanspruch und die Freiheit aller im Rahmen einer gerechten Gesellschaft einlöst. Wer sich an den Streit um die Hessischen Rahmenrichtlinien zu erinnern vermag, hat damit ein gutes Beispiel.

Solcherlei Debatten sind heute kaum mehr vorstellbar. Ein neuer Illich könnte seine Thesen ins Internet stellen, – die großen  Verlage und die auflagenstarken Zeitungen, die  Rundfunk- und Fernsehanstalten würden davon keine Notiz nehmen. Nicht etwa, weil solche Überlegungen bereits widerlegt sind oder man sich daran gedanklich oder politisch abgearbeitet hat, sondern schlicht, weil sie im gegenwärtigen ideologischen Einheitsgetöne absolut verschroben klingen. Was hat sich geändert?

Es ist kaum möglich, darauf eine einfache Antwort zu geben. Wo die gesellschaftliche Wahrheit liegt und was überhaupt wert ist, behandelt und in Betracht gezogen zu werden, ist ganz offensichtlich der Mode unterworfen, wobei danach zu fragen wäre, wer den Trend der jeweiligen Moden bestimmt. So ist beispielsweise auch ein anderes großes Thema der siebziger Jahre, nämlich die Frage nach den Grenzen des Wachstums, wie auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Nun wird im Gegenteil Wachstum, speziell Wirtschaftswachstum, als selbstverständliches Haupt- und Generalziel aller politischen und gesellschaftlichen Bemühungen und vermittelt auch als der Sinn privater Anstrengungen herausgestellt. Der notwendige Bedingungszusammenhang zwischen dem Wachstumsdogma und der kapitalistischen Ökonomie wird öffentlich dabei nicht einmal eines Seitenblickes gewürdigt.

Was das öffentliche Bewusstsein anlangt, so hat also eine Art ideologischer Salto mortale stattgefunden. Wer glaubte, wir seien seit den siebziger Jahren ein Stück weiter gekommen, sieht sich düpiert. Uralte Thesen und Ideologien werden aus der Mottenkiste geholt und als überaus neu präsentiert. Dementsprechend scheint es heute, als seien kritische Ansätze grundsätzlich nicht mehr der Rede wert. Überhaupt gilt Fundamentalkritik an den generellen Strukturen und Basiskonstanten der kapitalistischen Ökonomie als gänzlich unmodern. Eine Zeit des bedingungslosen »Realismus« ist angebrochen. Wer so elementar wie damals Ivan Illich ansetzt, wird darauf verwiesen, dass er die »Realität« verkenne. Man findet sich ab, man arrangiert sich. Gesellschaftliche Tatbestände werden wie Naturphänomene angesehen, an denen nun einmal nicht zu rütteln ist. Sehr rasch endet die Diskussion um politisch und gesellschaftlich Machbares bei dem einen und einzigen Schluss einer jeden Debatte: bei der Globalisierung. Und jeder weiß, was daraus folgt, was auf der Tagesordnung steht, was angesagt ist, was politisch getan werden muss. Wie konditioniert redet man vom »Sparen«, von so genannten »Reformen«, fordert die Senkung von Löhnen und Sozialleistungen usw. Zunächst also die angeblich unveränderbaren Fakten, dann das Wenige, was eventuell noch möglich wäre.

Trotz dieser merkwürdig konservativen Haltung soll aber alles und jedes erneuert, »reformiert« werden. Ausgerechnet in einer Zeit, in der eigentlich nichts mehr zu gehen scheint (kein Sozialstaat, keine Mitbestimmung, keine öffentliche Förderung kultureller Einrichtungen etc.), jagt in der Politik eine Reform die nächste, so als müsste jeder Stein, der heute noch auf dem anderen liegt, morgen schon wieder gekippt werden. Und so tönt es natürlich überall, die wichtigste aller Reformen sei die des Bildungswesens. Ohne Bildung keine Zukunft! Bildung wird wieder ernst genommen. Aber natürlich ist die Zielrichtung des heutigen Rufs nach Reformen in Schul- und Hochschulwesen Lichtjahre entfernt vom Tenor der älteren Debatte. Es geht  – wie überall heute – um »Effizienz« und hinter der Effizienz natürlich um Wirtschaftswachstum.

Eine gänzlich andere Debatte also als diejenige der siebziger Jahre! Wie bei allen Reformen dreht sich auch hier alles um die Idee des gesteigerten »Outputs«.Wollte Illich die Freiheit des Individuums, will man jetzt messbare Ergebnisse, in letzter Konsequenz Rendite. Was den Einzelnen betrifft, so will man nicht seine Emanzipation, sondern seine »Flexibilität« und damit seine Anpassung. Zwar zielt man auch heute auf eine Art Kreativität bei den späteren Arbeitnehmern, aber es ist die Kreativität cleverer Marketingleute. »Evaluationen« haben zu beweisen, dass ein Nutzen dabei herausspringt. Bildung soll ein berechenbares Plus garantieren und dies (ganz betriebswirtschaftlich gedacht) in Geldeinheiten.

  • Was also geschieht wirklich in  unseren Schulen im Zeitalter der  Globalisierung?

  • Wozu sollen Schulen taugen?

  • Was soll geschehen?

Jede Antwort hängt davon ab, in welchem Ausmaß man sich an das »realistische« Paradigma des Augenblicks bindet. Dieses Paradigma schließt eine Vielzahl möglicher Antworten von vornherein aus. Es bescheidet sich mit dem, was auf der Hand zu liegen scheint, weil man es überall hört und es jeder sagt.

So muss man schon einige Schritte zurücktreten, um überhaupt zu erkennen, was Thema ist. Eine kritische Betrachtung muss den Mut zum Abstand haben. Aber auch der Kritiker, der sich nicht an modische Voraussetzungen bindet, darf es sich nicht allzu leicht machen. Da die wichtigsten Argumente gegendas kapitalistisch funktionalisierte Schulwesen schon vorliegen, könnte er die breite und fundierte Schulkritik der letzten Jahrzehnte einfach referieren. Denn die Grundfunktion der Schulen im Kapitalismus ändert sich durch die Globalisierung nicht. Das ist ja gerade der Skandal: Globalisierung wird den Menschen als fundamental neu, als Chance, ja geradezu als positive Utopie verkauft. Aber sie steigert (im Interesse der Kapitaleliten betrieben) nur die schon bekannten
Mechanismen: Herrschaft von oben und rigide Anpassung von unten sind ihre herausragenden
Momente! Daher ist es einerseits wichtig, die zentralen Argumente der Schulkritik lebendig zu
erhalten und zu sehen, was an wesentlichen Modifikationen hinzugekommen ist.

Ist Schulkritik aber andererseits zugleich eine Art Globalisierungskritik, kann mehr getan werden. Generell ist Globalisierungskritik schlecht beraten, wenn sie nicht zugleich die denkbaren Möglichkeiten aufzeigt, wie der gesellschaftliche und politische Wandel im Sinne eines wirklichen Fortschritts gesteuert werden könnte. Globalisierung als sich weltweit vernetzender Kommunikationsprozess ist gewiss ein hinzunehmendes Schicksal und im ersten Ansatz auch gar kein negatives. Aber die Formen dieser Vernetzung auf wirtschaftlichem, politischem und kulturellem Gebiet scheinen wie einzementiert in die Vorgaben der Finanz- und Kapitaleliten. In deren Interesse wird der neoklassische Ansatz in der Ökonomie zum Fetisch erhoben. Und Politik erweist sich als eine ohnmächtige Veranstaltung flankierender Maßnahmen. Globalisierungskritik sollte daher zunächst darauf zielen, den Spielraum des Politischen offen zu halten. Demokratie ist immer noch möglich. Auch wenn die Eliten dies bestreiten, existieren Handlungs-alternativen.

Was bedeutet eine solche Sicht für eine Analyse des gegenwärtigen Schulwesens? Sie enthält dreierlei Konsequenzen: Sie muss erstens zeigen, was Schule ihrem Wesen nach innerhalb von herrschaftsdominierten kapitalistischen Gesellschaften nun einmal ist. Hierzu bedarf sie der konkreten Untersuchung des schulischen Alltags. Darüber hinaus muss Schulkritik zweitens gerade den gegenwärtigen Wandel zu fassen suchen. Welche Aufgaben werden den Schulen im Rahmen der Globalisierung zugemutet? Was ist daran alt und was neu? Und last, not least stellt sich drittens die Frage: Liegen in den Umbrüchen der Gegenwart vielleicht auch Chancen und Entwicklungspotenziale, wenn auch möglicherweise in eine ganz andere Richtung deutend, als es der fast wie aus einem Munde vorgetragenen Einheitsmeinung heute entspricht? 
 

Editorische Anmerkungen

Dr. phil. Hans-Peter Waldrich, u.a. Lehrbeauftragter Universität Karlsruhe, ist in der Lernförderung tätig und lebt in Freiburg.

Von ihm erschien u.a.: Der Markt, der Mensch, die Schule-Selektionsmaschine oder demokratische Lerninstitution?, PapyRossa Verlag, Köln,2007, 14,80€.

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