Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Reportage aus Villiers-Le-Bel
Eine angekündigte Kollision. Oder: Die Architektur ist unschuldig
 

12/07

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Im Moment herrscht in Villiers-le-Bel wieder Ruhe, jedoch eine höchst angespannte Atmosphäre, nachdem das französische Innenministerium am vorigen Dienstag (4. Dezember) einen Aufruf zur Übermittlung von „Hinweisen, die zur Ergreifung der Täter“ im Zusammenhang mit den jüngsten Unruhen führen könnten, herausgegeben hat. Es handelte sich bereits um den zweiten diesbezüglichen Aufruf: Am vorausgehenden Samstag waren rund 1.000 Flugblätter ähnlichen Inhalts in Villiers-le-Bel verteilt worden, welche viele Einwohner jedoch für eine Provokation, einen Scherz der Aufrührer hielten. Seitdem scheint der Aufruf jedoch zum Teil gefruchtet zu haben: Unlängst war aus der Pariser Abendzeitung ‚Le Monde’ zu erfahren, dass rund 100 Anrufe bei der Polizei eingegangen seien, um sachdienliche Hinweise auf die Urheber der Schüsse aus Schrotflinten oder –pistolen auf Polizeibeamte abzugeben. Auch per Handy gedrehte Videofilme über den Ausbruch der Unruhen seien abgegeben worden, hieß es. 

In der kritischen Öffentlichkeit wurde dieser Appell weithin als Aufruf zur personenbezogenen Denunzierung aufgefasst und als solcher negativ bewertet. Die beliebte polit-satirische Puppensendung des französischen Fernsehsenders Canal+, ‚Les Guignols de l’info’, griff das Thema zu Anfang dieser Woche auf und nutzte dabei die Doppeldeutigkeit des französischen Begriffs ‚dénonciation’ („Anklage“ im Sinne von Kritik eines Zustands, aber auch im Sinne des deutschen Begriffs der Denunzierung von jemandem -- für den es freilich auch den spezifischeren eigenen Begriff ‚délation’ gibt, vor allem dort wo es darum geht, jemanden an die Polizei auszuliefern): Man sieht in einer Szene die französische Innenministerin Michèle Alliot-Marie, die am Telefon der „Hot-Line Denunziation“ sitzt und den Hörer abhebt. Eine Stimme, die den Akzent eines Immigrantenjugendlichen nachahmt, beginnt: „Ich rufe an, um zu denunzieren. Bei uns funktionieren seit Monaten die Aufzüge nicht. Und es gibt keine Nahverkehrsmittel, um nach Roissy (Anm.: zum benachbarten Flughafen und Jobreservoir; s.u. nachfolgende Reportage) zu fahren. Und es gibt keine Jobs, undund...“ Bis die geplagte Innenministerin schließlich den Hörer auflegt..  

REPORTAGE 

Das Erste, was sofort auffällt, ist der Anschein von Banalität, ja fast von Idylle. Wer in Villiers-le-Bel aus dem Bus steigt, der vom Bahnhof der Schnellbahn RER im benachbarten Arnouville aus herüber fährt, findet keine gigantischen Wohnsilos vor. Weder riesige Hochhaustürme noch Plattenbauriegel, bis auf einen einzigen, der auf den romantisch anmutenden Namen ‚La Cerisaie’ (Der Kirschgarten) hört.  

Von der Haltestelle im Zentrum von Villiers-le-Bel aus losgehend, stößt man zunächst auf einen historischen Dorfkern. Er wird durch Straßen mit schmucken Häuschen und kleinen Läden geprägt. Manchen von ihnen sieht man an, dass es sich vor vielleicht zwei Generationen noch um Bauernhöfe handelte. Dieser Teil von Villiers-le-Bel hört heute auch offiziell auf den Namen Le Village, „das Dorf“. Einige Querstraßen weiter dann betritt man die Kollektivsiedlungen des sozialen Wohnungsbaus, die heute 50 Prozent der Gesamtzahl der Wohnungen ausmachen. Sie weisen drei bis zehn Stockwerke auf, zeichnen sich also keineswegs durch Gigantomanie aus, und die Siedlungen insgesamt sind wesentlich kleiner als die Hochhaus- und Plattenbaulandschaften anderer Pariser Trabantenstädte wie Argenteuil, Nanterre oder La Courneuve. Alles eher unspektakulär. Doch das Zweite, was einem kurz darauf auffällt, ist der ständig, immer wieder auftretende Lärm: Alle paar Minuten gleitet ein riesiger eiserner Vogel donnernd im Start- oder Landeanflug über die Häuser von Villiers-le-Bel.  

Wir sind im unmittelbaren Einzugsbereich des Pariser Großflughafens Roissy-Charles de Gaulle. Und damit des größten Arbeitsgebers der Ile-de-France, also der Verwaltungsregion, die Paris und seine weitere Umgebung umfasst - mit 76.000 Arbeitsplätzen. Die den Einwohnern von Villiers-le-Bel, vor allem den jüngeren oder ärmeren unter ihnen, aber kaum zugänglich sind. Denn wer kein eigenes Auto besitzt, hat keinerlei Chance, einen dieser Jobs zu besetzen: Die Arbeitszeiten sind rund um die Uhr flexibel, und den Flughafen von hier aus mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen, ist vollkommen aussichtslos, obwohl er in dichtester Nachbarschaft liegt. Nicht nur aufgrund der nächtlichen Pause bei den Transportbetrieben: Um sich mit öffentlichen Nahverkehrsmitteln in den Flughafenbereich von Roissy zu begeben, müsste man erst zum drei Kilometer von Villiers entfernten Bahnhof kommen – der Bus verkehrt nicht allzu häufig -, dann südlich nach Paris fahren, und von dort aus zurück in Richtung Norden: eine halbe Stunde vom Pariser Nordbahnhof bis zur RER-Haltestelle am Flughafen. Eine Geld- und Zeitverschwendung sondergleichen, die kaum aufzubringen ist. Zwar plant der französische Staat, eine Seitenlinie für den RER zu bauen, die es erlauben soll, vom gemeinsamen Bahnhof der drei Städte Arnouville, Gonesse und Villiers-le-Bel zum Flughafengelände zu kommen. Aber sie soll nach derzeitigen offiziellen Angaben nicht vor 2020 oder sogar 2030 fertig werden, da sie nicht als „Priorität“ gilt. 

Die Stadt mit 26.000 Einwohnern, die in der vergangenen Woche für derart viel Schlagzeilen in Frankreich sorgte, wirkt vom Äußerlichen her eher unauffällig. Villiers-le-Bel liegt 18 Kilometer vom Zentrum der französischen Hauptstadt entfernt in nordnordöstlicher Richtung, und damit etwa zwölf Kilometer weit weg von der den Pariser Stadtkern umgebenden Ringautobahn, dem Boulevard périphérique. Beinahe glaubt man sich auf dem Lande, vor allem bei der Fahrt über das von Äckern gesäumte riesige Brachgelände, das den Großteil von Villiers-le-Bel von der Zone rund um den RER-Bahnhof trennt. Der Brachstreifen wird seit 30 Jahren vom Staat für die Verlängerung der Autobahn A16 reserviert, die nie gebaut wurde. Über den Acker sieht man hinüber nach Sarcelles, das südlich an Villiers-le-Ben angrenzt. Dort findet man, was man in Villiers selbst vergeblich suchen würde: Gigantomanische Plattenbausiedlungen und Hochhauskomplexe, die von weitem sichtbar sind. Sarcelles, das damals weitgehend auf der grünen Wiese lag, wurde 1954 zum landesweit ersten „Experimentierfeld“ für große Kollektivsiedlungen mit Hochhäusern. In einem Frankreich, das damals eine Welle der Landflucht und Zunahme der Stadtbevölkerung erlebte, die noch bis tief in die siebziger Jahre hinein andauern sollte.  

Die Brachfläche, die Trennung zwischen der Stadt und der Umgebung des Bahnhofs, sowie die Zugangsschwierigkeiten zum nahen Flughafen - vor allem als potenzieller Arbeitgeber - verstärken zusammen den Eindruck einer räumlichen Abgeschlossenheit und Isolierung: Wer hier lebt, fühlt sich im Stich gelassen. Und dies insbesondere in Zeiten, da das so genannte Arbeitsplätze„angebot“ allgemein verknappt ist, an der sozialen Infrastruktur gespart wird, und Teile der sozialen Unterklassen vom Ansteigen des durchschnittlichen Lebensstandards spürbar abgekoppelt worden sind.  

Früher war es einmal nicht unattraktiv, hier zu wohnen: In 15 RER-Minuten Entfernung von Paris konnte man in einer Stadt wie Villiers-le-Bel in ländlicher Umgebung und nahe am Grünen siedeln. Arbeiter und Angestellte ließen sich hier nieder, nachdem der Staat in den sechziger Jahren massiv in den Wohnungsbau investiert hatte, zunächst, um die bei der Unabhängigkeit (1962) aus Nordafrika ausgesiedelten Algerienfranzosen unterzubringen. In der Hauptstadt und ihrer Umgebung gab es noch genügend Jobs in greifbarer Nähe. Über die geographische Situation der Stadt machte man sich nicht so viele Gedanken, man war vor allem am Abend und am Wochenende dort und mitunter froh, vom Treiben der Großstadt ein wenig abgeschnitten zu sein. Aber mit dem Ausbleiben von Arbeitsmöglichkeiten wird die vermeintliche Idylle für die Bewohner, und für ihre heranwachsenden Kinder, zum faktischen Gefängnis: Ohne regelmäßiges Einkommen kann man sich die – aufgrund der Lage in einer äußeren Zone des Verkehrsverbunds - relativ teuren Verkehrsmittel etwa nach Paris nicht mehr oft leisten. Vor Ort eingeschlossen, wird das Leben irgendwann öde. Wer es rechtzeitig schaffte, zog fort. Die Dagebliebenen fühlen, dass sich der Ruf ihrer Stadt verschlechtert, dass eine Adresse hier ihre Jobchancen schmälert. Soziale Krisenphänomene und Gewalt wuchsen an. Wer aber als Jugendlicher einmal „Dummheiten“ beging oder der Polizei auffällig wurde, hat rasch verspielt: Um etwa am Flughafen zu arbeiten, darf man nicht nur kein Vorstrafregister aufweisen, sondern darf auch nicht in sonstiger Form in den Polizeiakten zitiert werden. „Aus Sicherheitsgründen“, wie es heißt. In den letzten Jahren wurde die Schraube noch angezogen, was die Einstellungskontrollen etwa bei Gepäcksortierern und –trägern in Roissy betrifft. Eine Massenkündigung von moslemischen Beschäftigten aufgrund von „Sicherheitsbedenken“ vor einem guten Jahr führte zu einer Kollektivklage, die durch die großen Gewerkschaften unterstützt wird, welche von Diskriminierungsverdacht sprechen. Die Angelegenheit wird demnächst die Gerichte beschäftigen. 

In Villiers-le-Bel sind 40 Prozent der Bevölkerung jünger als 25. In dieser Altersgruppe findet ein Drittel nach dem Ende der Schule oder Ausbildung keinen Job. In den sozialen Wohnungsbausiedlungen der Stadt bündeln sich die sozialen Probleme. An überdimensionierter Architektur oder ähnlichen Ursachen liegt es also jedenfalls nicht, wenn hier gesellschaftliche Krisen- und Verwerfungserscheinungen auftauchen, zu deren Katalysator in den vergangenen Tagen der tödliche Zusammenstoß zweier Heranwachsender mit einem Polizeiauto geworden ist. 

Hintergründe eines Unfalls (mit oder ohne Anführungszeichen) 

Es ist bisher noch ungeklärt, wie genau die Kollision am frühen Abend des vorletzten Sonntag  ablief und was dahinter steckt. Die offizielle Version lautet, dass ein im Französischen als ‚mini-moto’ bezeichnetes Crossmotorrad, auf dem zwei Jugendliche – der 16jährige Larami Samoura und Moushin Cehhoulin (15), deren Familie einst aus dem Senegal sowie aus Marokko nach Frankreich einwanderten – saßen und ohne Sturzhelm fuhren, an einer Ecke dem Polizeifahrzeug die Vorfahrt genommen habe. Daher sei das Minimotorrad, von vorne links her kommend, in das Polizeifahrzeug hinein gefahren, welch letzteres mit 40 bis 50 km/h, also mit moderater Geschwindigkeit gefahren sei. Der junge Bäckerlehrgang und sein Freund, der am folgenden Tag eine Lehre als Klempner beginnen sollte, seien durch die Luft geschleudert worden und sofort tot gewesen. Gegen diese „offizielle“ Theorie wird aber der Zustand des Polizeifahrzeugs angeführt: Dieses weist auf seiner gesamten Vorderseite - und zwar auf der linken ebenso wie auf der rechten Flanke und dazwischen - einen Totalschaden auf, wie er nur von einer schweren Kollision im vorderen Bereich stammen kann. Darauf hatte die Polizei wiederum eine Antwort. Deren interne Ermittlungen sollten zwar nach ersten Angaben eine Woche dauern, aber am vorletzten Montag gaben Polizei und Staatsanwaltschaft schon nach wenigen Stunden bekannt, die betroffenen Polizisten seien an der für die Jugendlichen tödlichen Kollision vollkommen unschuldig. Den Zustand des Unfallwagens erklärten sie damit, dass junge Aufrührer das Polizeiauto zu einem späteren Zeitpunkt nachträglich mit Eisenstangen demoliert hätten.  

Dumm nur, dass die liberale Pariser Abendzeitung Le Monde am Mittwoch vergagnener Woche ein Amateurvideo veröffentlichte, das unmittelbar nach dem Unfall aufgenommen worden war. Es wurde von einem Anwohner gedreht, der sofort nach dem Ereignis auf die Straße hinunter ging und dessen Kamera höchstens zehn Minuten nach dem Zusammenprall zwischen Auto und Minimotorrad zu drehen begann. Auf seinem Videofilm sieht man -nach einigen Minuten - den Krankenwagen aus der Klinik in der Nachbarstadt Gonesse eintreffen, der maximal 15 Minuten nach dem tödlichen Aufprall ankam. Feuerwehrleute sind bereits am Unfallort. Und man sieht darauf allzu deutlich, dass sich das an der Kollision beteiligte Polizeifahrzeug bereits in dem Zustand befand, den es auch später aufwies. Dass in den wenigen Minuten vor Drehbeginn, während immer mehr Anwohner sich zur Unfallstelle begaben und die Feuerwehr bereits dort war, Jugendliche mit Eisenstangen am Polizeiauto zu schaffen gemacht hätten, erscheint reichlich unwahrscheinlich. Die Polizeiversion wird dadurch aber restlos unglaubwürdig. 

Was aber steht dann hinter dem Geschehen? Ein junger Mann zwischen 25 und 30, der uns auf der Straße anspricht, weil ich die heruntergebrannte Polizeiwache an der Grenze zwischen Villiers-le-Bel und Arnouville photographiere, kennt eine Antwort. Er selbst verurteilt die schweren Ausschreitungen, die sich infolge des Todes von Larami und Moushin in seiner Stadt abspielten, weist aber auch auf die Ursachen hin: Nicht alle, aber einige Polizeibeamte seien ausgesprochen rassistisch und schikanierten vor allem die Jugendlichen aus Einwandererfamilien. Viele der Jugendlichen aus den sozialen Unterschichten wiederum vertrieben sich ihre Zeit damit, auf kleinen Crossmotorrädern durch die Gegend zu heizen. Das nerve die Polizisten, die sich darauf verlegt hätten, diesen Jugendlichen Angst einzujagen: Man verfolge sie im Auto und fahren von hinten ganz dicht an sie heran oder versetze ihnen einen Stoß von hinten, um ihnen Furcht einzuflößen. Das hätten die beteiligten Beamten bestimmt auch in diesem Falle versucht: „Sie wollten sie nicht töten, nur von hinten anfahren. Aber dieses Mal haben sie zu stark beschleunigt und sind mit Vollgas auf sie draufgefahren. Ein Freund von mir ist Ingenieur und war bei einer Firma in der Unfallforschung tätig: Er meint, so wie das Auto aussehen, müssten sie zum Kollisionszeitpunkt 120 Stundenkilometer drauf gehabt haben, sonst könnte es nicht in solch einem Zustand sein. Deshalb auch sind die Polizisten nach dem Unfall abgehauen, statt Erste Hilfe zu leisten: Sie wussten, dass sie eine Dummheit angerichtet hatten, und bekamen es mit Angst vor den Folgen zu tun.“  

Seine Version wird von anderen jungen Leuten vor Ort geteilt. Die Jurastudentin Kahina und Tochter kabylischer Eltern (ALLE VORNAMEN WURDEN DURCH DIE REDAKTION GEÄNDERT), die mir Kontakte zu Jugendlichen vor Ort vermitteln wollte – die dann aber letztendlich kniffen, angeblich weil einige von ihnen inzwischen polizeilich gesucht werden – berichtet, dass diese erzählten, zwei bis drei Wochen vor dem tödlichen Unfall hätten Polizisten anderen Heranwachsenden in Villiers-le-Bel gedroht: „Wenn Ihr mir Eurem blöden Crossfahren nicht aufhört, dann fahren wir Euch über den Haufen.“ Ähnliches kolportierte auch die Familie eines der beiden getöteten Jugendlichen am vorletzten Montag im Fernsehen, wo ihre entsprechende Aussage aber nach nur einer Nachrichtensendung von den Bildschirmen verschwand. Der Vorwurf des unterlassenen Versuchs zur Hilfeleistung für die beiden gestürzten Jugendlichen wiederum wird von zahlreichen Bewohnern von Villiers-le-Bel erhoben und geistert seit Tagen durch alle Medien. Auch die interne Ermittlung der Polizei bleibt an diesem Punkt wesentlich vager als bei der Zurückweisung des Vorwurfs, die Polizei trage irgendeine Mitschuld an dem Vorfall: Bisher spricht man in dieser Hinsicht nur davon, „keinen schweren Verstoß“ gegen das Dienstrecht festgestellt zu haben. Allem Anschein nach hatten die Insassen des Unfallautos Verstärkung von anderen Polizisten herbeigerufen, und sich von diesen schnellstmöglich von Ort und Stelle weg evakuieren lassen.     

Riots und ihre Folgen 

Das tödliche Zusammenstoß und seine Begleitumstände wurden zum Auslöser einer sozialen Explosion, in deren Verlauf sich vor allem Jugendliche und junge Erwachsene heftige Kämpfe mit Polizeikräften – die immer massiver zusammengezogen wurden – lieferten. Dabei waren vorwiegend (männliche) Jugendliche aktiv, aber es gab dafür durchaus Unterstützung aus Teilen der ortsansässigen Bevölkerung. Berichte sprechen etwa von Müttern (oder Frauen in ihrem Alter), die von der Stockwerken herunter Wasser an die jungen ‚Aufrührer’ ausgaben, um sie das Tränengas aus ihren Augen wischen zu lassen. Dies ist vergleichbar mit den damaligen ersten Informationen aus Clichy-sous-Bois vom Oktober 2005, als darüber berichtet wurde, Frauen oder Familien hätten aus den Fenstern der dortigen Hochhäusern den jungen „Randalierern“ applaudiert. Nicht als es darum ging, Autos von Privatleuten anzündet (was später und/oder an anderem Ort vielfach der Fall war), aber bei ihren Zusammenstößen mit den Polizeikräften. 

Aber auch öffentliche und private Gebäude, von der Polizeiwache über die Niederlassung eines Autohändlers bis hin zu einer örtlichen Bibliothek, wurden kurz darauf angezündet und niedergebrannt. Insgesamt wurden bei Zusammenstößen mit den Sicherheitskräften an den ersten drei Tagen 120 Polizisten verletzt. Vier unter ihnen wurden mit schwereren Verletzungen, die vom Beschuss mit Schrotmunition herrühren, stationär behandelt. Dabei war in den bürgerlichen Medien vielfach die Rede davon, eine „neue Stufe“ sei erreicht worden, aufgrund des Einsatzes von Schusswaffen. Die Polizeidienst selbst oder etwas gesetztere Medien, wie etwa die Pariser Abendzeitung ‚Le Monde’ zumindest in einem ihrer Hintergrundartikel (in dem Polizeigewerkschaften zitiert werden), sprechen sich dagegen aus, diese Tatsache zu dramatisieren: Schrotflinten zirkulierten ohnhin und nicht allein in den Banlieues, aufgrund der hohen Anzahl von Jägern in anderen Teilen Frankreichs sei ein Überblick über ihren Umlauf schwer. Jugendgangs in den Banlieues verfügten seit längerem über einige Schrotflinten – vor zwei Jahren wurden in Villiers-le-Bel welche in einem Gully entdeckt -, ihre Anzahl sei jedoch nicht sonderlich hoch. Wirklich neu und dramatisch wäre es, falls „Kriegswaffen“ auftauchten, also Schusswaffen, deren Einsatz absehbar tödliche Folgen hat (Schrottmunition kann töten, falls sie aus sehr kurzer Entfernung abgefeuert und in geballter Form auf ein Ziel gerichtet wird, sonst i.d.R. nicht). Dafür gebe es aber derzeit keine Anzeichen, zumindest seien bei den Riots in Villiers-le-Bel keine sichtbar geworden. – Nicht ausgeschlossen werden kann, dass besser strukturierte Banden mit Kontakten zur Organisierten Kriminalität, die an der Drogenkriminalität partizipieren, solche Waffen besitzen. Aber gerade solche Strukturen nehmen nicht nur nicht an Unruhen wie den jüngst in Villiers-le-Bel ausgebrochenen Riots teil, sondern dürften im Gegenteil ein Interesse daran haben, solche Vorkommnisse zu unterbinden: Die Polizei in die eigenen Quartiere zu locken, kann nun wirklich überhaupt nicht in ihrem Interesse liegen – Ruhe vor Ort ist deshalb die erste Dealerpflicht. (Eine Ausnahmesituation bilden Kleinkriege untereinander um die Kontrolle des jeweiligen Marktes.)  

Auch deshalb hatte Präsident Nicolas Sarkozy vollkommen Unrecht, als er am Mittwoch vergangener Woche das Phänomen der neu ausbrechenden Riots öffentlich als ‚voyoucratie’ qualifizierten, also ungefähr als „Herrschaft der Ganoven“ über die entsprechenden Viertel, von ‚voyou’ für „Gauner, Ganove, Tunichtgut“.    

Seit vorigem Donnerstag kehrte dann wieder eine prekäre Ruhe in der Stadt ein, nachdem starke Polizeikräfte aus der gesamten Region Ile-de-France dort konzentriert worden waren, um neu ausbrechende Unruhen im Keim zu ersticken. Rund 1.000 Ordnungshüter, namentlich aus der Bereitschaftspolizei CRS, schieben seitdem Wache – ihre Anzahl entspricht vier Prozent der Einwohnerzahl von Villiers-le-Bel. Auch das Elite-Sondereinsatzkommando RAID, das ungefähr mit der deutschen Sondereinheit GSG9 verglichen werden kann, kam Ende vergangener Woche dort zum Einsatz. Unter Einsatz von Spezialkameras sollte es nach eventuell auftauchenden Schusswaffen suchen. 

Nächstens kreisen Hubschrauber mit Lichtprojektoren über Villiers-le-Bel, seitdem die Riots zu Beginn voriger Woche ausbrachen. Wir sehen selbst einen dieser Helikopter, der in geringer Entfernung von uns seine Kreise zieht und einen Lichtkegel in Richtung Boden richtet. „Sie kommen nicht bis direkt hierher, die Hubschrauber bleiben über den Sozialbausiedlungen und drehen dort ständig“, meint der junge Mann, den wir im unteren Bereich der Stadt – neben der ausgebrannten Polizeiwache – getroffen haben. „Das geht die ganze Nacht so. Wenn Du sechs oder sieben Helikopter hast, dann kannst Du nicht schlafen“ stöhnt er.

Versammlungen und Diskussionen 

In den Stunden zuvor konnten wir an einer Versammlung teilnehmen, die von Stadtteilgruppen ausgerichtet worden war und sich an „Jugendliche aus allen Wohnbezirken von Villiers“ richtete. Davon hatten wir über örtliche Initiativen rund um die Familien der beiden getöteten Jugendlichen erfahren. Journalisten waren ausdrücklich unerwünscht, „weil die Medien in der vergangenen Tagen derart über die Vorgänge in Villiers gelogen haben und sich nur an sensationellen Bildern interessiert zeigten“. Aber wir konnten als engagierte Aktivisten von Initiativen Eintritt finden. Ohne zu lügen, denn mein Freund Erdal ist in einer Solidaritätsgruppe tätig, die Aufklärung über den Tod eines jungen Franzosen senegalesischer Herkunft – Lamine Dieng – fordert, der im Juni dieses Jahres im 20. Pariser Bezirk in den Händen der Polizei starb. Unter ungeklärten Umständen. Und ich selbst bin als Jurist bei einer Antirassismusgruppe tätig.  

Auch andere Initiativen sind angereist, so etwa die seit zwei Jahren aktive Bürgerinitiative „AC le feu!“ aus Clichy-sous-Bois. Die Initiative aus Clichy, die im Sommer und Herbst 2006 mit Menschen aus 120 Städten und Vorstädten aus ganz Frankreich einen Katalog gesellschaftlicher Forderungen und Bedürfnisse erarbeitet hat, versucht heute ihre Erfahrungen weiterzugeben. In ihrer Stadt hatte vor gut zwei Jahren der Tod zweier Jugendlicher, in den ebenfalls die Polizei auf zunächst undurchsichtig gebliebene Weise verstrickt war – dieser Verdacht konnte später bestätigt werden -, ebenfalls heftige Unruhen ausgelöst. Im Unterschied zu den vergangenen 8 Tagen hatten sie im Herbst 2005 allerdings eine schnelle Ausbreitung auf ganz Frankreich gefunden und über drei Wochen gedauert. Dieses Mal blieben sie im Wesentlichen auf 5 oder 6 Nachbarstädte und einige „heiße“ Nächte beschränkt, unter anderem wohl deshalb, weil außerhalb von Villiers-le-Bel die Ausgangssituation nicht so leicht durchschaubar erscheint wie damals in Clichy-sous-Bois. Dort waren die Jugendlichen im Oktober 2005 klar durch die Polizei verfolgt worden und auf der Flucht vor ihr gestorben, zudem fiel bei der Niederschlagung der daraufhin ausbrechenden Unruhen kurz darauf eine Tränengasgranate mitten in eine Moschee. Dagegen ist für Auswärtige zunächst nicht klar, ob es sich beim Auslöser der Riots in Villiers-le-Bel nicht doch um einen schlichten Unfall handelt.  

Nun sind wir also im Saal, wo die Diskussion mit Jugendlichen und Älteren aus ganz Villiers-le-Bel stattfinden soll. Rund 50 Jugendliche und ein paar Erwachsene sind gekommen. Das Publikum ist durchmischt, wenngleich zu zwei Dritteln schwarz – die westafrikanische Einwanderungsbevölkerung weist in Villiers den höchsten Organisationsgrad in Initiativen und Vereinen auf.  

Im Laufe der Diskussion schält sich heraus, dass es heftige Konflikte zwischen unterschiedlichen Stadtteilen oder Siedlungen von Villiers-le-Bel geben muss. Oftmals kehrt der Satz wieder: „Noch nie habe ich eine solche Solidarität in Villiers gegeben wie in den Tagen nach dem Tod von Lamari und Moushin, und ich bin hier geboren“ oder „...und ich lebe seit 30 Jahren hier“. Viele bedauern die Formen, die die Riots konkret angenommen haben, etwa das Abfackeln einer Bibliothek. Wenngleich auch nicht alle das Vorgefallene betrauen. Ein vielleicht 15jähriges Mädchen übernimmt das Mikrophon, nachdem ein junger Mann dazu aufgefordert hatte, dass doch auch mal die Frauen und Mädchen das Wort übernehmen sollte. Unter allgemeiner Zustimmung formuliert sie, das Traurige sei, dass es erst zu solch einem dramatischen Vorfall kommen müsse, „damit man überhaupt reagiert“, statt schon vorher auf die schlechten Verhältnisse einzuwirken.  

Viele äußern den Wunsch, sich in irgendeiner Form zu organisieren, unter Einschluss von „Menschen aller Herkunft und aller Altersgruppen“ aus der Stadt. Etwa in einem Kollektiv „Wahrheit und Gerechtigkeit“, wie sie etwa in anderen Trabantenstädten – oder nach dem Tod von Lamine Dieng auch in Paris – gegründet worden, um Aufklärung über Todesfälle unter Mitverantwortung der Polizei zu fordern. Man könne sich auch mit Menschen aus anderen Orten zusammenschließen, wo es ganz ähnliche Probleme gebe, meinen einige örtliche Redner, unterstützt von Leuten aus Clichy-sous-Bois oder aus Paris. Ein anderer, ein wohl 30jähriger Schwarzer, meint dagegen, das sei ihm egal, denn er wolle seine Probleme nicht irgendwann lösen, sondern „jetzt sofort und hier in Villiers-le-Bel“. Das übrige Frankreich sei ihm schnuppe. Zuvor hatte derselbe Redner sich lautstark über seine Schwierigkeiten beklagt: Weil er selbst oder sein Bruder Probleme mit der Justiz gehabt hätten, könne er keine eigene Securityfirma gründen – „sondern ich muss auf Strohleute zurückgreifen“ - , und auch am nahen Flughafen in Roissy lasse man ihn nicht arbeiten. Dabei „gebe es viele Leute hier, die gern ihr Unternehmen aufziehen möchten, und nicht immer Arbeiter sein“. Eine Kleinunternehmerkarriere, wie sie in den Banlieues nicht untypisch ist, vor allem im „Sicherheits“sektor.  

Nach einer guten Stunde gehen die ganz jungen TeilnehmerInnen, denen die Diskussion zu allgemein geworden ist und die nicht mehr folgen können. Es wird erst einmal pausiert und in informellem Rahmen weiter diskutiert, bevor die Diskussion wieder aufgenommen wird – etwa über die Frage, ob kommunale Mandatsträger auch Verbündete sein können oder ohnehin nichts von ihnen zu erwarte ist. Erdal und ich müssen unsererseits zu anderen Verpflichtungen zurück nach Paris. Und fragen uns dabei, ob etwas Dauerhaftes an gesellschaftlicher Regung aus dieser Mobilisierung entstehen kann. Es bleibt zu hoffen. Dass es zumindest möglich ist, zeigt das Beispiel der intensiven Aktivität, die auch nach zwei Jahren noch durch die Initiative aus Clichy-sous-Bois entwickelt wird.

Editorische Anmerkungen

Der Text ist eine überarbeitete und aktualisierte Fassung einer Reportage aus Villiers-le-Bel, die am vergangenen Donnerstag in der Berliner Wochenzeitung ‚Jungle World’ erschien. In der Pariser Vorstadt Villiers-le-Bel brachen in der vorletzten Woche heftige Unruhen aus, nachdem am frühen Abend des Sonntag, 25. November zwei Jugendliche (Franzosen senegalesischer und marokkanischer Herkunft) auf ihrem Kleinmotorrad einen tödlichen Zusammenstoß mit einem Polizeiauto erlitten.

Wir erhielten den Artikel am 11.12.2007 vom Verfasser zur Veröffentlichung.  Siehe dazu auch in dieser Ausgabe: