Jugend ohne Charakter?
Ist die Jugend von heute so charakterlos, wie die bürgerliche Presse meint? Eine Polemik gegen die Zeit und vor allem gegen die ZEIT

von Wladek Flakin

12/08

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Bei den Schulstreiks der letzten Jahre haben sich alle über die große Beteiligung gefreut. Doch diese Aktionen waren gerade deshalb spektakulär, weil sie einmalig waren: es waren halbwegs große Events, aber dahinter steckte eine eher kleine Bewegung. Wir wollen nicht in den permanenten Zwangsoptimismus vieler linken Kleingruppen verfallen – "diese Bewegung ist besser als alles, was je davor kam!", sondern einen Blick auf den Zustand der Jugendbewegung in der BRD werfen.

Besonders auffällig bei den Schulstreiks war die Abwesenheit von Studierenden. Sicherlich spielten Probleme bei der Mobilisierung auf den Unis eine Rolle (1). Trotzdem gibt es im Moment eine allgemeine politische Trägheit auf den Unis, die einer Erklärung bedarf. Um eine Erklärung zu finden, wollen wir uns auch mit den Diskussionen in den Feuilletons der bürgerlichen Presse zum Thema auseinandersetzen.

I.

Vor nicht allzu langer Zeit an der FU sollte eine eine studentische Vollversammlung (VV) stattfinden, parallel zu einer normalen Vorlesung. In der Woche davor ließ der Professor einen Studi-Aktivisten die VV ankündigen. Danach ergänzte er: "Sie müssen sich also entscheiden, wo sie nächste Woche hingehen." Ihm selbst wäre, als er noch Student war, die Entscheidung sehr leicht gefallen, und zwar für die VV. Und als sei die Aufforderung an die Studis noch nicht klar genug gewesen: "Natürlich darf ich sie nicht auffordern, meine Vorlesung zu schwänzen, aber wenn keiner hier ist, werde ich auch keine Vorlesung machen können."

Das Ergebnis? In der nächsten Woche waren rund 80% der VorlesungsteilnehmerInnen anwesend.

Seit wann hat sich das typische LehrerInnen-SchülerInnen-Verhältnis (oder StudentInnen-DozentInnen-Verhältnis) auf den Kopf gestellt? Immer wieder zeigen sich ProfessorInnen enttäuscht, dass ihre StudentInnen nicht genug aufmucken. Der eine wundert sich, dass StudentInnen Seminare planen, die erst in drei Semestern stattfinden: "Erst im fünften Jahr meines Studiums habe ich mir überhaupt Gedanken darüber gemacht, welche Veranstaltungen ich besuchen musste." Die andere beschwert sich darüber, dass sich die Studierenden nicht genug in die Diskussionen bei den Seminaren einmischen: "Sie sollen mich unterbrechen, wenn ich etwas sage, was Ihnen nicht passt!"

Die schlecht besuchten VVs, die niedrige Wahlbeteiligung fürs StudentInnen-Parlament, die Studierenden, die politische Flyer nicht entgegennehmen wollen – das kennt wohl jedeR Uni-AktivistIn. Das schrecklichste Beispiel sind die TeilnehmerInnenlisten, die in vielen Veranstaltungen eines Bachelor-Studiengangs obligatorisch sind. Viele Profs sehen das ganze Verfahren als "schulisch" oder "entwürdigend" an – aber mehr oder weniger jeder Versuch, offen gegen diese Listen vorzugehen, scheitert am Widerstand der großen Mehrheit der Studis, die um jeden Preis unterschreiben wollen.

II.

Auch das Zentralorgan der linksliberalen Bourgeoisie, Die ZEIT, hat sich mit dieser Frage beschäftigt. Auf der Titelseite nahm der Feuilletonist Jens Jessen die "Jugend ohne Charakter" oder die "traurigen Strebern" von heute ins Fadenkreuz.

Jessens (Jahrgang 1955) schreibt in seiner Polemik: "Von grimmigen Vorgesetzten, Lehrern und Professoren muss die Jugend nicht mehr an die Kandare genommen werden; sie hat sich selbst schon an die Kandare gelegt."  Die mangelnde "Aufsässigkeit" der jungen Generation finde er unerträglich.

Doch woher kommt das? Jessen verrät nur, wo es nicht herkommt, nämlich vom Kapital. "In Wirklichkeit ist nur schwer denkbar, dass Arbeitgeber an fantasiearmem, eingeschüchtertem und blind angepasstem Nachwuchs Vergnügen finden." Ein Interesse des Kapitals an passiven Jugendlichen sei laut Jessen nur eine "düstere Verschwörungstheorie".

Doch damit liegt er nur zur Hälfte richtig. Dass die Herrschenden sich über dieses Phänomen Sorgen machen, beweist nicht nur eben diese ZEIT-Titelseite. Auch ProfessorInnen reflektieren, dass Studistreiks und Unibesetzungen für die Entwicklung eines kritischen Geistes wichtig sind. "Erst beim Streik lernen Sie, unangenehme Fragen zu stellen und AkademikerInnen zu werden" meinte neulich ein Geschichtsprofessor an der FU.

Das Kapital braucht ein bisschen von diesem jugendlich-rebellischen Geist, um eine Elite von kreativen ErfinderInnen und dynamischen ManagerInnen zu bilden – genau das, was Jessen anspricht. Doch die große Masse der Bevölkerung soll passiv bleiben: Shopping und Talkshows und Ecstasy sollen eine "schöne neue Welt" ohne Hoffnung auf Veränderung bieten.

Genau hierin besteht die Catch-22 für die Herrschenden der BRD: die Bevölkerung soll einfach vor sich hin konsumieren (2). Doch um diese allesumfassende Konsumwelt zu gestalten, werden verdammt intelligente Menschen gebraucht: Wer designt die "Herbst-Kollektion"? Wer erfindet die nächste MySpace? Wer führt Regie bei der nächsten Talkshow? Das Problem ist, genau solche Elite-Menschen, die diese Aufgaben erledigen können, werden durch die gesamtgesellschaftliche Passivität ebenfalls passiv gemacht. Genau deswegen machen sich die ZEIT und die Bourgeoisie Sorgen.

Sicherlich wäre ein Modell nach Aldous Huxleys Roman, wo die Menschen schon vor dem Geburt als "intelligent" oder "dumm" gezüchtet werden, für das Kapital am liebsten. Doch bis es soweit ist, ist es unheimlich schwierig, Blumen des kreativen Schaffens im Sumpf von Prime-Time-Fernsehen wachsen zu lassen. Kreativität entstammt in der Regel den Protestbewegungen – den großen gesellschaftlichen Umbrüchen – die gerade vermieden werden sollen.

III.

Studierende handeln durchaus rational, wenn sie sich zu "Haifischen" (wieder Jessen) zu machen versuchen. Heutzutage glauben die Wenigsten, dass sie den gleichen Lebensstandard wie den ihrer Eltern erreichen können – an eine bessere Zukunft ist in Zeiten von Hartz IV einfach nicht zu denken.

Jede und jeder muss besser sein, muss in der Konkurrenz bestehen, muss sich gegen alle anderen durchsetzen. Denn Arbeitsplätze sind schwer zu finden, wenn mensch keine 16 unbezahlte Praktiken vorweisen kann. Wenn nicht alles auf dem Lebenslauf genau stimmt, droht der Absturz ins Hartz-IV-Millieu und den Altersarmut.

Dabei geht es um das seit jeher bekannte Problem der kapitalistischen "Freiheit": die Chance des Aufstiegs kann grundsätzlich nur für sehr Wenige bestehen. Damit eineR als AusbeuterIn leben kann, müssen viele ausgebeutet werden. Das heißt, selbst wenn sich alle Menschen "richtig anstrengen", können nur Wenige davon profitieren.

Es gibt eben keine individuellen Lösungen für unsere kollektiven Probleme. Wenn der/die Einzelne bessere Bedingungen haben möchte, muss er/sie bessere Bedingungen für alle Menschen durchsetzen. Solidarität bietet für die meisten Studis die einzige wirkliche Chance auf eine bessere Zukunft – sie müssen lediglich den Traum beiseite lassen, in die Elite aufzusteigen, und ihr Schicksal mit dem der Ausgebeuteten teilen.

Es klingt logisch, oder? Also warum werfen sie den Stundenplan nicht gleich ins Klo und bauen eine Barrikade?

Das Problem ist, dass Jugendliche aus unserer Generation kaum Erfolgserlebnisse kennen. Es gab nicht so viele Massenkämpfe in den letzten Jahren – und gar keine, die nur ansatzweise ihre Ziele erreichen konnten: der Irak-Krieg fand trotz der millionenstarken Demos am 15. Februar 2003 statt; Hartz-IV ging trotz der Montagsdemos über die Bühne; Studiengebühren waren trotz der StudentInnenproteste nicht zu verhindern. Diese Niederlagen müssen einzeln analysiert werden – die Führungen und die Strategien dieser Bewegungen müssen aufs Schärfste kritisiert werden. Aber eine solche Kritik ändert nichts an der Tatsache, dass eine Generation von jungen Linken aufwächst, die manchmal demonstrieren, aber selbst nicht glauben, dass sie etwas dabei ändern können. Die eigene Motivation klingt oft märtyrerhaft: "wir müssen zeigen, dass wir es zumindest dagegen waren!"

Das Problem ist auch, dass strategische Alternativen fehlen.

IV.

Margaret Thatchers Maxime – "there is no alternative" – hat sich tief in die Psyche der Jugend eingedrängt. Seit dem Zusammenbruch des Stalinismus stimmt es sogar: Du kannst wirklich nirgendwo auf der Welt hingehen, wo es keine Coca-Cola gibt (3). Der sogenannte "real existierende Sozialismus" war weit entfernt vom Sozialismus, aber es war zumindest kein Kapitalismus – es war irgendwie anders. Und wenn eine bürokratisch-planwirtschaftliche Alternative zum Kapitalismus möglich war, war eine revolutionär-sozialistische Alternative umso leichter vorstellbar.

Aber heute lernen wir von klein auf, dass ausnahmslos jeder Versuch, den Kapitalismus zu überwinden, zwangsläufig zu noch Schlimmeren führt. Und das glauben auch viele! Deswegen hat die Suche nach der traumhaften "großen Liebe", der idyllischen bürgerlichen Kleinfamilie und dem endlosen individuellen Glück für die Allermeisten den Kampf für eine bessere Welt ersetzt. Es hilft auch nicht gerade, dass die politischen Parteien, die den Sozialismus auf ihre Fahnen geschrieben haben – also SPD und Linkspartei – diesen strategischen Vorschlag nicht ansatzweise ernst nehmen – sie machen nur kapitalistische Alltagspolitik und überlassen es den heutigen Neonazis, sich als "SystemgegnerInnen" zu präsentieren.

Damit Jugendliche von heute zu KämpferInnen werden, brauchen sie Perspektiven – nicht im Sinne von Minijobs mit Halbjahresverträgen, sondern im Sinne einer anderen Gesellschaft. Abkürzungen, wie z.B. die Hochstilisierung einer fortschrittlich-bürgerlichen Regierung in Venezuela zu einer "Revolution", werden uns nicht weiterbringen – denn welche Handlungsmöglichkeit können wir vom "venezolanischen Sozialismus" ableiten? Selbst in die Barrios um Caracas ziehen? Oder in die Bundeswehr eintreten und eine linke Offiziersbewegung aufbauen? Oder was? Wirkliche Perspektiven müssen sich aus den Widersprüchen der heutigen Gesellschaft ableiten.

V.

Ist das ein Grund, um pessimistisch zu sein? Jein. Die große Jugendrevolte steht tatsächlich nicht vor der Tür. Wahrscheinlich nicht. (Mensch soll sich immer vor solchen Prophezeiungen hüten, wenn mensch bedenkt, wie viele linke Intellektuelle kurz vor 1968 das Gleiche gesagt haben!)

Denn riesige Unzufriedenheit kann unter einer scheinbar ruhigen Oberfläche brodeln. Das sehen wir bei den jungen Intellektuellen – ein plötzliches Interesse an marxistischer Wirtschaftstheorie, z.B. "Das Kapital" oder Michael Heinrichs möchte-gern-marxistische "Einführung in die Kritik der politischen Ökonomie" – aber auch ansatzweise bei der Masse. H&M bietet seit längerem einen "linken" Look an, mit Palitüchern und roten Sternen und Che Guevara. Das könnte ein Zeichen sein, dass die TrägerInnen, zumindest im Unterbewusstsein, rebellisch aussehen wollen (auch wenn H&M-KundInnen in der Regel alles andere als rebellisch sind).

TeenagerInnen heutzutrage verschwenden unendlich viel Zeit im Internet, laut manchen Studien 2-3 Stunden am Tag. Die Online-Umtriebe mögen noch so sinnlos sein, aber dadurch gewinnen viele von ihnen Kommunikationsfähigkeiten und Sprachkenntnisse, die einer älteren Generation vorenthalten bleiben. Auch "social networking"-Seiten wie StudiVZ – die in der Regel den verblödendsten Zeitvertreib überhaupt darstellen – bergen, unter bestimmten politischen Voraussetzungen, ein unvorstellbares Potential für Mobilisierung und Organisation (4).

Der Wunsch, dass alles irgendwie anders wird, ist unter Jugendlichen heute genauso weit verbreitet wie in den späten 60ern – durch die laufende Finanzkrise werden immer mehr Menschen das System in Frage stellen. Doch niemand hat die vagste Vorstellung wie. In dieser Situation können wir ein Publikum für die marxistische Revolutionsperspektive finden. Nicht für leere Schlagwörter und sozialistische "Get-rich-quick schemes" – denn die KapitalistInnen bieten immer bessere Rezepte fürs schnelle Glück als wir – aber für eine marxistische Analyse dieser Gesellschaft und eine daraus abgeleitete Strategie. Das läuft auch nicht über trockene Propaganda, sondern über eine Intervention in die eher kleinen Kämpfe, die heute stattfinden, mit einer systemüberwindenden Perspektive.

Der diffuse Wille für einen diffusen Wandel ist selbst unter den Studierenden da. Tocotronic, Sprachrohr der irgendwie linken aber schwer depressiven Studierendenschaft der BRD, hat es schon klar genug gesagt: "Jetzt müssen wir wieder in den Übungsraum. Oh Mann, ich habe überhaupt keinen Bock (...) Und deshalb sage ich zu dir: Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein. Ich möchte mich auf euch verlassen können. Ich möchte lärmend mit euch durch die Straßen rennen." Das Lied ist aus dem Jahr 1995. Wie lange sollen wir so bleiben?

Notizen:

(1) Dazu haben wir uns schon geäußert. Siehe: http://www.revolution.de.com/revolution/0807/bildungsproteste/index.html

(2) George Carlin: "Sie wollen unterwürfige ArbeiterInnen: Menschen, die gerade intelligent genug sind, um die Maschinen zu bedienen und den Papierkram auszufüllen, aber dumm genug, um immer beschissenere Arbeit passiv zu akzeptieren.", http://www.revolution.de.com/zeitung/zeitung30/bildung.html

(3) Coca-Cola ist laut eigenen Angaben in über 200 Staaten erhältlich – zum Vergleich besteht die UNO aus lediglich 192 Staaten.

(4) Siehe zum Beispiel die Friedensdemos in Kolumbien am 4. Februar 2008, an den über eine Million Menschen teilnahmen. Sie wurden in erster Linie über Facebook initiiert. Diese Bewegung konnten politisch von der Uribe-Regierung übernommen werden und erhielten damit einen reaktionären Charakter. Aber darauf kann im Rahmen einer Fussnote nicht eingegangen werden. (Siehe http://www.izquierdasocialista.com.ar/ci/ci25.pdf , Seiten 36-39.) Für ein näherliegendes Beispiel, siehe die Proteste gegen die MSA-Wiederholung in Berlin: http://www.revolution.de.com/revolution/0806/msa/index.html

Editorische Anmerkungen

Den Text erhielten wir vom Autor zur Veröffentlichung. Er gehört zur unabhängigen Jugendorganisation REVOLUTION