Barrikade und Gedankenflug
Vor 70 Jahren gründeten antifaschistische Emigranten den Freien Deutschen Kulturbund in Großbritannien und hinterließen ein bislang ungenutztes Erbe von höchster Aktualität

von Antonín Dick

12/08

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Ungefähr siebzig Jahre vor dem bereits zelebrierten Nationalen Bildungsgipfel (NBG) im Bundeskanzleramt, am 19. Dezember 1938, trafen sich im Hause des Malers und Juristen Fred Uhlmann in London eine Handvoll hochherziger Intellektueller, Vertriebene aus Deutschland wie Johann Fladung, Alfred Meusel, Gerhard Hinze, Jürgen Kuczynski, Ernst Hermann Meyer, Alfred Kerr, Oskar Kokoschka, Berthold Viertel und Stefan Zweig, um den Freien Deutschen Kulturbund in Großbritannien (FDKB) zu gründen.

Einmütig wählten die Gründungsmitglieder die vier Letztgenannten zu ihren Präsidenten. Der FDKB verstand sich als überparteiliche Flüchtlingsorganisation, die sich zur Aufgabe stellte, Kultur, Bildung und Wissenschaft gegen die Nazibarbarei zu verteidigen, sich für die Lebensinteressen der Flüchtlinge einzusetzen, solidarisch mit anderen Flüchtlingsorganisationen zusammenzuarbeiten und das gegenseitige Verständnis zwischen den Flüchtlingen und dem englischen Volk zu vertiefen. Repräsentanten der britischen Gesellschaft, von Labour bis zu konfessionellen Institutionen, förderten dieses Kulturprojekt. So stellte der Schriftsteller Walter Hudd seine Wohnung dem Vorstand des Kulturbundes als Büro zur Verfügung, später übergab die Anglikanische Kirche dem Kulturbund ein Haus in der Upper Park Road 36 in Hampstead, einem im Nordwesten Londons gelegenen Stadtteil, in dem unzählige Emigranten Zuflucht gefunden hatten. Im Mai 1940 wurden bereits über 1200 deutsche Emigranten und über 100 Briten als Mitglieder registriert. Die ersten Ortsgruppen außerhalb Londons entstanden in Birmingham, Glasgow, Leeds, Manchester und Oxford. Ihre Zahl erweiterte sich bis 1944 um zwölf weitere Ortsgruppen, darunter um die in Royal Leamington Spa, die meine Mutter Dora Dick gegründet hatte.

Es war dies keine wohltemperierte Veranstaltung mit Bankett und Proporz, es war eine geistige Barrikade, die im freien London eilig errichtet wurde. Man wollte kämpfen, sich nicht in der Ferne geistig abschlachten lassen. Und man kämpfte. Aber trat man in den Kampfpausen aus der Barrikade heraus, entstanden die kühnsten Ideen, die weit über das hinausgingen, was die Sehnsucht nach dem Sieg über Hitler hergab.

Das Beispiel Oskar Kokoschka, des Maler-Schriftstellers, der mit einer Fünf-Pfund-Banknote nach London floh. Am 5. Mai 1938 zerschnitt die Gestapo im besetzten Wien ein Bild von ihm. Am 1. Oktober 1938 marschierte die Wehrmacht in die Tschechoslowakei ein, worauf der Reichssender Breslau Kokoschka unverhohlen drohte: „Wenn wir nach Prag kommen, wirst du am ersten Laternenpfahl hängen.“ Seine Prager Lebensgefährtin Olda Palkovska orderte die Flugtickets.

„In den hundert Jahren unserer technischen Zivilisation hat der Mensch mit dem Abstimmungszettel, den wir Bürger nennen, seine Erziehung vom Staat erhalten, dem weniger an den christlichen Tugenden und mehr an der genügend rationalen Ausbildung des Einzelnen gelegen ist, um ihn mit Nutzen in den Prozess der Industrialisierung einzustellen“, „Ein unvorbereitetes Staatsbeamtenheer, welches zum wenigsten aus Menschheitslehrern und zumeist aus intellektuellen Taglöhnern besteht, hält Schule, wie es die politische Tagesordnung vorschreibt“, „Soziale Planung führt in die Irre, wenn sie das Prinzip des schöpferischen Menschen leugnet, welches heißt, daß sich logische Vorgänge und Vorstellungskraft gegenseitig ergänzen“, „Die neue kapitalistische Politik bewegt sich auf der rein mechanischen Ebene“, „Der Ursprung der mentalen Krise ist ein Schrumpfungsprozeß der menschlichen Fähigkeiten. Wer nicht mehr an die Ethik seiner Arbeit glaubt, ist unfähig, Arbeit zu vergeben, zu finden und zu gestalten. Das würde bedeuten, daß die Unfähigkeit zur Arbeit notwendigerweise zum Krieg führen müßte, denn nützliche soziale Arbeit, das ist Frieden“, „Ein demokratischer Schulpakt müßte die raison d’être dieser Gesellschaft sein“ – mit solchen und ähnlichen Postulaten und Erfahrungssätzen trat der Bildungsforscher Oskar Kokoschka auf den Plan, sich stark machend für eine Revolution des gesamten Bildungssystems in den Industriestaaten, für, um im Bild zu bleiben, die Erstürmung aller möglichen NBG, gleichgültig welcher Nationalität. „Eine größere Revolution der Menschheit gegen Tyrannei und Barbarei als der Sturm auf die Bastille könnte die Einführung der allgemeinen, freien und obligatorischen Elementarschule sein“, so fasste Kokoschka die Ergebnisse seiner langjährigen Forschungsarbeit zusammen. In Beiträgen für die „Freie Deutsche Kultur“, die Monatszeitschrift des FDKB, in Rezensionen, Essays, Briefen und theoretischen Fragmenten entwarf er das Bild eines schöpferischen Zeitalters, das die Naturvoraussetzung einer Gesellschaft – den einzelnen, unverwechselbaren Menschen – für unantastbar erklärt, damit Bildung endlich aufhört, fremdbestimmt zu sein.. Es „hat die staatlich kontrollierte Volkserziehung die Umformung des menschlichen Geistes zum Ziel“, so charakterisierte er in seiner „Bittschrift eines ausländischen Künstlers an das gerechte Volk von Großbritannien um einen sicheren und gerechten Frieden“ das gegenwärtige Bildungssystem. „Bevor ein neues Mitglied von der industriellen Gesellschaft akzeptiert wird, muss es sich den Initiationsriten des mechanischen Denkens unterziehen. Dies ist ein schmerzlicher Prozess geistiger Umformung, der – nicht ohne harten Kampf des Opfers unfreiwilliger Gedankenkontrolle – in der Volksschule sich vollzieht. Es gilt nicht mehr als Kennzeichen eines gesunden Geistes, die Welt als Ganzes, als den spontanen Ausdruck eines lebenden Wesens, einer Zukunft im Farbenschmuck mannigfacher Kultur, fruchtbarer Phantasie eines persönlichen Ich, als das Wunder unseres schöpferischen Geistes zu verstehen. Aber nur einem Erzieher von heute, einem studierten Menschen, gelingt es, ein Kind zu bewegen, an ‚tote Dinge, tote Seelen’ zu glauben. Tod ist sinnlos für die Jugend, die den Pulsschlag der kosmischen Realität fühlt. Das ungeschulte Kind lebt noch jenseits unserer oberflächlichen und verarmten Gegenwart. Psychologische Forschungen beweisen, dass das Kind schon ein Wissen um den Lebenszusammenhang, dessen Inhalt nur indirekt durch Schrift und Sprache ausgedrückt werden kann, erworben hat, bevor es durch Druck gezwungen wird, unserer Interpretation der Wirklichkeit, die wir als logische Kontinuität verstehen, zuzustimmen.“

Wie aber diesen meist unsichtbaren Zyklopenbau tagtäglicher Vergewaltigung des Kindes erstürmen? Kokoschka hatte keinen Plan, lediglich die Vermutung eines Weges, unaufhörlich schlängelt sich dieser durch all seine bildungstheoretischen Ansätze und Schlüsse: Zurück zu den primitiven demokratischen Gesellschaften, denn sie gehören zu unserem kostbaren Erbe, zurück „zum primären Instinkt, der Mensch und Tier gemeinsam ist, nämlich eine Familie in natürlicher Umwelt aufzuziehen.“ Nicht als antizivilisatorischer Rückschlag war dies in die Diskussion gebracht, sondern als Aufforderung, sich dieses verschütteten Erbes zu erinnern, d. h. den Menschen wieder als Schöpfer demokratisch organisierter Lebensprozesse zu entdecken. Goethe beschwor eine solche primitive demokratische Gesellschaft in seiner Kinder-Ballade „Magisches Netz“, Thomas Mann in seiner Erzählung „Unordnung und frühes Leid“, in den sogenannten Entwicklungsländern findet man sie zuhauf, was nicht zuletzt junge Familienlose der englischen Mittelschicht beweisen, die, längst erwachsen und allen Therapien zum Trotz, eine afrikanische oder asiatische Familie verzweifelt um ihre Adoption ersuchen, mit einem Bündel Banknoten in der Hand. Noch weiter zurück geht der zeitgenössische irische Dichter und Nobelpreisträger Seamus Heaney, wenn er anhand einer Zweierbeziehung zwischen Mensch und Tier, die nur für die Dauer eines Blickwechsels aufflammt, die ganze Not des technisierten Menschen aufzuzeigen vermag: Der Dichter, der einen VW steuert und unverhofft auf einen Fuchs trifft. Den Blick des nackten Tieres in seinen Augen spürend, wird ihm, wie er da abgekapselt in einem künstlichen Fortbewegungsgerät sitzt, mit einem Schlag das ganze Ausmaß der Beschädigung der Beziehungen zwischen Mensch und Tier bewusst, und er kann plötzlich nicht mehr weiterfahren, ihn trifft der Blitz der Erkenntnis, aussteigen, umkehren: „Laß die Wiedergeburt durch Wasser kommen, durch Begehren, / Durch Rückwärtskriechen über Klinikböden: / Ich muß zurück durch diese aufgescheuchte Iris.“ Eines sehend Gewordenen Abwehr eines Angriffs auf eine vom Untergang bedrohte Welt. „Eines Kindes Abwehr“, hätte Kokoschka vermutlich präzisiert. „Die Wirklichkeit der primitiven demokratischen Gesellschaft, die heute durch die Angriffe des Industrialismus fast ausgestorben ist“, sagte er in jener Bittschrift, „gleicht der Welt des Kindes“. Mit Leidenschaft organisierte er in London Ausstellungen mit Bildern von Flüchtlingskindern aus ganz Europa, während Hitler die Stadt bombardieren ließ.

Und das Ziel? Umwälzung des Bildungssystems, global und dezentral, Einführung der allgemeinen, freien und obligatorischen Elementarschule im Kokoschkaschen Sinne, um den Möglichkeiten zur Entfaltung aller schöpferischen Anlagen des Menschen keine künstlichen Grenzen mehr zu setzen. Bis dahin wird es allerdings noch so manche Schülerdemonstration geben. Und so manchen NBG. Allgemein? Das heißt eine Schule, die nicht mehr an nationale Egoismen gebunden wäre. Frei? Das heißt eine Schule, die unabhängig vom Staat existierte. Obligatorisch? Das heißt eine Schule, auf die jedes Kind einen rechtmäßigen Anspruch hätte. Schulen also, wie Kokoschka forderte, „die von einem Bunde freier Völker, nicht vom Einzelstaat kontrolliert wären“, konkret, von einem „Welterziehungsrat“, getragen von Schülern, Lehrern, Erziehungsfachleuten und Wissenschaftlern aller Nationen.

Editorische Anmerkungen

Text und Scans erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe.