Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Das ging schnell:  FRANZÖSISCHES VERFASSUNGSGERICHT BILLIGT NEUES RENTENALTER (70)

12/08

trend
onlinezeitung

Das neue Renteneintrittsalter, das „auf freiwilliger Basis“ bis 70 Jahre hinausgeschoben werde kann, „ist verfassungskonform“. Dies entschied das französische Verfassungsgericht – der Conseil Constitutionnel – in einem Urteil vom Donnerstag, 11. Dezember 2008.

Die neue Regelung war erst Anfang November d.J. eingeführt worden (vgl. http://www.trend.infopartisan.net/trd1108/t201108.html ). Damals blieb sie versteckt in einem Sammelsurium-Gesetz zur Finanzierung der gesetzlichen Sozialkassen – in Gestalt des alljährlich vorgelegten, unter dem Kürzel PLFSS (für ‚Projet de loi de financement de la Sécurité sociale’) bekannten Haushaltsgesetzes für das gesetzliche Sozialversicherungssystem. Es handelt sich um den Artikel 90 des diesjährigen PLFSS, das am 4. November 2008 in erster Lesung durch die Nationalversammlung verabschiedet wurde.  

Der umstrittene Artikel 90 war in der Nacht zum 1. November durch die kleine Anzahl anwesender Parlamentarier angenommen worden. Die parlamentarische Mehrheit der konservativ-wirtschaftsliberalen UMP hatte ihn daraufhin in Nationalversammlung und Senat durchgewunken. (Die Episode hat übrigens dem christdemokratischen Mitte-Rechts-Oppositionspolitiker François Bayrou einen günstigen Anlass zur Profilierung gegeben. Die Medien hatten zunächst vermeldet, Bayrou habe der neuen Bestimmung ebenfalls zugestimmt. Dies war jedoch nicht der Fall, der Chef des christdemokratisch-liberalen MoDem oder ‚Mouvement Démocrate’ hatte vielmehr gegen die Einführung der Rente mit 70 opponiert und gegen den Artikel gestimmt. Allerdings hatte Bayrou sich auf einen anderen Platz in der Nationalversammlung gesetzt als den, den er zu Anfang der Debatte besetzte. Sein elektronisches Votum war daher falsch gewertet worden: An seiner statt hatte auf dem Platz eine Abgeordnete des rechtskonservativen, ultrakatholischen ‚Mouvement pour la France’ für die Regelung votiert. Alle Medien mussten in den folgenden Tagen die Richtigstellung publizieren.) 

Die Abgeordneten des Parti Socialiste (PS), der gröbten parlamentarischen Oppositionspartei, hatten am 1. Dezember dieses Jahres das Verfassungsgericht gegen mehrere Artikel des diesjährigen PLFSS angerufen. Unter ihnen auch der nämliche Artikel 90. (Vgl. www.info.france3.fr/france/49210976-fr.php  ) In Frankreich können nur Präsident, Premierminister oder mindestens 60 Abgeordnete der Nationalversammlung respektive 60 Senatsmitglieder den Verfassungsgerichtshof anrufen, und nur vor Verkündung eines Gesetzes im Amtsblatt. Eine Anrufung der Verfassungsrichter durch die Bürger/innen, oder nach Inkrafttreten eines Gesetzes, ist nicht möglich. Diese Regelung stammt ursprünglich aus der Zeit der Französischen Revolution: Der Elan des politischen Umschwungs sollte damals nicht durch nicht gewählte Experten – Juristen, die unter dem Ancien Régime, der alten Monarchie, ausgebildet worden waren – aufgehalten werden können. Man fürchtete sich stets vor einem ‚gouvernement des juges’ (einer „Regierung durch die Richter“), misstraute also einer Unterordnung der Politik unter die Rechtsexperten. Allerdings wurde derselbe Mechanismus (welcher eine Anrufung des Verfassungsgerichts nur durch Mitglieder von Staatsorganen erlaubt), der also revolutionären Ursprungs ist, später zu einem Instrument, das günstig für die Herrschaft der Bourgeoisie war und ist. Die neun Mitglieder des Verfassungsgerichts werden durch das Staatsoberhaupt sowie durch die Präsidenten von Nationalversammlung und Senat ernannt; derzeitiger Vorsitzender des Gerichts ist der frühere konservative Innenminister Jean-Louis Debré. 

Das Verfassungsgericht, das durch die parlamentarische Opposition angerufen worden war, hat es ihr nun also schriftlich gegeben: Die neue Regelung zur Rente mit 70 „verstöbt weder gegen das Gleichheitsprinzip, noch gegen das Recht auf Ruhezeit und auf Schutz der Gesundheit im Sinne der Präambel der Verfassung von 1946“ (also der antifaschistischen Nachkriegsverfassung, die einige ökonomische und soziale Rechte enthält und deren Präambel noch immer in Kraft ist). Denn „es handelt sich um einen freiwilligen Mechanismus, der nicht über 70 Jahre hinaus wirken kann, und der das gesetzliche Rentenalter nicht berührt“. 

Im selben Moment kassierte das Verfassungsgericht aber insgesamt 19 andere Artikel des Gesetzentwurfs (PLFSS), da diese sachfremd seien und nichts mit der Finanzierung der gesetzlichen Sozialversicherungskassen zu tun hätten. Im Umkehrschluss kann man darauf ableiten, dass die Verfassungsrichter implizit die Rente mit 70 als ein Mittel zur Sanierung des Rentensystems betrachtet haben...(Vgl. etwa: http://tempsreel.nouvelobs.com/ )

Editorische Anmerkungen

Den Text erhielten wir vom Autor zur Veröffentlichung