Die offene Zukunft der argentinischen Fabriken unter Arbeiterkontrolle

Buchempfehlung von Ben Dangl

12/09

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Vach den sozialen Aufständen in Argentinien in den Jahren 2001 und 2002 erschien ein Buch (auf Spanisch), das viele Aktivisten und unabhängige Journalisten interessierte, das sie sich nach und nach beschafften. Nicht alle Buchläden führten es. Doch die Nachricht darüber verbreitete sich wie ein Buschfeuer. Heute ist das legendäre Werk auch auf Englisch erhältlich:
  • 'Sin Patron: Stories From Argentina's Worker-Run Factories', Hrsg.: Lavaca, erschienen bei Haymarket Books (z.Z. nur über amazon - red. trend)

Die Beiträge der lehrreichen Kapitel und Interviews stammen von Lavaca - einem Journalisten-Kollektiv mit Sitz in Buenos Aires. Bis heute gibt Lavaca einige der besten Analysen und Berichte über die Sozialbewegungen Argentiniens heraus. In 'Sin Patron...' fasst Lavaca dynamische Stimmen und Geschichten aus dem Herzen der inspirierenden Bewegungen Argentiniens zusammen.

Das Timing für die Übersetzung könnte nicht besser sein. LeserInnen in den USA, die nach kreativen Lösungen für die aktuelle Wirtschaftkrise suchen, finden in dem Buch nützliche Vorschläge.

Als Argentinien kollabierte, begriffen die Arbeiter, dass sie das Gesetz übergehen mussten, um zu überleben. "In Argentinien gibt es kein Recht für Arbeiter. Das gibt es nur für die Mächtigten" so Eduardo Murua, Präsident des National Movement of Reclaimed Companies. "Wenn wir davor (vor der Fabrik) feststeckten und den Richter aufforderten, sie (die Fabrik) offen zu halten, erreichten wir nichts. Wenn wir die Politiker fragten, erreichten wir noch weniger. Unsere Jobs bekamen wir nur wieder, wenn wir besetzten".

Eine der Geschichten über Fabrikbesetzungen und Arbeiterkontrolle, die in dem Buch 'Sin Patron...' enthalten ist, handelt von der Sime-Grube, in der Provinz Entre Rios. Die Besitzer ruinierten die Grube. Doch die Arbeiter übernahmen sie und führten sie unter eigener Regie weiter. Bis zur Schließung der Grube hatten die Bosse ihre Arbeiter und Arbeiterinnen verbal und körperlich misshandelt. María del Huerto, 45, sagte im Dezember 2002: Die Bosse "schickten uns für 35 Tage in ungeplanten Urlaub". Dieser dauerte bis zum 20. Januar. Als die ArbeiterInnen zurückkehrten, war die Anlage verlassen. "Es war nur noch ein Anwesen - ohne Licht, ohne fließendes Wasser oder Telefonanschluss. Nichts. Es war desolat", sagte María. Nur noch ein paar Maschinen seien vorhanden gewesen.

María traf sich mit Kolleginnen und Kollegen und mit Mitgliedern von Movement of Recuperated Companies. Sie diskutierten, ob man das Anwesen übernehmen sollte und beschlossen, sich vor der Übernahme zu bewaffnen - falls sie auf Widerstand stoßen sollten. "Wir besorgten uns Feuerwaffen, und einige Nachbarn liehen uns Gewehre. Wir kündigten an, dass wir auf niemanden schießen wollten, aber wir würden unsere Arbeitsplätze verteidigen und die Bosse davon abhalten, etwas zu stehlen".

Es war in der heißesten Jahreszeit. Überall schwirrten die Moskitos. Niemand hatte Geld, also nutzten sie ihre Waffen zur Jagd. "Um etwas zu essen zu bekommen, jagten die Männer Apereà-Hasen. Diese sind braun und sehen aus wie große Mäuse. In der nahegelegenen Lagune fischten sie nach Caruchas. Don Joaquín besorgte uns Tarpon-Fische vom nahegelegenen Markt. Was war mit uns passiert? Wir hatten geglaubt, wir gehörten der Mittelschicht an, und jetzt bettelten und jagten wir, um durchzukommen", so María. An einem Punkt wurde die Verzweiflung so groß, dass die ArbeiterInnen ihre Möbel verkauften.

Nach und nach bildeten sie eine Kooperative. Ein Richter ordnete an, dass sie das Anwesen übernehmen konnten. Das war im April 2003. Heute arbeitet die Grube wieder in Vollbetrieb und wird von ihren Arbeitern verwaltet.

Zur selben Zeit wie die Sime-Grube wurde die Keramikfabrik Zanon besetzt und der Arbeiterkontrolle unterstellt. Reinaldo Giménez war ein langjähriger Zanon-Arbeiter. Er erzählt von der Zeit, als die Fabrik dichtmachte und der Boss sich weigerte, den Arbeitern ihr Geld zu geben. Der Boss "behandelte alle gleich, und die Arbeiter, die am längsten da waren, sagten: "Dieser Drecksack hätte mich bezahlen sollen. Ich habe ihm mein Leben gegeben. Aber er hat kein Gefühl, kein Mitleid, er macht keine Unterschiede".

Die Spannungen mit dem Boss explodierten. Es kam zum Streik. Vor der Zanon-Fabrik wurden Zelte aufgestellt. Sie marschierten. Sie stellten Streikposten auf. Sie organisierten Gemeindeküchen. Lokale Schulen, Nachbarn und andere Arbeiter halfen, so gut sie nur konnten. Selbst Strafgefangene unterstützten die Arbeiter, indem sie von ihrem Essen abgaben. Die Arbeiter wandten sich an die Gemeinde. Sie erläuterten den Menschen, die zufällig vorbeikamen, ihre prekäre Lage. Die Gemeinde sympathisierte mit den Zanon-Arbeitern, weil sie hart arbeitetende Menschen mit Familie waren. Schließlich war es der Rückhalt der Gemeinde, der den Zanon-Arbeiter half, ihre Fabrik in eine Kooperative umzuwandeln. Ramírez: "Wir haben immer gesagt: Es ist nicht unsere Fabrik. Wir nutzen sie, aber sie gehört der Gemeinde".

Dies ist eine der zentralen Kernaussagen des Buches: Die gescheiterten Fabriken und Geschäfte sollten dem Volk gehören - nicht den reichen Bossen, die ihre ArbeiterInnen misshandelten und dann das sinkende Schiff verließen. Auf jeder Seite stellt das Buch 'Sin Patron...' klassische Vorstellungen über Privateigentum und Arbeitsplatzhierarchien infrage. Die geschilderten Beispiele über Arbeiterselbstverwaltung trotzen der bankrotten Logik des Kapitalismus.

Zornige ArbeiterInnen - wo immer sie auch leben mögen - sollten 'Sin Patron...' lesen. Sie sollten lesen, wie sich die Argentinier neue Welten schufen, wenn die alten scheiterten. Die MitarbeiterInnen des Kollektivs Lavaca (die HerausgeberInnen des Buches) schreiben in ihrem Vorwort: "Die Grenze allen Vorhersagbarens liegt in der Frage: Wozu sind Menschen fähig? Nicht der Zufall macht die Zukunft unvorhersehbar sondern Courage".

Editorische Anmerkungen

Wir spiegelten den Artikel von ZNET


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